Was Nina wusste (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
352 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26849-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Was Nina wusste - David Grossman
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Es gibt Entscheidungen, die ein Leben zerreißen - Wer könnte eindringlicher und zarter davon erzählen als David Grossman
Drei Frauen - Vera, ihre Tochter Nina und ihre Enkelin Gili - kämpfen mit einem alten Familiengeheimnis: An Veras 90. Geburtstag beschließt Gili, einen Film über ihre Großmutter zu drehen und mit ihr und Nina nach Kroatien, auf die frühere Gefängnisinsel Goli Otok zu reisen. Dort soll Vera ihre Lebensgeschichte endlich einmal vollständig erzählen. Was genau geschah damals, als sie von der jugoslawischen Geheimpolizei unter Tito verhaftet wurde? Warum war sie bereit, ihre sechseinhalbjährige Tochter wegzugeben und ins Lager zu gehen, anstatt sich durch ein Geständnis freizukaufen? 'Was Nina wusste' beruht auf einer realen Geschichte. David Grossmans Meisterschaft macht daraus einen fesselnden Roman.

David Grossman wurde 1954 in Jerusalem geboren und gehört zu den bedeutendsten Schriftstellern der israelischen Gegenwartsliteratur. 2008 erhielt er den Geschwister-Scholl-Preis, 2010 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2017 den internationalen Man-Booker-Preis für seinen Roman Kommt ein Pferd in die Bar. 2021 wurde ihm das Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Bei Hanser erschienen zuletzt Diesen Krieg kann keiner gewinnen (2003), Das Gedächtnis der Haut (2004), Die Kraft zur Korrektur (2008), Eine Frau flieht vor einer Nachricht (Roman, 2009), Die Umarmung (2012), Aus der Zeit fallen (2013), Kommt ein Pferd in die Bar (Roman, 2016), Die Sonnenprinzessin (2016), Eine Taube erschießen (Reden und Essays, 2018) und Was Nina wusste (2020).

Rafael war fünfzehn, als seine Mutter starb und ihn von ihrem Leiden erlöste. Es regnete. Auf dem kleinen Friedhof drängten sich die Kibbuzmitglieder unter Schirmen. Tuvia, Rafaels Vater, weinte hemmungslos. Jahrelang hatte er seine Frau hingebungsvoll gepflegt. Jetzt wirkte er verloren und verwaist. Rafael, in kurzen Hosen, stand abseits, Kopf und Augen von einer Kapuze verdeckt, damit man nicht sah, dass er nicht weinte. Er dachte: Jetzt, wo sie tot ist, sieht sie alles, was ich über sie gedacht habe.

Das war im Winter 1962. Ein Jahr später begegnete sein Vater Vera Novak, die aus Jugoslawien ins Land gekommen war, und sie zogen zusammen. Vera war mit ihrer einzigen Tochter Nina nach Israel eingewandert; die war siebzehn, hochgewachsen, hatte helles Haar, und ihr langes, bleiches Gesicht war sehr schön, aber beinahe ausdruckslos.

Rafaels Klassenkameraden nannten sie »Sphinx«. Sie liefen heimlich hinter ihr her, machten ihren Gang nach, wie sie die Arme um sich schlang, und imitierten ihren hohlen Blick. Einmal erwischte sie zwei Jungs dabei und schlug sie kurzerhand zusammen. Solche Prügel hatte man im Kibbuz bis dahin noch nicht gesehen. Kaum zu glauben, welche Kraft und Wildheit in diesen dünnen Armen und Beinen steckte. Erste Gerüchte machten die Runde. Man erzählte, als ihre Mutter politische Gefangene im Gulag und Nina noch ein kleines Mädchen war, habe sie auf der Straße gelebt. Man sagte »auf der Straße« und rollte dabei vielsagend die Augen. Man erzählte auch, sie habe sich in Belgrad einer Bande Straßenkinder angeschlossen, die andere Kinder entführten und Lösegeld erpressten. Leute reden.

Doch weder die Geschichte von der Schlägerei noch andere Ereignisse und Gerüchte drangen durch den Nebel, in dem Rafael nach dem Tod seiner Mutter lebte. Monatelang befand er sich in einem Zustand der Selbstbetäubung. Zweimal täglich, morgens und abends, schluckte er eine starke Schlaftablette aus dem Arzneischrank seiner Mutter. Er nahm Nina noch nicht mal wahr, wenn sie ihm im Kibbuz hier und da über den Weg lief.

