Elbwärts (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
208 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26852-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Elbwärts - Thilo Krause
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Wie begegnet man seiner fremd gewordenen Herkunft? - Thilo Krauses eindringlicher Roman über unser Land und unsere Zeit
Ein junges Paar kehrt nach Jahren zurück ins Felsland der Sächsischen Schweiz. Der Wunsch, sich an den Kindheitsorten ein neues Leben aufzubauen, mündet in die Konfrontation mit der Herkunft, aber auch mit einer neuen Fremdheit. Der Erzähler erinnert sich: an den Schulfreund, der damals beim gemeinsamen Klettern sein Bein verlor. An den öffentlichen Tadel in der Schule beim sozialistischen Fahnenappell. Thilo Krauses erster Roman erzählt vom Versuch der Heimkehr in ein fremdgewordenes Land. Es gibt nicht nur Apfelbäume und Elbwiesen, es gibt auch das Sommercamp der Neonazis, und am Misstrauen des Dorfes droht auch das Paar zu scheitern. Ein intensiver Roman über unser Land und unsere Zeit.

Thilo Krause, geboren 1977 in Dresden, lebt und arbeitet in Zürich. Seit 2005 veröffentlicht er literarische Texte in Zeitschriften (u.a. Akzente, Sinn und Form), Zeitungen (u.a. Die Zeit, Zürcher Tagesanzeiger) und Anthologien. Für seine Gedichte wurde Thilo Krause 2012 mit dem Schweizer Literaturpreis und 2016 mit dem Clemens-Brentano-Preis der Stadt Heidelberg sowie dem ZKB Schillerpreis ausgezeichnet. Bei Hanser erschienen 2018 sein Gedichtband Was wir reden, wenn es gewittert, für den er den Peter Huchel-Preis erhielt, 2020 sein Roman Elbwärts, der mit dem Robert Walser Preis ausgezeichnet wurde.

I


Das ist mein Fels. Ein windiges Riff, ein paar knotige Kiefern. Abends komme ich hierher, um unser Haus von oben zu sehen. Ich sitze vorn am Abgrund. Hinter meinen Zehen schwanken die Baumkronen, dass ich schwindlig den Blick heben muss. Straße, Felder, Dorf. Und kommt einer heim mit dem Auto, biegt ein zwischen die Häuser, flirrt Staub über den Äckern. Unser Haus liegt in der Sonne, als sei es längst fertig. Ich sehe den Putz nicht bröckeln an der westlichen Wand. Ich sehe den verkrauteten Garten nicht, nicht die Obstbäume, in denen der Mehltau wütet. Es ist Sommer. Der Sommer, den ich immer wollte. Mit der Kleinen und Christina.

*

Als wir zum ersten Mal zusammen ins Dorf kamen, glühten die Vogelbeeren über dem Asphalt. Wir hatten die Fenster offen und drifteten durchs Gebirge, auf den staubigen Straßen, den Alleen über Land. Die Kleine war klein. Sie schlief in ihrem Sitzchen. Ihre Füße zuckten manchmal im Traum. Wenn wir sie ins Tragetuch wickelten, wachte sie kaum auf. Sie hob den Kopf und sank mir wieder an die Schulter. Ein Makler führte uns von Haus zu Haus. Ich versuchte, zu riechen, zu hören und zu sehen. Die Kleine schlief an meinem Bauch. Ich fühlte mich wie gepanzert mit ihrer Wärme, unangreifbar, unverletzlich. In einem Haus wucherte der Schimmel. Wir gingen wie gegen einen Widerstand. Das nächste Haus roch nach altem Fett und Streit. In einem anderen war die Luft wie Wasser. Die ganze Zeit versuchte ich mich zu erinnern, ob ich je mit Vito hier gewesen war. Manchmal kam mir eine Ahnung, aber für uns Kinder war das Nachbardorf eine andere Welt. Kaum jemand schaute nach uns. Auch sonst begegnete uns niemand, den ich gekannt hätte. Der Makler war ein blasser Kerl im Anzug. Ein Büschel Barthaare hatte er bei der Rasur vergessen. Die Kleine drehte nur manchmal den Kopf von einer Seite zur anderen. Sie war unglaublich warm, mit Leben voll. Für sie durchquerten wir einen Vorgarten nach dem anderen, gingen durch muffige Räume, stiegen in lichtlose Keller, bis wir jenes Haus mit den Obstbäumen fanden. Aprikosen, Äpfel und Kirschen. Ich hatte auch hier kein Gesicht, erinnerte keine Stimme. Und das war gut so.

