Leben ist ein unregelmäßiges Verb (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
992 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26853-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Leben ist ein unregelmäßiges Verb - Rolf Lappert
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Rolf Lapperts großer Roman über Freundschaft, Verlust und den Trost der Erinnerung.
Eine Aussteiger-Kommune auf dem Land, 1980: Die Behörden entdecken vier Kinder, die versteckt vor der Welt aufgewachsen sind. Ihre Schicksale werden auf Schlagzeilen reduziert, doch Frida, Ringo, Leander und Linus sind vor allem Menschen mit eigenen Geschichten. Aus der Isolation in die Wirklichkeit geworfen, blicken sie staunend um sich. Und leben die unterschiedlichsten Leben an zahllosen Orten: In Pflegefamilien und Internaten, auf Inseln und Bergen, als Hassende und Liebende. Wie finden sich Verlorene in der Welt zurecht? In seinem ganz eigenen zärtlich-lakonischen Ton erzählt Rolf Lappert in diesem großen Roman wie man sich von seiner Kindheit entfernt, ohne sie jemals hinter sich zu lassen.

Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war später Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitete zwischen 1996 und 2004 als Drehbuchautor. Bei Hanser erschienen 2008 der mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete Roman Nach Hause schwimmen, 2010 der Roman Auf den Inseln des letzten Lichts, 2012 der Jugendroman Pampa Blues, 2015 der Roman Über den Winter sowie 2020 sein neuer Roman Leben ist ein unregelmäßiges Verb.

 

 

LEANDER

Kapitel I

 

Ins Helle blinzeln

 

In den ersten Tagen nach dem Ereignis, das im Radio, in den Zeitungen und im Fernsehen die Befreiung genannt wurde, geschah so viel Neues, Unerwartetes und Furchteinflößendes, dass Leander Selbig sich weigerte, sein Zimmer zu verlassen. Er sprach kein Wort und wollte niemandem zuhören, also ließ man ihn vorerst in Ruhe. Weil er die Hausmannskost, die ihm vorgesetzt wurde, nicht anrührte, ernährte er sich bald ausschließlich von getrockneten Mangos, Papayas und Kiwis, von Datteln und Feigen, von Rosinen und Pekannüssen, von Marzipan, Nougat und Türkischem Honig, von Hefegebäck mit Vanillecreme und Mandelsplittern, von Lakritze und Süßholz und Lavendelbonbons. Sein Heißhunger auf Exotisches ließ nicht nach, wenn es nur weit weg war von gestampften Kartoffeln und Schaffleisch, wenn es ungewohnt war und aufregend für Zunge und Gaumen. Dazu trank er Säfte aus Obst, dessen Existenz man ihm bisher verschwiegen hatte, weil es den Makel des nicht Heimischen trug, Orange, Ananas, Passionsfrucht, jedes erdenkliche fremde Gewächs, das den langen Weg über die Ozeane bis ins Haus seiner Tante in Münster geschafft hatte. Er schüttete die tropischen Flüssigkeiten in solchen Mengen in sich hinein, dass sein Magen regelmäßig rebellierte und er gezwungen war, eine Diät aus Bananen und dunkler Schokolade einzulegen und Tee zu sich zu nehmen, freilich nicht Kamille oder Fenchel, sondern auf fernen Kontinenten wachsende Sorten wie Rooibos, Darjeeling, Jasmin.

Meret Weiss, die unverheiratete ältere Schwester seiner im Gefängnis auf ihren Prozess wartenden Mutter, hatte sich noch bis zum Tag der ersten Begegnung ausgemalt, wie sie den Jungen ins neue, richtige Leben begleiten würde, behutsam und Schritt für Schritt, aber jetzt kam es ihr schon wie ein Erfolg vor, wenn er nicht ständig weinte oder in seinem Zimmer auf und ab lief wie Rilkes Panther. Sie hatte mit ihm ins Kino gehen wollen, auf den Jahrmarkt, ins Museum für Naturkunde und in die Bibliothek, hatte einen Ausflug zu den Seen im Umland geplant und einen an die Küste, damit Leander zum ersten Mal das Meer sah. Nun deutete alles darauf hin, dass es noch Wochen, vielleicht Monate dauern würde, bis ihr aus dem Nichts aufgetauchter Neffe bereit wäre, auch nur das Haus zu verlassen.

