Aber es wird regnen (eBook)

(Autor)

Benjamin Moser (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
288 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-26287-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Aber es wird regnen -  Clarice Lispector
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Endlich wiederentdeckt: die Virginia Woolf Südamerikas
Platz 1 der SWR Bestenliste, eine beeindruckende Anzahl hymnischer Rezensionen und eine Nominierung der Übersetzung für den Preis der Leipziger Buchmesse 2020: der erste Band von Clarice Lispectors Erzählungen (»Tagtraum und Trunkenheit einer jungen Frau«) begeisterte die Presse ebenso wie Leserinnen und Leser. Zum 100. Geburtstag der Autorin liegt nun der zweite und letzte Band vor. Auch er zeigt die brasilianische Ausnahmeautorin wieder als einzigartige Chronistin des weiblichen Lebens und seiner Abgründe: Eine junge Frau entdeckt nach vielen Demütigungen das ekstatische Glück des Lesens. Ein Hausmädchen versinkt in traurigen Gedanken, um gestärkt in den Alltag zurückzukehren. Eine Beobachterin taucht in fremde Menschen ein und wird zu deren Fleisch. In 44 Geschichten, entstanden auf dem Höhepunkt ihrer literarischen Karriere und für diese Ausgabe von Luis Ruby neu übersetzt, paaren sich widersprüchlichste Gefühle und kühne Bilder mit philosophischer Erkenntnis. Lispector macht uns staunen - nicht zuletzt über die Kompliziertheit des Lebens.

Clarice Lispector, geboren 1920 in der Ukraine, gelangte mit ihrer Familie auf der Flucht vor Pogromen in den ländlichen Norden Brasiliens und lebte später in Rio de Janeiro. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, studierte sie Jura und begann eine Karriere als Journalistin. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren wurde sie Schriftstellerin. Sie schrieb Romane, Erzählungen, Kinderbücher sowie literarische Kolumnen und wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet.

AUF DER SUCHE NACH EINER WÜRDE


Frau Jorge B. Xavier hätte nicht zu sagen gewusst, wie sie da reingekommen war. Durch einen Haupteingang jedenfalls nicht. Sie hatte das Gefühl, vage verträumt durch eine Art enge Öffnung inmitten von Schutt gegangen zu sein, auf einer Baustelle, als hätte sie sich seitwärts durch ein Loch gezwängt, das nur für sie gemacht war. Und ehe sie sich’s versah, war sie schon drin.

Und ehe sie sich’s versah, bemerkte sie, dass sie schon ganz weit drin war. Endlos durchquerte sie die unterirdischen Gänge des Maracanã-Stadions, wenigstens kamen sie ihr vor wie enge Höhlen, die auf geschlossene Säle zuführten, und wenn sich die Säle dann öffneten, war da nur ein Fenster zum Stadion hinaus. Das Maracanã war um diese Stunde glühend verlassen, es flimmerte in der extremen Sonne, der ungewöhnlichen Hitze an diesem Tag mitten im Winter.

Da folgte die Dame einem düsteren Korridor. Der führte sie auf einen zweiten, noch düstereren. Sie hatte den Eindruck, dass die Decken in den unterirdischen Gängen niedrig waren.

Und da führte sie dieser Korridor auf einen weiteren und dieser nochmals auf einen weiteren.

Sie ging den verlassenen Korridor entlang. Und stieß auf eine weitere Ecke. Die sie auf noch einen Korridor führte, der an einer weiteren Ecke auslief.

So bog sie automatisch in Korridore ein, die stets auf weitere Korridore hinausgingen. Wo mochte der Saal für die Eröffnungsveranstaltung sein? Davor würde sie ja die Leute treffen, mit denen sie verabredet war. Vielleicht hatte der Vortrag sogar schon begonnen. Sie würde ihn verpassen, sie, die stets bemüht war, kein Kulturereignis zu versäumen, weil sie dadurch innerlich jung blieb, äußerlich sah ihr nämlich niemand an, dass sie fast siebzig war, alle schätzten sie auf ungefähr siebenundfünfzig.

Aber jetzt, verloren in den dunklen inneren Windungen des Maracanã, schlurfte die Dame längst mit den schweren Füßen einer alten Frau.

Da traf sie in einem Korridor auf einen Mann, der unvermittelt auftauchte, und fragte ihn nach dem Vortrag. Davon wisse er nichts, sagte der Mann. Doch er erkundigte sich bei einem zweiten Mann, der ebenso unverhofft an der Biegung des Korridors auftauchte.

