Nach der Sonne - Jonas Eika

Nach der Sonne (eBook)

Erzählungen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
160 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26870-8 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
15,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
'Wir sind genau jetzt gezwungen, unsere Einstellung zur Welt zu verändern.' (Jonas Eika) Mit seinem Debüt hat er eines jener Bücher geschrieben, die die Literatur an einen neuen Ort führen.
Ein IT-Berater stellt fest, dass die Bank, für die er arbeitet, mitten in Kopenhagen in einem Krater versunken ist. Ein Ehepaar lässt sich in der Wüste Nevadas nieder, wo die Menschen auf das Erscheinen von Außerirdischen warten. Eine Obdachlose findet in den grauen Trümmern Londons ein Zuhause und verliert es wieder. Und unter dem knallblauen Himmel Cancuns tragen scheinbar gefügige Beach Boys den reichen Urlaubern die Sonnenschirme hinterher. Fünf sinnliche, geheimnisvolle Erzählungen über dunkles Begehren und kapitalistische Ausbeutung, über Liebe, Hoffnung und Solidarität in einer unsicheren, technologisch flirrenden Welt, in der Körper, Himmel und Licht die einzigen Konstanten sind. Jonas Eika hat eines jener Bücher geschrieben, die die Literatur an einen neuen Ort führen.

Jonas Eika, geboren 1991, ist ein dänischer Autor. 2015 machte er seinen Abschluss an der Dänischen Akademie für Kreatives Schreiben (Forfatterskolen). Im Oktober 2019 erhielt er für seinen Erzählungsband Nach der Sonne den renommierten Literaturpreis des Nordischen Rates.