An jedem Montag, Mittwoch und Freitag kam ein Psychiater vorbei, den das Jugendamt schickte und dessen Aufgabe es war, dem Jungen einerseits etwas dem seelischen Heilungsprozess Zuträgliches zu entlocken und ihm andererseits die elementarsten Begriffe menschlicher Koexistenz nahezubringen. Für die Fachleute, die sich mit Leander beschäftigt und der Unterbringung bei seiner Tante zugestimmt hatten, schien gesichert, dass nicht nur das Gemüt des Zwölfjährigen beschädigt worden war und therapiert werden musste, sondern dass auch seine soziale Entwicklung stark gelitten hatte und der von der Wirklichkeit völlig überforderte Junge dringend auf Hilfe beim Umgang mit der von ihm zweifelsohne als bedrohlich empfundenen Welt angewiesen war, oder, in den Worten Dr. Borns, eine umfassende Schulung zum Überleben brauchte.

Bei seinen Besuchen setzte sich Ewald Born, ein schlanker, groß gewachsener Mann Anfang vierzig, auf den Stuhl am Schreibtisch, während Leander mit geschlossenen Augen und über dem Bauch gefalteten Händen auf dem Bett lag. Zu Beginn hatte der Junge sich noch geweigert, den Fremden, der ihm als der Mann, der dir helfen wird, zurechtzukommen, angekündigt worden war, in sein Zimmer zu lassen, hatte das Bett und den Tisch vor die Tür geschoben und sich die Finger in die Ohren gesteckt, damit er das sanfte Rufen seiner Tante, Dr. Borns beruhigende Floskeln und das schabende Geräusch nicht hörte, wenn die Möbel behutsam aus dem Weg geräumt wurden.

Es hatte eine Woche gedauert, bis Leander die Sinnlosigkeit seines Barrikadenbaus einsah und es fortan dabei beließ, sich tot zu stellen. Dennoch blieb Dr. Born, nachdem er angeklopft, seinen Namen genannt und die Tür geöffnet hatte, jeweils für einen Moment auf der Schwelle stehen, um dem Betreten des Zimmers zumindest den Anschein eines in beidseitigem Einverständnis arrangierten Treffens zu verleihen, ging dann an seinen Platz am Fenster, zog den Vorhang ein Stück zurück, damit etwas Licht in den Raum drang, und breitete langsam und sorgfältig die Gegenstände aus seiner Ledermappe auf der Tischfläche aus. Sobald alles an seinem Ort lag, drehte er den Stuhl so, dass er den Jungen im Halbdunkel sehen konnte, lockerte den Krawattenknoten, schlug sich eher symbolisch als enthusiastisch mit den Handflächen auf die Oberschenkel und sagte: »Also dann, beginnen wir.« Diesem Ausspruch ließ er jedes Mal sekundenlange Tatenlosigkeit folgen, als zweifle er plötzlich am Nutzen seines Besuchs oder als lähmten ihn die Last der Verantwortung und die nicht geringe Wahrscheinlichkeit des Versagens, die mit dem Fall einhergingen. Aber dann, weil er pflichtbewusst und ehrgeizig war und weil die Frau, die dieses stille Kind beherbergte, ihn nach der Sitzung auf einen Kaffee in die Küche bitten würde, holte er jedes Mal tief Luft, griff nach einem der Bücher oder Notizblöcke auf dem Tisch und schickte sich erneut an, etwas zu erreichen, das man mit viel gutem Willen als kleinen Durchbruch bei der Behandlung des Jungen hätte bezeichnen können.

Während Dr. Born sprach, hielt Leander die Augen geschlossen oder starrte an die Decke. Nur wenn der Mann ihn dazu aufforderte, blinzelte er hinüber und betrachtete teilnahmslos das in ein Heft geklebte Bild eines Fahrrads, eines Autos, einer Straßenbahn, einer Verkehrsampel. Den mit tiefer, ruhiger Stimme vorgetragenen Erläuterungen, Ratschlägen und Warnungen hörte er jedoch nicht zu, schloss die Augen und dachte darüber nach, wie es wohl wäre, tatsächlich tot zu sein.

