Der steinerne Engel (eBook)

Roman | Der literarische Klassiker aus Kanada über Selbstbestimmung und die Kraft der Erinnerung
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2020 | 1. Auflage
336 Seiten
Eisele eBooks (Verlag)
978-3-96161-100-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der steinerne Engel -  Margaret Laurence
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Mit über neunzig will Hagar Shipley nicht wahrhaben, dass ihre Kräfte schwinden, Sohn und Schwiegertochter mit ihrer Pflege überfordert sind. Mit dem letzten Funken Lebenskraft kämpft sie gegen den Umzug in ein Pflegeheim. Während sie mit Marvin und Doris in Konfrontation geht, wird sie mehr und mehr überschwemmt von den Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, ihre Ehe mit dem Farmer Bram und das Aufwachsen ihrer Söhne. Schonungslos reflektiert sie teils mit Bitterkeit, teils mit Humor, immer aber mit großem Scharfsinn die Höhen und Tiefen ihres Lebens. Dabei bedauert sie vieles, aber bereut nichts. Und bittet weder Gott noch die Menschen um Vergebung. »Voller Grotesken und auch voll Humor - ein grandios feingestricktes Buch über eine eigentlich unsympathische Frau, die wir am Ende wirklich lieb haben.« Elke Heidenreich

Margaret Laurence, die gemeinsam mit Margaret Atwood und Alice Munro als bedeutendste Autorin Kanadas gilt, wurde 1926 in der Präriestadt Neepawa geboren. Von frühester Jugend an wollte sie Schriftstellerin sein. 1947 heiratete sie einen Bauingenieur und ging mit ihm erst nach England und dann nach Afrika. Über Afrika schrieb sie ihre ersten Texte, ihre bedeutendsten fünf Prosawerke sind jedoch in Kanada in der fiktiven Stadt Manawaka angesiedelt, der ihre Heimatstadt Neepawa Pate stand. Margaret Laurence starb 1987.

Margaret Laurence, die gemeinsam mit Margaret Atwood und Alice Munro als erfolgreichste Autorin Kanadas gilt, wurde 1926 in der Präriestadt Neepawa geboren. Ihre Eltern waren schottischer und irischer Abstammung und starben, als sie noch ein Kind war. Sie wuchs bei einer Tante auf, besuchte das United College in Winnipeg und arbeitete als Reporterin für den Winnipeg Citizen. 1947 heiratete sie Jack Laurence, einen Bauingenieur, und ging mit ihm 1949 nach England und von 1950 bis 1957 nach Afrika. Über Afrika schrieb sie ihre ersten Erzählungen und Romane, ihre bedeutendsten Prosawerke sind jedoch in Kanada in der fiktiven Stadt Manawaka angesiedelt, der ihre Heimatstadt Neepawa Pate stand. 1962 trennte sie sich von ihrem Ehemann, lebte zehn Jahre in England und kehrte dann endgültig nach Kanada, Ontario, zurück. Margaret Laurence starb 1987.

EINS

Über der Stadt, auf der Hügelkuppe, stand einst der steinerne Engel. Ich frage mich, ob er noch jetzt dort steht, zum Gedenken an die Frau, die ihren schwachen Geist aufgab, als ich meinen sturen gewann: der Engel meiner Mutter, den mein Vater mit Stolz erwarb, um ihr Gebein zu markieren und seinem Namen, wie er glaubte, auf immer und ewig ein Denkmal zu setzen.

Sommers wie winters blickte er ohne zu sehen auf die Stadt. Er war zweifach blind, nicht nur steinern, sondern nicht einmal mit dem Anschein von Augenlicht ausgestattet. Der unbekannte Bildhauer hatte die Augäpfel unbehauen gelassen. Es kam mir seltsam vor, dass der Engel über der Stadt stand und uns alle in den Himmel rief, ohne auch nur zu wissen, wer wir waren. Doch seinerzeit war ich zu jung, um den Sinn dahinter zu erkennen, auch wenn mein Vater mir oft erzählte, er sei für Unsummen aus Italien geholt worden und aus reinem weißem Marmor. Heute glaube ich, dass er dort in jener fernen Sonne von Steinmetzen gemeißelt wurde, die Berninis zynische Nachfolger waren, erstaunlich genau die Bedürfnisse frischgebackener Tyrannen in einem wilden Land erkannten und Engel wie ihn in rauen Mengen fabrizierten.

Seine Flügel wurden im Winter vom Schnee, im Sommer vom Flugsand zerfressen. Er war nicht nur der einzige Engel auf dem Friedhof von Manawaka, er war auch der erste, der größte und mit Sicherheit der teuerste. Die anderen waren, das weiß ich noch, eine minderwertige Art, kleinliche Engelchen, Cherubim mit steinernen Schmollmündern, von denen einer ein steinernes Herz in die Höhe hielt, ein anderer in ewiger Stille auf einer kleinen steinernen Harfe spielte, und wieder ein anderer mit verzücktem Grinsen auf eine Inschrift zeigte. Ich erinnere mich an diese Inschrift, weil wir uns über sie lustig gemacht haben, als der Grabstein dort aufgestellt wurde.