*

Ein niedriger Flur, links das Bad, wo die Rosen durchs Fenster scheinen, Wohnzimmer und Küche, die schmale Tür zur Speisekammer. Vielleicht werden wir die Wand zwischen Küche und Wohnzimmer herausreißen und eine Fensterfront einbauen, zum Garten hin. Das malen wir uns aus, ich und Christina, die jeden Tag mit unserem alten Auto zum Dienst fährt, während ich im Haus bleibe. Das Kinderzimmer habe ich als Erstes renoviert. Die Kleine schläft dort im Schatten der Obstbäume. Christina wollte die Wände weiß, nicht rosa. Wir haben Kiefernmöbel gekauft und Blätter auf die Tapete gemalt, Ranken und Blüten, als setzte der Garten sich nach drinnen fort. Das Zimmer nebenan ist unseres, ein niedriges Bett, ein Kleiderschrank. Auch wir sehen die Obstbäume. Wenn wir spät noch wach liegen und reden, schwankt um uns ein Dickicht aus Nacht, Sternen und Laub. Und dann ist da noch das dritte Zimmer, das rohe, heruntergekommene. Wir haben die Tür abgeschlossen, damit die Kleine nicht hineingeht. Der Putz ist rau und ein wenig feucht, als wäre irgendwann einmal der Regen eingedrungen.

*

Wenn ich lange genug über meine Zehen hinweg zum Haus geschaut habe, balanciere ich über ein paar Schründe hinüber zur Westseite des Riffs und blicke auf das andere Dorf, wo Vito und ich als Kinder gewohnt haben. Vorwärts und rückwärts kann ich von hier oben schauen. Auf der einen Seite das Haus, wo Christina jetzt die Kleine ins Bett bringt. Auf der anderen Seite das Dorf meiner Kindheit. Eine mäandernde Straße dazwischen, die sich in den Waldstücken verliert, um zwischen den Feldern als gleißendes Band wiederaufzutauchen. Die Dämmerung dauert eine Ewigkeit mit allen Schatten, die länger sind als die Dinge selbst. Die Kronen schwanken. Alles wirbelt. Alles fällt durcheinander. Vito, der jetzt unten an der Elbe wohnt, Christina, die Kleine, gestern, heute. Wenn es so wirbelt, ist es Zeit abzusteigen, die Hände an den Sandstein zu legen, auf dem immer gleichen Pfad aus Eisenklammern und Holzbohlen, den ich damals schon mit Vito nahm. Tags kommen die Leute, mühen sich über Schründe und Vorsprünge vor zur Aussicht, wo die blecherne Wetterfahne steht. Abends kommt keiner mehr. Aus den Kaminen und Spalten dünstet ein Rest Feuchte herauf.

*

Als ich noch mit Vito auf dem Riff saß, waren die Abende riesig und das Gebirge auch. Vito, die Bohnenstange. Ich, der Mops — nicht der Fette, der Mops, weder fett noch dürr. So kannten sie uns unten im Dorf, in diesem Kaff, auf das wir spuckten von hier oben: Schule, Fleischer, Bäcker, Konsum, der Feuerlöschteich in der Mitte, in den sich Jahr um Jahr weiter das Schilf fraß. Von jenen Abenden mit Vito ist mir der geblieben, als wir die Kaulquappen retteten. Wir fischten sie aus den Wasserbecken, die auf dem Riff überall zu finden sind. Sie zappelten im schwindenden Wasser, zwischen Blättern und Schlick. Wir schöpften sie uns auf die Hände, betrachteten ihre glitzernden Augen, die fließende Kontur ihres Körpers und ließen sie in die Gläser gleiten. Dann bugsierten wir sie den Pfad aus Leitern und Eisenklammern herunter. Einer stieg voraus, der andere reichte die Gläser nach. Wir lachten, als wir den Waldgrund erreichten. Und wir lachten immer noch, als wir durch die Stämme dem Dorf zueilten. Die Sonne stand tief. Die Gläser leuchteten wie Lampions in unseren Händen. Bald ließen wir den Wald hinter uns und rannten über die Felder. Wir hatten keine Ahnung, wie viel Sauerstoff die Kaulquappen brauchten, ob sie ersticken würden, wenn wir nicht schnell genug wären. Wir rannten und rannten, nahmen die Schleichwege zwischen Gärten und Häusern, bis wir endlich den Feuerlöschteich erreichten. Bäuchlings legten wir uns auf den Betonrand, hoben die Deckel und senkten die Gläser mit beiden Händen ins Wasser. Kurz schwammen die Kaulquappen wie tot obenauf. Dann wimmelten sie davon. Ein paar Minuten saßen wir noch da und starrten ins Wasser, bis die letzte Kaulquappe Richtung Schilf verschwunden war. Dann gingen wir heim. Vito schien gegen die blendende Sonne noch dünner als sonst. Zwei-, dreimal drehten wir uns um, winkten uns zu, dann bogen wir jeder in unsere Straßen ein. Die Leute hatten die Fenster offen. Ich hörte Stimmen, Radios, Geschirr und dachte an die Kaulquappen, wie sie wachsen würden mit dem ganzen Platz, den sie jetzt hatten.

