Sokolows Universum -  Leon de Winter

Sokolows Universum (eBook)

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2020 | 1. Auflage
448 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61030-7 (ISBN)
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Ein Straßenkehrer in Tel Aviv wird Zeuge eines Mordes. Der Mann zweifelt an seinem Verstand, denn er glaubt, in dem Mörder einen alten Freund erkannt zu haben. Und dies würde in der Tat alle Regeln der Wahrscheinlichkeit außer Kraft setzen. Denn Sascha Sokolow ist kein gewöhnlicher Straßenkehrer. Noch vor kurzem war der emigrierte Russe einer der angesehensten Raumfahrtforscher seines Landes.'

Leon de Winter, geboren 1954 in 's-Hertogenbosch als Sohn niederländischer Juden, arbeitet seit 1976 als freier Schriftsteller und Filmemacher und lebt in den Niederlanden. 2002 erhielt er den ?Welt?-Literaturpreis, 2006 die Buber-Rosenzweig-Medaille für seinen Kampf gegen Antisemitismus, und 2009 wurde er mit dem Literaturpreis der Provinz Brabant für Das Recht auf Rückkehr ausgezeichnet. Seine Romane wurden in 20 Sprachen übersetzt, zuletzt erschienen bei Diogenes ?Ein gutes Herz? (2013) und ?Geronimo? (2016).

Leon de Winter, geboren 1954 in 's-Hertogenbosch als Sohn niederländischer Juden, arbeitet seit 1976 als freier Schriftsteller und Filmemacher und lebt in Holland und den USA. Seine Romane erzielen nicht nur in den Niederlanden überwältigende Erfolge; einige wurden für Kino und Fernsehen verfilmt. 2002 erhielt er den WELT-Literaturpreis für sein Gesamtwerk, 2006 wurde er mit der Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnet.

Erster Teil


1


Am Sonntag, dem 23. September 1990, wurde in der Schechunat Hatikwah, einem Stadtteil im Süden von Tel Aviv, ein Mord verübt.

Den größten Teil der Rechow Etsel, der Hauptstraße dieses überwiegend von Jemeniten bewohnten Viertels, hatte der dreiundvierzigjährige Alexander Iwanowitsch Sokolow, ein großer magerer Mann mit einem Kindergesicht, bereits sorgfältig, wenn auch träge gekehrt und sich dann an der Ecke von Rechow Etsel und Rechow Roni hinter seinen Straßenkehrerkarren hingesetzt, um heimlich eine Flasche Wodka an den Mund zu führen. Ein paar Sekunden bevor die Schüsse fielen, hatte Sokolow sich wieder aufgerichtet, um seine Arbeit in dieser Straße zu beenden. Es war ein warmer Tag, die Sonne brütete auf seinem rötlichen Haar.

Sokolows Gerätschaft bestand aus einem altmodischen Strohbesen, einem Stockspieß, einer gedeckten Schaufel für Hundekot und einem kleinen Karren. Der rollte auf zwei Fahrradrädern, die mit Bügeln an einem Eisenring befestigt und mit einem V-förmigen Griff versehen waren, an dem man das Ganze schieben konnte. Im Ring hing ein Plastikmüllsack – der Mittelpunkt von Sokolows Aktivitäten. Der Karren war aus minderwertigem Stahl gemacht und schlampig zusammengeschweißt, aber er erfüllte seinen Zweck.

Sokolow hatte sich also mit Kehren bis zur Rechow Roni vorgearbeitet, einer engen Seitengasse, die in der Hauptstraße aufging wie ein Ast in einem Stamm. An dieser T-förmigen Kreuzung mit der Rechow Etsel, einer heruntergekommenen Straße mit billigen Restaurants, Gasthäusern und Imbißbuden, hatte er ziemlich viel Müll vorgefunden. Die Blasen an seinen Händen waren verheilt, seit er Plastikhandschuhe trug, aber sein Kreuz erinnerte ihn noch daran, daß er körperliche Arbeit nicht gewohnt war. Für die wirksamste Kehrbewegung mußte er sich immer leicht vorbeugen, und nach einem Tag angestrengten Straßen- und Rinnsteinfegens kehrte er mit brennendem Rücken in sein Zimmer im ersten Stock eines vergammelten Hauses in der Rechow Iwri zurück, einer anderen Querstraße der Etsel. Bei der Arbeit schweiften seine Gedanken von einem Thema zum anderen, manchmal mit Lichtgeschwindigkeit, manchmal mit dem trägen Schritt eines besoffenen Russen.