VON LEID BEFREIT
IM PARADIES
REGINA WIES
1886

So viel zur armen Regina, lang vergessen in Manawaka – wie zweifellos auch ich, Hagar, vergessen bin. Und trotzdem habe ich immer gedacht, selbst schuld, denn sie war fade wie Eiercreme, ein mickriges Ding ohne Mumm, das mit märtyrerhafter Hingabe Jahr für Jahr eine undankbare und fuchsmäulige Mutter betreute. Als Regina an irgendeinem undurchsichtigen Jungfernleiden starb, erhob sich die schändliche alte Dame von ihrem siechen Lager und lebte zur Verzweiflung ihrer verheirateten Söhne noch geschlagene zehn Jahre. Ihr braucht man die Einkehr ins Paradies nicht zu wünschen, denn sie wird boshaft lachend in der Hölle wohnen, während die keusche Regina seufzend im Himmel hockt.

Im Sommer war die Luft auf dem Friedhof zäh wie Sirup vom Bestatterparfüm der dort gepflanzten Pfingstrosen in Blutrot und Tapetenmusterrosa, die mit ihren schwülstigen bleiernen Blütengehängen viel zu schwer waren für die zarten Stängel, gebeugt von der Last ihrer selbst und des Regens, befallen von aufstrebenden Ameisen, die durch die üppigen Blumenblätter schlenderten, als wären sie dafür gemacht.

Als Mädchen bin ich oft dort spazieren gegangen. Die Auswahl an Wegen konnte seinerzeit nicht allzu groß gewesen sein, wo man vornehm gehen konnte, ohne sich die weißen Lederstiefel und schwingenden Rocksäume von Disteln zerreißen oder in unziemliche Unordnung bringen zu lassen. Wie sehr ich darauf bedacht war, ordentlich zu sein, ja ich stellte mir vor, das Leben sei nur dafür geschaffen, um Ordnung zu zelebrieren wie Pippa mit ihren pingeligen Trippelschritten. Doch manchmal, mit dem heißen despektierlichen Windrausch, der in die Straucheiche und spröde Quecke fuhr, jene Rivalen der pflichtgetreu gehegten Wohnungen der Toten, stieg kurz der Duft von Dotterblumen auf. Tief verwurzelt waren sie, diese wilden und grellen Blumen, und auch wenn sie an den Rand des Friedhofs gedrängt und ausgerupft wurden von liebenden Verwandten, die wildentschlossen waren, die Parzellen klar und sichtlich zivilisiert zu halten, ließ sich dort für ein oder zwei Sekunden der staubige Moschushauch alles Wildwuchernden wahrnehmen, das immer schon gewachsen war, vor den Pfingstrosen und starrflügligen Engeln, als die Prärien nur von Cree-Indianern mit steinerner Miene und fettigen Haaren durchwandert wurden.

Jetzt stürzen die Erinnerungen auf mich ein. Ich lasse mich nicht oft so gehen, zumindest nicht allzu oft. Manche wollen einem ja weismachen, die Alten lebten in der Vergangenheit – das ist aber Blödsinn. Jeder im Grunde wertlose Tag hat in letzter Zeit etwas Kostbares für mich. Ich könnte ihn in eine Vase stellen und bewundern wie den ersten Löwenzahn, und wir würden das Unkrauthafte daran vergessen und über seine Existenz staunen. Doch meist simuliert man, Leuten wie Marvin zuliebe, den es irgendwie tröstet, das Bild einer alten Dame, die wie ein zahmes Kaninchen an den Salatblättern anderer Zeiten, anderer Sitten knabbert. Wie unfair ich bin. Aber warum auch nicht? Dieses Stänkern ist meine einzige Freude, das und das Rauchen, das ich mir vor zehn Jahren erst angewöhnt habe, aus Langeweile. Marvin findet es verwerflich, dass ich in meinem Alter, mit neunzig, rauche. Es hat für ihn etwas Verstörendes, zu sehen, wie Hagar Shipley, die durch einen dummen Zufall seine Mutter ist, dasitzt und keck einen kleinen weißen Glimmstängel zwischen arthritischen Fingern hält. Jetzt, wo ich schon mal damit angefangen habe, stecke ich mir eine Zigaratte an, stapfe durch mein Zimmer und erinnere mich hemmungslos. Ich darf aber auf keinen Fall Selbstgespräche führen, sonst wird Marvin seiner Doris einen Blick zuwerfen und Doris wird den Blick bedeutungsschwanger erwidern, und einer von beiden wird sagen: »Mutter hat wieder einen ihrer Tage.« Sollen sie ruhig reden. Was kümmert es mich jetzt noch, was die Leute sagen? Es hat mich viel zu lange gekümmert.