Der zweite Mann erklärte ihr, er habe auf der rechten Tribüne, mitten im Stadion unter freiem Himmel, »zwei Damen und einen Herrn gesehen, eine in Rot«. Frau Xavier bezweifelte, dass es sich bei diesen Leuten um die Gruppe handelte, die sie vor der Veranstaltung treffen sollte, und offen gestanden, hatte sie inzwischen auch aus dem Blick verloren, warum sie überhaupt rastlos durch diese Korridore lief. Jedenfalls folgte sie dem Mann ins Stadion, wo sie geblendet stehen blieb: ein hohler Raum aus weit aufgerissenem Licht und offener Stummheit, das Stadion nackt und ausgeweidet, es gab dort weder Ball noch Spiel. Und vor allem keine Menge. Allenfalls eine Menge, die aus der Leere ihrer absoluten Abwesenheit bestand.

Waren die zwei Damen und der Herr schon durch irgendeinen Korridor verschwunden?

Da sagte der Mann mit einem Nachdruck, der übertrieben wirkte: »Ich suche jetzt für Sie, und ich finde diese Leute ganz bestimmt, die können sich ja nicht in Luft aufgelöst haben.«

Und in der Tat bekamen die beiden sie von ferne zu Gesicht. Doch eine Sekunde später verschwanden sie erneut. Es war wie ein kindliches Spiel, bei dem sich unterdrücktes Gelächter über Frau Jorge B. Xavier lustig machte.

Da trat sie mit dem Mann in weitere Korridore. Auf einmal verschwand auch dieser Mann an einer Ecke.

Die alte Dame hatte den Vortrag schon aufgegeben, an dem ihr im Grunde wenig lag. Solange sie nur aus diesem Wirrwarr nicht enden wollender Wege fand. Gab es denn hier keinen Ausgang? Mit einem Mal fühlte sie sich, als wäre sie im Aufzug stecken geblieben, zwischen einem Stockwerk und dem nächsten. Gab es denn hier keinen Ausgang?

Aber da fiel ihr plötzlich ein, was die Freundin am Telefon erklärt hatte: »Nicht weit vom Maracanã-Stadion.« Die Erinnerung machte ihr ihren Irrtum klar, typisch für eine, die den Kopf in den Wolken hatte, alles nur zur Hälfte hörte, die andere Hälfte blieb unterhalb ihrer Wahrnehmung. Frau Xavier neigte sehr zur Zerstreutheit. Der Treffpunkt war also nicht im Maracanã, sondern nur in der Nähe. Doch ihr kleines Schicksal hatte gewollt, dass sie sich im Labyrinth verlief.

Ja, da begann der Kampf aufs Neue und noch schlimmer: Sie wollte unbedingt nach draußen, aber sie wusste nicht, wie oder wo entlang. Und erneut tauchte im Korridor dieser Mann auf, der die anderen suchte und ihr erneut versicherte, dass er sie finden werde, sie könnten sich schließlich nicht in Luft aufgelöst haben. Genau so sagte er das: »Die Leute können sich nicht in Luft aufgelöst haben!«

Die alte Dame informierte ihn über die veränderte Lage: »Sie brauchen sich keine Mühe mehr zu machen, ja? Vielen Dank, ja? Wissen Sie, der Treffpunkt, an den ich kommen soll, ist gar nicht im Maracanã.«

Der Mann blieb abrupt stehen und musterte sie verblüfft: »Ja, was machen Sie dann überhaupt hier?«

Sie hätte ihm gerne erklärt, dass ihr Leben nun einmal so war, wusste jedoch nicht einmal, was sie damit sagen wollte, mit »nun einmal so« oder auch mit »ihr Leben«, und so antwortete sie gar nichts. Der Mann bestand auf seiner Frage, halb misstrauisch, halb vorsichtig: Was sie dann überhaupt dort mache? ›Nichts‹, antwortete nur in Gedanken die alte Dame, die inzwischen vor Müdigkeit fast umfiel. Aber sie gab ihm keine Antwort, sollte er ruhig glauben, sie sei verrückt. Außerdem erklärte sie sich grundsätzlich nicht. Sie wusste, dass der Mann sie für verrückt hielt – und wer sagte, dass das nicht auch zutraf? Hatte sie nicht dieses Gefühl, das sie aus Scham nur »das da« nannte? Wobei sie wusste: Ihre sogenannte geistige Gesundheit war so gut, dass man sie allenfalls noch mit ihrer körperlichen Gesundheit vergleichen konnte. Einer körperlichen Gesundheit, die inzwischen ziemlich angeschlagen war, denn nach all den Jahren schleppte sie sich nur noch so durchs Labyrinth. Ihren Kreuzweg. Sie trug ein Kleid aus schwerer Wolle und erstickte schwitzend in der unverhofften Hitze eines Hochsommers, dieses Sommertags, der ein Makel des Winters war. Die Beine taten ihr weh, taten weh von der Last des alten Kreuzes. Irgendwie hatte sie sich schon damit abgefunden, es nie mehr aus dem Maracanã-Stadion herauszuschaffen, sondern dort zu sterben, mit ausgeblutetem Herzen.