Während sich das auserwählte Volk zur Mittagsruhe in den Häusern befand, drehte Sokolow seine Runde, um die Stunden wieder hereinzuholen, die er am Morgen verloren hatte. Erst um halb elf hatte er sich in der Baracke gemeldet, die von der Reinigungsfirma als Depot für die fahrbaren Müllsäcke benutzt wurde, lange nachdem ihn der Wecker aus schweren Träumen gerissen hatte.

Wie im gesamten kapitalistischen Israel vergab die Gemeindeverwaltung auch hier kommunale Reinigungsarbeiten an private Betriebe. Im Hatikwah-Viertel war der billigste Unternehmer ein Jemenite, genannt der Schwarze Jossi. Schwarzer Jossi hatte den Gemeindeauftrag bekommen, weil er erstens die Konkurrenz bedrohte (er verprügelte sie oder zündete ihre Häuser an, wenn sie es wagten, niedriger anzubieten als er), aber auch, weil er zweitens besondere Beziehungen zu den Beamten unterhielt, die die Aufträge verteilten. Seinem Personal zahlte er nur den absoluten Mindestlohn, einen Betrag, der in Israel die Armutsgrenze markierte. Für neunhundert Schekel im Monat kehrte Sokolow an sechs Tagen in der Woche die Straße, das Zimmer kostete ihn zweihundertundfünfzig, Gas und Licht hundert, und der Rest ging mehr oder weniger für Wodka drauf.

Sokolow war heute morgen zu spät gekommen, weil er so sturzbetrunken gewesen war, daß er sich, nachdem er die Weckuhr durchs Zimmer gepfeffert hatte, drei weitere Stunden lang nicht aus dem Bann eines magischen Schlafs lösen konnte. Der Aufziehwecker Made in Switzerland war solide genug, um Sokolow noch die paar Jährchen aus seinen Träumen zu reißen, bis der Messias sich endlich gezeigt hätte (soeben war hier das Neujahrsfest des Jahres 5751 gefeiert worden, und sehr viel länger würde Er doch wohl nicht mehr brauchen). Sokolow hatte die Weckuhr auf dem arabischen Flohmarkt in Jaffa gekauft, und das Ding funktionierte nach einem Dutzend Würfen noch immer tadellos. Mit bohrendem Schädelweh hatte er um zehn Uhr die Augen aufgeschlagen und war ein paar Straßen weiter in Richtung Baracke geeilt, wo Schwarzer Jossi persönlich das Zepter über die Straßenkehrer des Hatikwah-Viertels schwang: über Sascha Sokolow und achtzehn andere Akademiker, die so glücklich waren, überhaupt einen Job gefunden zu haben.

»Früher hatte ich Palästinenser in Dienst«, erklärte der Schwarze Jossi beim Vorstellungsgespräch, »aber man soll doch den olim chadaschim, den Neueinwanderern, helfen, was man kann. Was hast du vorher in Rußland gemacht?«

»Ich bin Ingenieur der Metallurgie«, antwortete Sokolow mit brüchigem Stolz. »Ich habe cum laude über Metallmüdigkeit in Vakuumräumen promoviert.«

»Das fehlt mir noch in meiner Sammlung«, schmunzelte Jossi und zählte die eigentlichen Berufe seiner Straßenkehrer auf: ein Arzt, ein Geiger, ein Geschichtslehrer (»Ja, damit kannst du dir hier den Hintern wischen«), ein Biologe, ein Geologe (»Tundrafachmann oder so, hier auch überflüssig wie ein Kropf«) sowie ein Auto-Designer, der den Moskwitsch und den Wolga mit entworfen hatte (»Steinzeitschlitten, die will hier keiner«).

Am Abend zuvor hatte sich Sokolow betrunken. Er hatte sich auch in der Nacht davor betrunken, und in der Nacht vor dieser Nacht: So ziemlich alle zweihundert Nächte, die er schon in Israel verbrachte, hatte er in Wodka ersäuft. Der Erste Halbe Liter wirkte erquickend und belebend. Aber er weckte auch einen quälenden Durst, der nur mit dem Zweiten Halben gelöscht werden konnte. Und dieser Zweite Halbe brachte wieder zum Vorschein, was mit dem Ersten Halben betäubt worden war. Sokolow war dann nicht mehr imstande, den Verschluß auf die Flasche zu schrauben und sich in sein Lehrbuch Iwrith für Fortgeschrittene zu vertiefen, das im Zimmer herumlag. Dann mußte er sich auf die Suche nach dem zweiten Liter machen und sich ins schwärzeste Vergessen trinken.

