Erzählungen (eBook)

(Autor)

Peter von Matt (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
272 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76084-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Erzählungen -  Max Frisch
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»Ich probiere Geschichten an wie Kleider!« heißt es einmal im Roman Mein Name sei Gantenbein, und in der Tat, in seinen beiden Tagebüchern 1946-1949 und 1966-1971 sowie in den Romanen wie etwa Stiller oder Mein Name sei Gantenbein verstecken sich in sich abgeschlossene Erzählungen und Geschichten, die von der großen erzählerischen Brillanz Max Frischs zeugen. Kein anderer zeitgenössischer Schriftsteller stellt derart ehrlich wie hintergründig die Frage nach der Identität des Menschen des 20. Jahrhunderts.

»Wovon erzählt Frisch? Von der Liebe, also von der Vergänglichkeit; vom Tod, also von der Angst vor dem Tod. Da es die Liebe immer noch gibt und da man den Tod noch immer nicht abgeschafft hat, bleibt nichts anderes übrig, als zu diesen Fragen zurückzukehren.«
Marcel Reich-Ranicki



Max Frisch, geboren am 15. Mai 1911 in Z&uuml;rich, arbeitete zun&auml;chst als Journalist, sp&auml;ter als Architekt, bis ihm mit seinem Roman <em>Stiller</em> (1954) der Durchbruch als Schriftsteller gelang. Es folgten die Romane <em>Homo faber</em> (1957) und <em>Mein Name sei Gantenbein</em> (1964) sowie Erz&auml;hlungen, Tageb&uuml;cher, Theaterst&uuml;cke, H&ouml;rspiele und Essays. Frisch starb am 4. April 1991 in Z&uuml;rich.

Bin oder
Die Reise nach Peking


Es ist im Ernst nicht anzunehmen, daß es Leute gibt, die Bin, unseren Freund, nicht kennen. Es wäre denn ein albernes Mißverständnis; wir reden aneinander vorbei, indem sie ihm einfach einen anderen Namen geben … Ein Marschall, der zu den namhaften dieses gräßlichen Krieges gehört, hatte einmal sein Quartier in einem alten Bauernhaus; er saß am Dämmerrand eines Lampenschirmes, allein, er arbeitete am Krieg, der für den kommenden Tag einen Überfall verlangte. Es mochte gegen Mitternacht sein, als er den Überfall im reinen hatte; er löschte die Lampe, ließ die fremde Nacht durch das offene Fenster und sah, halb schon zur Türe unterwegs, wo ihn seine versammelten Offiziere erwarteten – sah, daß draußen einer am Fenstersims lehnte. Der Marschall blieb stehen, seine Befehle in der Hand, seine Karten, seinen Überfall. Offenbar stand der andere, der Fremde, schon lange da, eine Pfeife im Mund, auf die Ellbogen seiner vertragenen Joppe gestützt. Er stand wie ein Nachbar, der gelegentlich, wenn es Abend wird, an unser Fenster tritt und eine Weile plaudert, ein Einheimischer. Allein es gab in dieser Gegend und zu der Zeit, als dies geschah, durchaus keine Einheimischen mehr, die so umhergehen konnten; es war ja Krieg. Es gab die Soldaten, die eigenen, die feindlichen, und was allenfalls sonst noch lebte, das arbeitete in Lagern. Einen Augenblick – der namhafte Marschall ertappte sich über einem Augenblick persönlichen Schreckens – hatte er an einen Attentäter gedacht. Wir haben vergessen, es gab auch noch die Partisanen. Auf jeden Fall hatte die Wache ihn nicht gestellt. Indessen erwies sich der Unvermutete in keiner Weise als ein Täter, er kratzte nur das Moos vom Fenstersims, indem er seinen Fingern zuschaute, tat, als gäbe es nichts Dringenderes in dieser Stunde. Nach einer Weile, als sich das Auge an das Dunkel gewöhnt hatte und man sich besser erkannte, redete er sogar mit dem Marschall. Oh, nichts Unerhörtes! Er redete in der Muttersprache unseres immerhin betroffenen Marschalls; es hätte auch jede andere Muttersprache sein können. Nachdem er die erloschene Pfeife an seinen Absatz geklopft, blickte er abermals in die offene Nacht hinaus, und der Mond saß ihm wie eine gelbe Katze auf der Schulter; er blickte einfach hinaus: die Grillen, die reifenden Felder, die Liebenden, die Vögel im finstern Gezweig, die schlafenden Rehe … denn der Marschall war auch ein leidenschaftlicher Jäger–Offenbar aus bloßer Wut auf die Wache, die versagt hatte, schellte er plötzlich. Licht, Lärm, Leute! Natürlich umsonst. Sogar ein Schuß fiel einsam in die offene Nacht unter Sternen. Dann wieder war alles beim alten: die Stille, die Grillen, die Sterne, die Schritte der Wache. Aber gefunden hatten sie nichts, auch als der Morgen graute, nicht einen toten Partisanen, nicht einmal Spuren von Blut. (Der Marschall hingegen, der zu den namhaften dieses gräßlichen Krieges gehörte, ist seither schon lange gefallen.)