Eines Abends, ein knappes Jahr nach dem Tod seiner Mutter, als er die Abkürzung durch die Avocadoplantage zur Turnhalle nahm, kam sie ihm entgegen. Den Kopf gesenkt, die Arme um sich geschlungen, als sei alles um sie herum kalt. Rafael blieb stehen, etwas in ihm spannte sich plötzlich, er wusste nicht warum. Nina, ganz in sich versunken, bemerkte ihn nicht. Er sah ihre Bewegungen. Der erste Eindruck war ihre stille, sparsame Art sich zu bewegen. Die hohe Stirn, rein, und ein schlichtes blaues Kleid aus dünnem Stoff, das auf halber Höhe um ihre Schenkel flatterte.

Ich seh noch sein Gesicht, als er das erzählte —

Erst als sie schon ziemlich nah war, bemerkte Rafael, dass sie weinte. Ein stilles, ersticktes Weinen, und dann sah auch sie ihn, blieb stehen und machte einen Katzenbuckel. Für einige Sekunden verfingen sich ihre Blicke ineinander, und man kann sagen: leider unentwirrbar, für immer. »Der Himmel, die Erde, die Bäume«, hatte mir Rafael erzählt, »keine Ahnung … es war, als ob die Natur die Besinnung verlor.«

Nina kam als erste wieder zu sich. Sie schnaubte wütend und ging sofort auf Abstand. Er konnte grade noch einen Blick auf ihr Gesicht werfen, von dem sich im nächsten Moment jeder Ausdruck abschälte, und etwas in ihm brandete zu ihr hin. Er streckte die Hand nach ihr —

Ich sehe ihn förmlich vor mir, wie er da steht, mit der Hand.

Und so ist er geblieben. Die Hand ausgestreckt, fünfundvierzig Jahre schon.

Aber damals, in der Plantage, sprang er auf, und ohne nachzudenken und noch bevor er zögern oder sich in sich selbst verheddern konnte, rannte er hinter ihr her, um ihr zu sagen, was er in diesem Augenblick verstanden hatte. Alles in ihm war zum Leben erwacht. Ich hatte ihn darum gebeten, mir das zu erklären. Er erzählte, er sei ganz durcheinandergekommen, habe nur etwas davon gemurmelt, wie viel in den Jahren der Krankheit seiner Mutter in ihm eingeschlafen war, und mehr noch nach ihrem Tod. Aber in diesem Moment sei alles plötzlich ganz akut gewesen, schicksalentscheidend, und er habe nicht daran gezweifelt, dass sie ihn sofort erhören würde.

Nina hatte seine Schritte gehört, wie er ihr nachrannte, war stehen geblieben, hatte sich umgedreht und ihn langsam gemustert. »Was willst du?«, bellte sie ihm ins Gesicht. Er schreckte zurück, erbebte angesichts ihrer Schönheit und vielleicht auch angesichts ihrer Grobheit, und, ja, ich fürchte, gerade angesichts dieser Mischung von Schönheit und Grobheit. Das hat er bis heute, diese Schwäche für Frauen mit ein bisschen, ein klein bisschen männlicher Aggression und sogar Grobheit, quasi als Gewürz.

Nina hatte die Hände in die Hüften gestemmt, das harte Mädchen von der Straße kam durch, das wilde Tier. Ihre Nasenlöcher weiteten sich, sie roch ihn, Rafael sah das Pochen einer feinen bläulichen Ader an ihrem Hals, und plötzlich taten ihm die Lippen weh, so hat er’s mir erzählt, sie brannten richtig vor Durst.

Okay, hab’s kapiert, dachte ich, die Details kannste mir ersparen.

Auf Ninas Wange glitzerten noch Tränen, aber ihre Augen waren kalt gewesen, fast wie die einer Schlange. »Geh nach Hause, Jüngelchen«, hatte sie gesagt, doch er schüttelte den Kopf, nein, nein, und sie näherte ihre Stirn langsam seinem Kopf, schob sie etwas vor, etwas zurück, als suche sie einen ganz bestimmten Punkt, und er schloss die Augen, und sie stieß ihn mit der Stirn, und er flog hintenüber in die Kuhle eines Avocadobaums.