In immer neuen Anläufen versuchte Dr. Born, Leander in einen Dialog zu verstricken, in dessen Verlauf der Junge sich öffnen und von den Erlebnissen berichten würde, die ihn belasteten. Er bot alles auf, was er im Studium gelernt und sich in zehn Jahren Praxis angeeignet hatte, erzählte von den Ängsten der eigenen Kindheit, von Reisen in entlegene Länder und der Schönheit der Welt, für die es sich lohne, dieses Zimmer und dieses Haus zu verlassen. Doch mit keinem seiner von Geduld und Nachsicht getragenen Monologe, keiner reizvollen Anekdote und keinem noch so leidenschaftlichen Plädoyer für Das Leben schien er bei seinem sich tot stellenden Gegenüber das Geringste zu erreichen. Leander blieb stumm, und auch nach der Handvoll Worte, die er dem Psychiater in der dritten Woche ihrer eigenartigen Zusammenkünfte hinwarf wie hartes Brot einem Schaf, zog er sich wieder hinter die undurchdringliche Mauer seines Schweigens zurück.

»Ich habe immer für den Freispruch der Kröten plädiert.«

Das war der Satz, den Dr. Born verstanden zu haben glaubte. Er schrieb ihn auf und hängte ihn über seinen Schreibtisch im Institut, aber schlau aus ihm wurde er nicht.

 

Irgendwann hörte Leander auf, die Artikel zu lesen. Eine Weile hatte er gehofft, er würde etwas aus ihnen erfahren, etwas über sich selbst, das ihm verborgen geblieben war. Er hatte gedacht, es gebe vielleicht eine Art Geheimnis, das er allein nicht ergründen konnte, weil ihm die Intelligenz und Bildung fehlten. Die Verfasser der Berichte, zumindest der seriösen, mussten doch, so hatte er angenommen, bestimmte Fähigkeiten besitzen, ein Wissen, das man ihnen, den vier Kindern, nicht beigebracht hatte, wie man ihnen vieles vorenthalten und verweigert hatte. Irgendwo musste doch stehen, was genau ihnen fehlte. Aber es ging den Fachleuten immer nur um die Abweichung von der Norm, um verschobene Schwerpunkte beim Lernen und nicht unterrichtete Fächer, um mangelnde medizinische Versorgung, um kaum vorhandene Sozialkontakte, um so lächerliche Dinge wie Latein, Impfungen und unvorteilhafte Haarschnitte.

Nirgendwo stand, was genau das Leben, das sie geführt hatten, falsch machen sollte, warum es die zwölf Jahre in Winnipeg zu missbilligen und zu korrigieren galt. Keiner machte sich die Mühe, in Erwägung zu ziehen, dass es den Kindern auf dem Land gut gegangen war, dass sie sich in der begrenzten Welt der Kommune wohlgefühlt hatten, dass sie auf ihre ganz eigene, ahnungslose Weise glücklich gewesen waren. Niemand schenkte der erregenden Angst während eines tobenden Sommergewitters Beachtung, dem Stolz über die Verdienste im Krieg gegen die Mäuse. Mit keinem Wort wurde das Belauschen der Grillen erwähnt, das Debattieren über die Notwendigkeit der Sterne, die Entschlüsselung der Sprache der Krähen, das Vorausahnen des Schneefalls, die Entzifferung der Wolken. Niemand kam auf die Idee, den Zustand ihrer gänzlichen Abgeschiedenheit mit etwas anderem gleichzusetzen als ideologischer Inzucht, Einsamkeit und Verwahrlosung.

 

Statt die Artikel immer und immer wieder nach erhellenden Hinweisen auf verschüttete oder unterentwickelte Fragmente seines Ichs zu durchforsten, beschloss er, Bücher zu lesen. Er redete nach wie vor kein Wort, weder mit seiner Tante noch dem Mann, der ihm Bilder von Dingen zeigte, die es draußen, jenseits des Fensters, angeblich gab. Um an die Lektüre zu kommen, erstellte er eine Liste der Werke, an die er sich erinnern konnte, Romane, die Konrad ihnen vorgelesen hatte, und solche, die sie bei ihren verbotenen Besuchen in den Räumen der Alten gesehen hatten. Nicht alle Titel, die er auf dem Blatt Papier notierte, das Dr. Born für ihn hingelegt hatte, falls er das Bedürfnis verspüre, sich etwas von der Seele zu schreiben, konnte oder wollte Tante Meret für ihn besorgen. Mark Twain, Charles Dickens, Robert Louis Stevenson, Jules...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2020
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte achtundsechzig • Adoption • Auster • Benedict • Bundesrepublik • Coming of Age • Distelfink • Einsamkeit • Ende • episch • Freundschaft • Geschichte • Internat • Kindheit • Kommune • Liebe • #ohnefolie • ohnefolie • Sehnsucht • Tartt • Wells • Zieheltern
ISBN-10 3-446-26853-7 / 3446268537
ISBN-13 978-3-446-26853-1 / 9783446268531
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