Ach, meine verlorenen Männer. Nein, daran werde ich jetzt nicht denken. Wie blamabel, vor den Augen dieser fetten Doris zu weinen. Die Tür meines Zimmers hat kein Schloss. Angeblich deshalb, weil ich nachts krank werden könnte, und wie sollen sie dann reinkommen, um sich zu kümmern (zu kümmern, als würde ich ohne sie verkümmern). Damit sie jederzeit nach Lust und Laune in mein Zimmer kommen können. Privatsphäre ist ein Privileg, auf das die Alten und die Jungen keinen Anspruch haben. Manchmal sehen sehr kleine Kinder die Alten an, und man tauscht einen Blick aus, verschwörerisch, listig und wissend. Weil weder die einen noch die anderen von den Mittleren als Menschen betrachtet werden, von denen, die, wie man so sagt, im Saft stehen, im Saft schmoren wie ein Rinderbraten.

Ungefähr sechs muss ich gewesen sein, als ich mein kariertes Trägerkleidchen hatte, blassgrün und blassrot – kein Rosa, sondern ein wässriges Rot wie das Fruchtfleisch einer reifen Wassermelone, genäht von einer Tante aus Ontario und herrlich mit Baumwollsamt paspeliert. Und so stolzierte ich über den breiten Bürgersteig wie ein winzig kleiner Pfau, prangend, hochmütig, hochnäsig, Jason Curries schwarzhaarige Tochter.

Was habe ich Tante Doll das Leben schwer gemacht, bevor ich eingeschult wurde. Das große Haus war damals neu, das zweite Backsteinhaus Manawakas, und immer glaubte sie diesem Umstand gerecht werden zu müssen, obwohl sie nur ein Dienstmädchen war. Sie war Witwe und seit meiner Geburt bei uns. Morgens trug sie ein weißes Spitzenhäubchen und keifte mich an wie eine Hexe, wenn ich ihr das Häubchen vom Kopf riss und vor den glucksenden Augen Reuben Pearls, der die Milch brachte, ihren Wuschelkopf entblößte. Dann schickte sie mich in den Laden, und dort setzte mich mein Vater auf eine umgedrehte Apfelkiste, und inmitten der Fässer mit den Dörraprikosen und Rosinen, wo es nach Packpapier und Appretur von den Stoffballen aus der Textilabteilung roch, musste ich Gewichte und Maßeinheiten auswendig lernen.

»Zwei Gläser sind ein Noggin. Vier Noggins sind ein Pint. Zwei Pints sind ein Quart. Vier Quarts sind eine Gallone. Zwei Gallonen sind ein Viertelscheffel. Vier Viertelscheffel sind ein Scheffel.«

Und er stand hinter der Theke, wuchtig in seiner Weste, und mit seinem rollenden schottischen R soufflierte er mir, wenn ich etwas vergaß, und mahnte mich an, mich zu konzentrieren, sonst würde ich es nie lernen.

»Du willst doch kein Strohkopf sein, wenn du groß bist, keine dumme Nuss?«

»Nein.«

»Dann konzentrier dich.«

Wenn ich alle von vorne bis hinten durch hatte, Feingewicht, Längenmessung und Abstandsmessung, britisches Hohlmaß, Raummaß, dann nickte er.

»Hayfoot, Strawfoot,
Jetzt hast du’s.«

Mehr als das sagte er nie, wenn ich gut gelernt hatte. Er war ein Mann, der keine Worte und keine Zeit verlor. Er war ein Mann der Tat. Als armer Schlucker hatte er begonnen, wie er vor Matt und Dan gern zum Besten gab, um sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen. Es war die Wahrheit. Niemand konnte es abstreiten. Meine Brüder ähnelten unserer Mutter, zwei anmutige uninspirierte Jungen, die es ihm recht machen wollten, aber selten konnten. Nur ich, die ihm nicht im Geringsten ähnlich sein wollte, war robust wie er und hatte seine Adlernase und den Blick, die jedem fremden Augenpaar standhielt, ohne mit der Wimper zu zucken.

Müßiggang ist aller Laster Anfang. Er war ein großer Befürworter von Moralpredigten. Sie waren sein Vaterunser, sein Credo. Er betete sie runter wie einen Rosenkranz, ließ sie fallen wie Münzen in die Kasse. Gott hilft denen, die sich selbst helfen. Viele Hände machen leichte Arbeit.

Zum Prügeln nahm er Birke. Damit hatte schon sein Vater ihn geprügelt, wenn auch in einem anderen Land. Ich weiß nicht, was...

Erscheint lt. Verlag 14.9.2020
Übersetzer Monika Baark
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alter • Buch-Reihe • Eheroman • Frauen • Gebunden • Geschenk • Kanada • Kanadische Literatur • Klassiker • Lebenslügen • Moderne Klassiker • Moderner Klassiker • neue Rechtschreibung • neues cover • Neuübersetzungen • Roman • Weltliteratur • Welt-Literatur
ISBN-10 3-96161-100-9 / 3961611009
ISBN-13 978-3-96161-100-3 / 9783961611003
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