»Avocado, Sorte Ettinger«, präzisierte er, als er das erzählte, damit ich ja nicht vergaß, dass jedes, aber auch jedes Detail in dieser Szene wichtig war, denn so erschafft man Mythen.

Verstört hockte er in der Kuhle, betastete die Beule, die sich auf seiner Stirn bildete, und stand auf. Ihm schwindelte. Seit seine Mutter gestorben war, hatte Rafael keinen Menschen mehr berührt, und kein Mensch hatte ihn berührt, außer bei Prügeleien. Aber das hier war etwas anderes, das spürte er, sie war gekommen, um ihm endlich den Schädel zu öffnen und ihn aus dieser Folter zu befreien. Und in der Blindheit seines Schmerzes schrie er ihr entgegen, was er in dem Moment, als er sie sah, gespürt hatte. Doch er erschrak, als die Worte leer und grob aus ihm herauskamen. »Wörter, wie Jungs sie verwenden«, hat er mir erzählt, »›lass dich halt ficken‹, etwas in der Art«, so ganz anders als der reine und klare Gedanke, den er gehabt hatte, »aber vielleicht zweieinhalb Sekunden hab ich auf ihrem Gesicht gesehen, dass sie mich trotz dieser Grobheit … dass sie mich trotzdem verstanden hat.«

Vielleicht ist es ja wirklich so gewesen. Was weiß ich. Warum soll ich ihr das nicht zugestehen, warum nicht glauben, dass ein junges Mädchen, in Jugoslawien geboren und, wie sich später herausstellte, tatsächlich einige Jahre lang ausgesetzt und sich selbst überlassen, ohne Vater und Mutter, dass so ein Mädchen trotz seiner Startbedingungen — und vielleicht gerade deshalb — in einem Augenblick der Gnade in einen Knaben aus dem Kibbuz hineinschauen konnte, einen in sich gekehrten Knaben, so stell ich ihn mir vor mit seinen fünfzehn Jahren, einsam, voller Geheimnisse, voller verwickelter Berechnungen und großer Gesten, von denen niemand auf der Welt etwas wusste. Ein trauriger, düsterer Knabe, aber schön, zum Heulen schön.

Das war Rafael, mein Vater.

Es gibt einen bekannten Film, ich erinnere mich grad nicht, wie er heißt, da kehrt der Held in die Vergangenheit zurück, um dort etwas zu korrigieren, um einen Weltkrieg zu verhindern oder so. Was gäbe ich darum, in die Vergangenheit zurückzukehren, nur um zu verhindern, dass diese beiden sich dort begegnen.

In den Tagen und Nächten danach hatte es ihn gequält, dass er diesen wunderbaren Moment hatte vorbeigehen lassen. Er hörte auf, die Schlaftabletten seiner Mutter zu schlucken, um die Liebe ohne Betäubung zu erleben. Er suchte Nina im ganzen Kibbuz und fand sie nicht. In diesen Tagen sprach er mit kaum einem Menschen, deshalb wusste er nicht, dass Nina aus dem Viertel der Alleinstehenden, in dem sie mit ihrer Mutter gewohnt hatte, ausgezogen war und eigenmächtig ein Zimmerchen in einer runtergekommenen alten Baracke aus der Zeit der Gründungsväter besetzt hatte. Die bestand aus einer Reihe winziger Zimmer und befand sich hinter den Plantagen, in einer Gegend, die der Kibbuz mit dem ihm eigenen Feingefühl die »Kolonie der Aussätzigen« nannte. Dort lebte eine kleine Gruppe von Männern und Frauen, in der Mehrzahl Volontäre aus dem Ausland; sie waren hier gestrandet, fanden ihren Platz nicht und trugen nichts zur Gemeinschaft bei, und der Kibbuz wusste nicht, was er mit ihnen anfangen sollte.

...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2020
Übersetzer Anne Birkenhauer
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel ITI HA-CHAIJM MESSACHEK HARBEJ
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Dokumentarfilm • Enkelin • Film • Goli otok • Großmutter • Israel • Kroatien • Liebe • Mutter • neunzigster geburtstag • #ohnefolie • ohnefolie • Reise • Tochter • Treue • Verrat • Versöhnung
ISBN-10 3-446-26849-9 / 3446268499
ISBN-13 978-3-446-26849-4 / 9783446268494
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