Alvin


Ich erreichte Kopenhagen verschwitzt und halbwegs neben mir stehend nach einem äußerst fiktiven Flug. Strenggenommen würde ich jede Flugreise fiktiv nennen, aber diesmal war ich obendrein kurz nach dem Start in einen fiebrigen Dämmerschlaf versunken, in dem ich eine Reihe von Flügen, die ich früher unternommen hatte, noch einmal durchlebte. Zunächst die Heimreise von Nepal mit meiner Exfrau, damals noch Freundin, nach unserem ersten gemeinsamen Urlaub, als wir in unseren Sitzen lümmelten und — wahrscheinlich aus Langeweile — pantomimisch verschiedene sexuelle Szenarien darstellten, die der andere erraten und auf ein Blatt Papier schreiben musste, welches wir anschließend auseinanderschnitten und zu immer neuen Szenarien zusammensetzten, die abermals gemimt werden mussten, und so ging das Spiel ewig weiter. Dann meine Abreise aus Kopenhagen sechs Jahre darauf, nachdem sie in derselben Zeit schwanger geworden war, in der sie mich mit einem Kollegen betrogen hatte, und ich aus lauter Sorge und Panik über meine Eifersucht — mit der zu leben mir ebenso unmöglich schien, wenn das Kind von mir wäre, wie, wenn nicht — meine Sachen packte, zum Flughafen fuhr und zum Mann hinter dem Schalter »Malaga« sagte. Aus irgendeinem Grund hatte ich Malaga gesagt. Außerdem durchlebte ich ein zweites Mal den Rückflug von einer Geschäftsreise weitere Jahre später, als ich weder arbeiten noch ein Wort über die Lippen hatte bringen können, weil ich völlig gelähmt davon gewesen war, was ich beim Start von meinem Fenster aus beobachtet hatte: An die Gates grenzte eine Besucherterrasse, wo Kinder jeden Alters mit ihren Eltern zusahen, wie die Flugzeuge abhoben. In der einen Ecke stand eine Frau mit dem Rücken zum Geländer, langes, dunkles Haar in der Frostsonne, und blickte zu dem Mann, der quer über die Terrasse auf sie zurannte, und während wir an ihnen vorbeiflogen, sackte er plötzlich wie von einer Kugel getroffen zu Boden. Ich hatte den Schuss nicht hören können, falls überhaupt einer abgefeuert worden war, und die Maschine stieg weiter in die Wolken auf, mit mir, der die restliche Flugzeit über erstarrt auf seinem Platz saß und zweifelte, was er überhaupt gesehen hatte. Das Unbehagliche, Fiebrige an jenem Dämmerzustand, in dem ich all diese Reisen noch einmal erlebte, bestand darin, dass er wie ein Tiefdruckgebiet direkt unter der Oberfläche des eigentlichen Schlafs dahinschwebte, in einer Zone, in der ich auch die eigentliche Flugreise, auf der ich mich gerade befand, flüchtig wahrnahm, sie lag irgendwo darunter oder dahinter verborgen, die Kabine, der Serviertrolley, meine Mitreisenden, die Wolken vor den Fenstern; all das schwelte unter den vorherigen, von mir erinnerten und auch deshalb äußerst fiktiven Flugreisen. Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter, schlug die Augen auf und erblickte einen Stewart mit nur einem Gesicht. Alle anderen Passagiere hatten das Flugzeug verlassen, die Kabine war still und leer wie in einem Traum. Während ich hinausging, betrachtete ich die Fenster und den Fußboden, die Gepäckfächer und die Notausgangsschilder, ich berührte die dicken Nähte im Leder der Sitze. An der Passkontrolle gelangte ich zügig durch den Schalter für EU-Bürger. Ich nahm die Metro zum Kongens Nytorv und eilte von dort zum Hauptsitz der Bank, um pünktlich zu meiner für denselben Nachmittag angesetzten ersten Besprechung mit der Systemadministratorin zu kommen. Schon als ich um die Ecke bog, nahm ich einen modrigen, verbrannten Geruch wahr, eine Mischung aus Pflanzen und Feuer, und nachdem ich das rotweiße Absperrband entdeckt hatte, beschleunigte ich meine Schritte. Das Gebäude war eingestürzt, lag überall verstreut in meterhohen Brocken aus Marmor, Stahl, hellem Holz, Büromöbeln und anderen Materialien, die ich nicht zuordnen konnte. Unter den äußeren Trümmern erahnte ich den Rand eines Kraters, an dem die Erde steil in sich einsank, so wie die Lippen alter Menschen mitunter im Gesicht einsinken. Zwischen den Dielenbrettern ragten drei oder vier Server hervor, beinahe lustig, dachte ich — hatte man doch gerade zum Schutz vor den steigenden Wasserpegeln die Böden angehoben. Der Mann vom Wachdienst erzählte mir, die Ursache für das Unglück sei unbekannt, aufgrund eines Stromausfalls und einer Erschütterung, die fast die ganze Straße geweckt hätte, vermute man jedoch, dass irgendeine Explosion in der Versorgungsleitung jenen Krater gerissen habe, in dem das Gebäude nun versackt war. Es sei nachts geschehen, keine Opfer. Während er sprach, flackerte sein Blick, als würde er irgendetwas in meinem Rücken beobachten. Hinter seinem Kopf hing ein Schwarm Insekten und färbte den Himmel über den Trümmern schwarz. Ich versuchte meine Kontaktperson in der Bank zu erreichen, wurde aber sofort mit der Mailbox verbunden, worauf ich das erstbeste Café betrat und mich an den länglichen Tisch im Fenster setzte. Als ich gerade mein Chili con Carne aß, ging die Tür auf, und meine linke Gesichtshälfte wurde von einem kalten Windhauch gestreift. Ein Mensch kam zu mir und setzte sich neben mich, ich blickte von meinem Chili auf und zu seinem Spiegelbild in der Scheibe: ein junger Mann Mitte zwanzig, kurzes, dunkles Haar, Seitenscheitel, Geheimratsecken, eine schlichte, randlose runde Brille. Ich konnte durch ihn hindurch auf die Straße sehen, seine Haut war auf eine sehr luftige Weise blass. »Hey du!