Soviel über Bin.

Es war ein Abend im März. Wir hatten in der ledernen Nische eines Kaffeehauses gesessen wie all die Abende, wenn man vom Geschäft kommt, einen Kirsch trinkt, eine Zeitung liest. Auf einmal, nach Jahren des Wartens, sieht man sich von der Frage betroffen, was wir an diesem Ort eigentlich erwarten. Mindestens die Hälfte des Lebens ist nun vorüber, und insgeheim fangen wir an, uns vor dem Jüngling zu schämen, dessen Erwartungen sich nicht erfüllen. Das ist natürlich kein Zustand. Ich winkte dem Kellner, zahlte und ging. Den Mantel, den er mir halten wollte, nahm ich auf den Arm, ebenso die Rolle –

Draußen war es ein unsäglicher Abend.

Ich ging. Ich ging in der Richtung einer Sehnsucht, die weiter nicht nennenswert ist, da sie doch, wir wissen es und lächeln, alljährlich wiederkommt, eine Sache der Jahreszeit, ein märzliches Heimweh nach neuen Menschen, denen man selber noch einmal neu wäre, so, daß es sich auf eine wohlige Weise lohnte zu reden, zu denken über viele Dinge, ja, sich zu begeistern, Heimweh nach ersten langen Gesprächen mit einer fremden Frau. Oh, so hinauszuwandern in eine Nacht, um keine Grenzen bekümmert! Wir werden schon keine, die in uns liegt, je überspringen …

Natürlich traf ich niemanden. Ich schlenderte. Oder es konnte auch sein, daß ich stehenblieb, etwa vor einem Schaufenster. Frauen anzusprechen ist eine besondere Gabe; man hat sie oder hat sie nicht. Schön fand ich es dennoch, draußen der abendliche Perlmuttersee, das Spröde der Luft, das Laue eines solchen Abends im März, das sonderbar Offene und Blaue, das Laute eines klimpernden Klaviers, das sich unter der gläsernen Glocke einer himmlischen Stille verfing, lächerlich, ergreifend lächerlich oder feierlich, zum Weinen feierlich und geschmacklos, schlagerhaft, selig. Dennoch schlenderte ich weiter, traurig an Gärten vorbei, die ich nicht haben wollte. Eine Köchin führte den Hund ihrer Herrschaft spazieren, er schnupperte an allen Ecken, und da und dort lag noch ein letzter Schattenschnee, ein Häuflein von verstaubtem Winter. Die Vögel piepsten aus der Dämmerung. Und die Köchin entschwand in ein Gartentor.

Später stapfte ich durch Wald.

Später war auch der Mond aufgegangen, wie ein Gong aus Messing hing er über dem Schilf eines unerwarteten und nie gekannten Riedes, über dem Quaken der Frösche, und ich war, so wollte mir scheinen, durchaus nicht lange gegangen, als ich unversehens vor der chinesischen Mauer stand.

»Bin«, sagte ich, »das ist doch sonderbar,– das muß eine Täuschung sein –«

Bin lächelte.