Da, und wie immer, ergab sich erst nachdem man das Gewünschte aufgegeben hatte, dass es eintrat. Denn ihr kam auf einmal ein Gedanke: ›Bin ich vielleicht eine kopflose Alte.‹ Warum hörte sie nicht auf, nach diesen Leuten zu fragen, die nicht hier waren, und suchte stattdessen den Mann und erkundigte sich bei ihm, wie man diese Korridore verlassen konnte? Denn sie wollte doch nur noch hinaus und niemanden mehr treffen.

Schließlich fand sie den Mann, als sie um eine Ecke bog. Und wandte sich mit leicht zitteriger Stimme an ihn, heiser vor Müdigkeit und der Angst, eine eitle Hoffnung zu nähren. Der Mann pflichtete ihr in seinem Misstrauen nur allzu bereitwillig bei, ja, das wäre das Beste, wenn sie nach Hause ginge, und dann sagte er behutsam zu ihr: »Sie scheinen ein bisschen verwirrt zu sein, vielleicht liegt es an dieser komischen Hitze.«

Sprach’s und trat dann einfach mit ihr in den ersten Korridor, und an der Ecke sah man schon zwei breite, offene Tore. Einfach so? Wirklich so leicht?

Ja, einfach so.

Die alte Dame dachte, ohne dass ihr deshalb etwas klar geworden wäre, dass es nur ihr persönlich unmöglich gewesen war, den Ausgang zu finden. Nun war Frau Xavier ein klein wenig erschrocken, aber gleichzeitig kannte sie das schon. Gewiss hatte jeder seinen eigenen endlosen Weg zurückzulegen, das war eben Teil des Schicksals, von dem sie nicht wusste, ob sie daran glaubte oder nicht.

Und da war das vorbeifahrende Taxi. Sie winkte und versuchte, ihre Stimme zu beherrschen, die immer älter und müder klang: »Junger Mann, ich weiß die Adresse nicht mehr, die habe ich vergessen. Aber ich weiß, das Haus liegt in der Soundsostraße, irgendwas mit ›Gusmão‹, und zwar an der Ecke zur, wenn ich mich nicht täusche, Coronel-Sonstnochwas.«

Der Fahrer war geduldig wie mit einem Kind: »Machen Sie sich mal keine Sorgen, wir suchen jetzt in Ruhe eine Straße mit Gusmão in der Mitte und Coronel am Schluss.« Er drehte sich um, lächelte und zwinkerte ihr verschwörerisch zu, es hatte etwas Unanständiges. Sie fuhren los, und mit jedem Ruckeln schüttelte es ihr die Eingeweide durch.

Da erkannte sie plötzlich die Leute, nach denen sie gesucht hatte, sie standen auf dem Gehsteig vor einem großen Gebäude. Doch ihr war, als wäre das Ziel, dort anzukommen, und nicht etwa, den Vortrag zu hören, der zu diesem Zeitpunkt vollkommen vergessen war, denn Frau Xavier hatte ihr Vorhaben aus dem Blick verloren. Sie wusste nicht, wofür sie so lange unterwegs gewesen war. Da sah sie, dass sie sich überanstrengt hatte, und wollte nur noch weg, der Vortrag war ein Albtraum. Sie bat eine Dame aus besseren Kreisen, die sie flüchtig kannte und die einen Wagen mit Chauffeur hatte, sie nach Hause bringen zu lassen, sie fühle sich bei dieser merkwürdigen Hitze nicht gut. Der Chauffeur sollte erst in einer Stunde kommen. Frau Xavier setzte sich auf einen Stuhl, den ihr jemand in den Korridor gestellt hatte, setzte sich aufrecht hin in ihrem engen Hüfthalter, fern der Kultur, die gegenüber verhandelt wurde, in dem geschlossenen Saal. Von wo sie keinen Laut hörte. Was kümmerte sie die Kultur. Und so saß sie dort in den...

Erscheint lt. Verlag 5.10.2020
Übersetzer Luis Ruby
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Todos os contos
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Annie Ernaux • Avantgarde • eBooks • Emanzipation • Feminismus • helen cixous • Lucia Berlin • Miranda July • Moderne • Neuer Feminismus • Nominierung Preis der Leipziger Buchmesse • SWR Bestenliste • Virginia Woolf
ISBN-10 3-641-26287-9 / 3641262879
ISBN-13 978-3-641-26287-7 / 9783641262877
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