«, grüßte er und bestellte das Gleiche wie ich. Mein Kaffeebecher war so groß, dass ich ihn mit beiden Händen greifen musste. Ein Dunst von Bistro-Burgern erfüllte den Raum, als die Küchentür aufging, und wurde in meinem Nacken zu Schweiß. »Wo bist du her?«, fragte der Jüngling plötzlich. »Äh, von hier«, antwortete ich und blickte an mir selbst herab, »aber ich habe ein paar Jahre im Ausland gelebt … Woran erkennt man das?« »Deine Klamotten, dein Koffer, deine Brille«, sagte er. »Alles eigentlich, deine gesamte Erscheinung. Du bist nicht von hier.« »Ich glaube, ich habe dich schon mal gesehen«, erwiderte ich und bereute es sofort, versuchte zu erklären, dass ich nicht ihn gemeint hatte, sondern sein Spiegelbild in der Scheibe, die Art und Weise, wie ich ihn sah und durch ihn hindurchsah. Er roch nach Eukalyptus und irgendeiner anderen Pflanze. Eine Gruppe von Gästen verließ das Café, dann war es leer, so leer wie das Flugzeug, als mich der Steward geweckt hatte, nur dass hier inzwischen auch der Kellner verschwunden war und in der Küche ebenfalls Stille herrschte. »Ich geh eine rauchen«, sagte der Jüngling und stand auf. »Darf ich eine schnorren?«, fragte ich, obwohl ich nie geraucht hatte. Er nahm seine Jacke vom Haken und sagte »In Ordnung«, und mir wurde klar, dass es ihn nur hinauszog, weil es hier so verdammt still war und er sicher lieber allein gewesen wäre. »Ein bisschen Rauch tut gut bei der Kälte«, sagte ich. Er nickte und sah mich an, sein Gesicht leuchtete bläulich weiß in der Frostsonne. Ich betrachtete unsere Beine in der Scheibe und zog mein Handy hervor, um nach einem Hotel zu suchen. Eigentlich hätte ich in der Gästewohnung der Bank unterkommen sollen, das heißt in einem der Räume, die jetzt zwischen anderen Räumen versprengt lagen. »Wo wirst du heute Nacht schlafen?«, fragte er. »Ähm …« Ich wollte schon »bei einem Freund« sagen, aber das konnte peinlich werden, wenn er mich nach der Adresse fragte, und Hotels wollte mein Kopf auch gerade nicht hergeben. »Weiß noch nicht.« »Du kannst bei mir übernachten, es ist alles ausgebucht wegen dieses Gipfeltreffens.« Neutraler Blick, seine blanken Augen in der kalten Luft erinnerten an Schraubenmuttern. Ich sah auf mein Telefon. »Du brauchst nicht nachgucken, es stimmt.« Er wohnte in einem Dachzimmer in einer Seitenstraße der Bredgade. Ein Raum ohne Stuck und Leisten, nur scharfe Übergänge zwischen den Flächen, genau wie in seinem Gesicht, wenn die Beleuchtung gedämpft war. Das Licht strahlte aus einer Stehlampe, die nach oben zeigte, sodass die Decke von einer Sonnenscheibe ausgefüllt war; mit zwei Augen von den Glühdrähten in der Mitte. Es gab eine Duschkabine, ein Waschbecken aus Stahl, einen Kühlschrank und zwei mobile Kochplatten, ein Doppelbett, zwei Stühle und eine Schreibtischplatte auf Böcken. Das schmale Fenster war ringsherum mit einer Masse abgedichtet, die einen helleren Ton hatte als das gelbliche Weiß der Wände. Beide Enden des Zimmers waren frei von Möbeln, eine Wand jedoch von einem farbenprächtigen Flickenteppich aus Verpackungen bedeckt: Süßigkeiten- und Chipstüten, Frühstücksflockenkartons, Papier und Plastik von Lollis, Kaugummis, Snackwürstchen und Erfrischungsgetränken, allesamt Marken, die ich noch nicht gesehen hatte, als stammten sie aus einer Parallelwelt, in der jedes Produkt ein bisschen anders war als seine Entsprechung bei uns, sodass man es beispielsweise als...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2020
Übersetzer Ursel Allenstein
Sprache deutsch
Original-Titel Efter Solen
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alvin • Bad Mexican Dog • Basilisk • Beach Boys • Begehren • Börsenspekulation • Dänische Literatur • Dystopie • engagierte Literatur • Experimentelle Literatur • Forfatterskolen • Globalisierung • Ich Rory und Aurora • Kapitalismuskritik • Literaturpreis des Nordischen Rates • Nevada • Nordic Council Literary Prize • #ohnefolie • ohnefolie • Poetischer Realismus • Politische Literatur • politischer Aktivismus • Rachel • Skandinavische Literatur • UFOs • Verschwörung • Wüste
ISBN-10 3-446-26870-7 / 3446268707
ISBN-13 978-3-446-26870-8 / 9783446268708
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 3,7 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99