Der Gedanke, daß ich zum Nachtessen erwartet würde, war das erste, was der unglaubliche Anblick mir eingab, und auch für lange das einzige, was außer Zweifel stand. Bin lächelte. Er rauchte aus seiner Pfeife wie eh, seine Ellbogen auf die chinesische Mauer gestützt, die anzusehen war, wie man sie von Bildern eben kennt, eine steinerne Schlange, die sich weit in ein weites, ein wüstes und hügelwogendes Land zog, und manchmal, während wir redeten, kratzte er mit dem Daumen das Moos von der Mauer, Moos, Sand, Gebröckel von verwittertem Stein, Staub der Jahrtausende. Er weiß es gar nicht, daß er das tut, glaube ich. Dann wieder bläst er es weg, fährt mit dem Ärmel darüber – Ich hatte Bin nach dem weiteren Weg gefragt.

»Es kommt darauf an«, sagte er, »wohin du willst.«

Nicht einmal das wußte ich …

Es war eine Art von Fußweg, der jenseits hinunterführte, immer wieder einmal im Gestrüpp versickerte; man mußte ordentlich aufpassen, daß man nicht über Wurzeln stolperte, das Mondlicht rieselte in einer gläsernen Quelle nebenher … Einmal fragte Bin, wie es denn ginge? was wir so trieben? Ich hatte die Rolle unter dem Arm, Zeichen des Alltags; ich zuckte die Achseln und sagte:

»Nicht eben viel.«

Man arbeitet, man ißt, man verdient.

»Drüben ist immer noch Krieg«, sagte ich später, »niemand weiß, wann er aufhören wird, und wie?« Wir redeten lang über den Krieg –

So unerhört anders und fremd, wie man vermuten möchte, war die Landschaft auch wieder nicht. In den einsamen Bergen des Karstes hatten wir ähnliches schon einmal erlebt. Wir gingen am Rand einer steilen Schlucht, unter uns rauschten die Wasser einer Tiefe, die man nicht sah, und wir sahen auch nicht, ob wir eigentlich weiterkamen auf diesem steinernen Gestirn, das wir kaum noch für unsere liebe Erde halten konnten, so groß und ohne Zeit, ohne Pflanzen, ohne Dorf, so einsam und grausam und ohne Verhältnis zum Menschen lag es da, eine Wüste aus Kalk, ein Meer von versteinerten Wogen. Im Schatten der Wolken, die über uns zogen, silbern und schäumig wie ein Gestade der spielenden Götter, lag alles noch härter und toter, ein Gebirge von Schlacken, wir gingen und gingen – plötzlich, nie werde ich es vergessen, standen wir am Ende der Schlucht: vor uns ein fremdes und liebliches Tal, ein See voll blühender Seerosen, nichts anderes, ein Wunder von blühendem See …

Das gibt es.

In den einsamen Bergen des Karstes hatten wir all dies schon einmal erlebt … Bin konnte es hinter seiner schelmischen Pfeife nicht mehr verbergen, daß ihn das Erstaunen, das mich auch diesmal wieder stehen ließ, ein wenig freute..

»Ja«, sagte er, »das ist es nun.«

»Peking?«

»Das ist es nun …«

Wir blickten hinab in den Frühling, wir blickten in eine Weite voll sanfter und gelassener Hügel, voll lieblicher Bäume, voll Straßen und Sonne, Bäche glitzerten in silbernen Schleifen, fernhin die Städte der Menschen, Dächer, Brükken, Buchten voll kräuselnder Bläue, Türme, Vögel darüber, die kreisen –

Nach einer Weile fragte Bin:

»Gehen wir?«

Noch einmal dachte ich an das Abendessen.

»Sobald wir in Peking sind«, sagte ich später im Gehen, »werde ich Rapunzel,...

Erscheint lt. Verlag 18.5.2020
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Angst • Anthologie • Erzählungen • Klassiker • Kurzgeschichten • Liebe • Max Frisch • Sammlung • Schriftsteller • Schweiz • ST 3658 • ST3658 • suhrkamp taschenbuch 3658 • Tod • Vergänglichkeit
ISBN-10 3-518-76084-X / 351876084X
ISBN-13 978-3-518-76084-0 / 9783518760840
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