Sokolow war schon öfter zu spät gekommen, aber nie so sehr wie heute. Heute sah es nach Rekord aus. Gestern war Sabbat gewesen, ein Feiertag für grenzenloses Besäufnis. Als er sich endlich zum Dienst meldete, wurde er von Jossi heruntergeputzt. Sein Boß saß in der Baracke hinter einem leeren Schreibtisch. In der Ecke stand eine fahrbare Aircondition. Sie dröhnte wie ein Flugzeugmotor. Jossis Stimme übertönte sie mühelos.

»Was glaubst du – bist du vielleicht was Besseres als die anderen?« fragte er. Der Körperbau des Schwarzen Jossi war fast quadratisch, der runde Kopf saß direkt auf dem muskulösen Oberkörper (wozu brauchte ein Schwarzer Jossi so was Elegantes wie einen Hals?), und seine massigen Arme, Ergebnis jahrelangen Trainings in einer Sportschule, hätten den um zwei Köpfe größeren Sokolow in wenigen Sekunden dauerhaft invalidisieren können. Um Jossis Nakken hing ein goldener Davidsstern von der Größe eines Verkehrsschildes, die Handgelenke hatte er sich in massiv-goldene Ketten schlagen lassen, die Finger protzten mit dicken Siegelringen. Dieser Typ, den es auch in der Sowjetunion gab, hieß hier Tschaktschak, ein geistig minderbemittelter ordinärer Hohlkopf mit zuviel zweifelhaft erworbenem Geld.

»Hör mal, Boris, du …«

»Ich heiße Sascha. Alexander Iwanowitsch …«

»Unterbrich mich nicht, Mann, sonst kannst du gleich nach Hause gehen. Also, paß mal auf, du Wicht, du bist jetzt hier im Westen, klar? Hier kannst du dich nicht mehr auf die faule Haut legen wie früher zu Hause. Du bist jetzt im Kapitalismus, und da wird für Geld gearbeitet, verstanden? Das war das letzte Mal, ich warne dich, noch einmal zu spät, und deine Karriere im Reinigungsbereich ist beendet, okay?«

Der Ingenieur für Metallurgie hatte genickt. Er hatte seinen Karren genommen und ihn zu seinem Gebietsabschnitt geschoben.

Es war Viertel vor drei, und eine fettige Schweißschicht bedeckte seinen Körper. Die Luftfeuchtigkeit in Tel Aviv schwankte an heißen Tagen so um die hundert Prozent, ideal für Insekten und Reptilien. Das quälende Kopfweh von heute früh hatte sich in dem Wodka aufgelöst, den er sich seit ungefähr zwölf Uhr einflößte. Zu diesem Zeitpunkt hatte er in einem Supermarkt eine Flasche Gold Wodka erstanden, ein vierzigprozentiges scharfes und zugleich wäßriges Zeug, verglichen mit dem himmlischen Stolitschnaja, den er von der udssR her gewöhnt war (guter Wodka schmeckte weich und hatte eine ölige Konsistenz), aber einen anderen konnte er sich nicht leisten. In diesem Land zahlte man ein Vermögen für eine Flasche Stolitsch, und falls er hier seinem Hang zu Edelspirituosen nachgab, hätte er seinen Monatslohn jeweils innerhalb von wenigen Tagen versoffen. Dann lieber Gold, eine israelische Marke, unverkennbar viele Stufen tiefer in der Wodka-Hierarchie, aber billig und in den Nachwirkungen offensichtlich auch nicht schlimmer als die teureren Marken. Die Schmerzen, mit denen Sascha erwachte, hingen mit der Menge seines Konsums zusammen sowie mit den Erinnerungen, die er damit ertränkte, das durfte er Gold nicht anlasten.

Seit seinem Debüt als Straßenkehrer hatte Sokolow festgestellt, daß die Israelis, vor allem die Juden aus Nordafrika oder dem Jemen, kein Umweltbewußtsein hatten. Alles warfen sie auf die Straße. Das war für ihn eine neue Erfahrung, vieles sah er erst, seit er die Welt als Straßenkehrer betrachtete, und was er sah, machte ihm die Grenzen seiner Wahrnehmung bewußt. Früher, als...

Erscheint lt. Verlag 22.4.2020
Übersetzer Sibylle Mulot
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Freunde • Freundschaft • Gesellschaft • Golfkrieg • Israel • Krimi • Liebe • Mord • Raumfahrt • Raumfahrtforscher • Roman • Russe • Straßenkehrer • Tel Aviv • Verbrechen • Zeuge
ISBN-10 3-257-61030-0 / 3257610300
ISBN-13 978-3-257-61030-7 / 9783257610307
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