*

Jeden Tag zogen wir hoch in den Wald, wo die Felsblöcke wie Häuser zwischen den Stämmen lagen. Eine Stadt aus Sandstein nur für uns. Wir schlichen durch die Felsgassen, erkundeten Block um Block. Es gab die niedrigen, die flachen, viele kaum mehr als zwei, drei Meter hoch. Andere hatten einen steilen Fuß, dann legten sie sich. Ein, zwei Züge und man war über das Schwierigste hinaus. Wieder andere waren steil von allen Seiten, moosbewachsen und von Kiefernnadeln beschauert. Grüne Kolosse, zu denen wir ehrfürchtig aufschauten. Aus der Nähe verströmten sie ein süßliches Aroma von Fäulnis und Leben. Monolithen, auf die wir uns nicht hinauftrauten. Wir wussten, dass die Blöcke unbestiegen waren, terra incognita, so krautig grün, so lächerlich im Vergleich zu den Riffen und Gipfeln. Am Wochenende kamen die richtigen Kletterer durchs Dorf. Ich hörte ihre Stimmen zwischen den Häusern, obwohl sie alles andere als laut waren. Ich blickte ihnen nach und versuchte mir ihre Welt vorzustellen. Ich dachte, wenn ich nur genug in unserer Felsenstadt kletterte, würde ich es auch so weit bringen. Vito und ich würden in der Schule sitzen, unsere Hände vor uns auf der Bank, rissig und vergrindet. Große Hände, die uns überall hinbringen könnten. Vokabeln konnten sie schreiben oder Aufgaben rechnen, aber eigentlich waren sie dazu gemacht, uns auf den einen Block zu heben, den wir in der Felsenstadt ausgekundschaftet hatten, der so anders war als die anderen. Er lag am südlichen Fuß des Felsriffs, von wo wir die Kaulquappen gerettet hatten. Ein Koloss, den die Erosion von ganz oben abgeworfen hatte. Mit einer Seite lehnte er an der glatten Wand des Riffs. Dazwischen gab es eine mit Kiefernnadeln gefüllte Rinne, die man aufwärtskrauchen konnte. Dann wurde es steiler, aber wenn man sich in der Rinne verspannte, sich zwischen Wand und Wand klemmte, würde man es leicht hinaufschaffen. Doch das wollten wir nicht. Uns interessierte die andere, vom Riff abgewandte Seite. Eine geneigte Platte, vielleicht sieben Meter hoch. Dann wurde es steil. Die Wand bauchte aus, eine Wulst, bis sie sich oben wieder legte. Zwischen der Platte und der Wulst konnten wir ein schmales Band erkennen, auf dem man wahrscheinlich stehen konnte wie auf einem Sims. In Gedanken war...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2020
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bunderepublik • Elbe • Grenze • Heimat • Jugend • Kindheit • Kommunismus • Liebe • Nazis • #ohnefolie • ohnefolie • Rechtsradikalismus • Sächsische Schweiz • Wiedervereinigung
ISBN-10 3-446-26852-9 / 3446268529
ISBN-13 978-3-446-26852-4 / 9783446268524
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