Elmet (eBook)

Roman

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
320 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-22987-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Elmet -  Fiona Mozley
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Eine schmerzhaft schöne Familiengeschichte - preisgekrönt, bejubelt, berührend.
John Smythe ist mit seinen Kindern Cathy und Daniel aufs Land gezogen, nach Yorkshire, in die Wälder von Elmet. Dort hegen die drei den Traum von einem anderen, friedvollen Leben. Sie wohnen in einem Häuschen, das sie eigenhändig erbaut haben, mitten in der Natur, nicht weit von der Eisenbahnlinie Edinburgh-London entfernt. Nur manchmal muss der Vater fort zu illegalen Faustkämpfen. In diesen Zeiten, in denen es immer weniger Arbeit gibt im Norden Englands, der einzige Weg, um die Familie über Wasser zu halten. Doch dann steht eines Tages ein Mann vor der Tür, der behauptet, dass alles ihm gehört - der Wald, der Grund und Boden, das Häuschen, in dem sie leben. Ihn kümmert der Wald eigentlich nicht, er bewirtschaftet ihn nicht. Aber er pocht auf sein Recht.

Fiona Mozley wurde 1988 in Hackney bei London geboren. Sie studierte am King's College in Cambridge und lebt heute in York, im Nordosten Englands, wo sie im Little Apple Bookshop arbeitet. Das erste Kapitel von »Elmet« tippte Fiona Mozley auf einer Zugfahrt nach London in ihr Handy. Der Guardian nannte den Roman »ein Juwel«, der Economist »überwältigend und unvergesslich«. Er wurde u.a. mit dem Sunday Times Writer of the Year Award und dem Somerset Maugham Award ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Man Booker Prize.

EINS ankamen, war Sommer, die Landschaft stand in voller Blüte, die Tage waren lang und heiß und das Licht weich. Ich streifte ohne Hemd umher, schwitzte ordentlich und genoss die Umarmung der drückenden Hitze. Damals bekam ich Sommersprossen auf den knochigen Schultern, die Sonne ging gemächlich unter, und die Abende waren zinnern, bevor es dunkel wurde und dann der Morgen wieder durchkam. Auf den Feldern tollten Kaninchen, und wenn wir Glück hatten, wenn es windstill war und ein Schleier sich auf die Hügel legte, sahen wir einen Hasen.

Die Bauern erschossen die Schädlinge, und wir fingen in unseren Fallen Kaninchen, um sie zu verzehren. Aber nicht den Hasen. Nicht meinen Hasen. Es war ein Weibchen, das mit seiner Kinderschar in einem Bau im Schatten der Gleise lebte. Es war an die vorbeifahrenden Züge gewöhnt, und wenn ich es sah, war es stets allein, als hätte es sich unbemerkt aus dem Bau geschlichen. Es war selten, dass ein solches Geschöpf im Sommer seine Jungen verließ und über die Felder lief. Es suchte nach etwas. Nach Futter oder einem Männchen. Es suchte, als wäre es ein Jagdtier, als wäre es eine Häsin, die noch mal nachgedacht und beschlossen hatte, keine Beute zu sein, sondern selbst zu laufen und zu jagen, als wäre es eine Häsin, die von einem Fuchs gejagt worden war und eines Tages plötzlich haltgemacht und sich umgedreht hatte und nun ihrerseits den Fuchs jagte.

Was auch immer der Grund war, die Häsin war anders als alle anderen. Wenn sie losflitzte, konnte ich sie kaum sehen, doch blieb sie einen Augenblick stehen, war sie das regloseste Wesen im Umkreis von Meilen. Regloser als die Eichen und Kiefern. Regloser noch als die Felsen und Strommasten. Regloser als die Eisenbahngleise. Es war, als hätte das Tier die Erde gepackt und mit sich selbst in der Mitte festgenagelt und als wirbelten noch die ruhigsten, harmlosesten Orientierungspunkte wild herum, während alles, die ganze Szene, von seinem riesigen, runden, bernsteingelben Auge aufgesogen wurde.

Und wenn die Häsin durch und durch mythisch war, dann auch das Land, an dem sie scharrte. Inzwischen nur noch mit Baumgruppen gesprenkelt, war die gesamte Grafschaft einmal Waldland gewesen, und wenn der Wind blies, waren die Geister des alten Waldes zu hören. In der Erde wimmelte es von den Fetzen vieler Geschichten, die sich sammelten und verwesten und dann wieder Gestalt annahmen, sich aus dem Unterholz erhoben und wieder in unser Leben drangen. Geschichten von grünen Männern mit Beinen aus knorrigem Holz, die mit belaubten Gesichtern aus dem Dickicht spähten. Das Gebell halbverhungerter Spürhunde, die im Rennen hechelnd nach der sich wehrenden Beute schnappten. Robin Hood und seine Bande magerer Vagabunden, die pfiffen und kämpften und schmausten, so frei wie die Vögel, an deren Gefieder sie sich vergriffen. In einem breiten Streifen lief ein uralter Wald von Norden nach Süden. Keiler und Bären und Wölfe. Rehe, Böcke, Hirsche. Unmengen unterirdischer Pilze. Schneeglöckchen, Glockenblumen, Primeln. Die Bäume hatten längst Feldfrüchten Platz gemacht, und außer Weiden und Straßen, Häusern, Bahngleisen und kleinen Wäldchen wie unserem war nichts mehr übrig.

Daddy und Cathy und ich wohnten in einem kleinen Haus, das Daddy aus Materialien aus der Umgebung baute. Er suchte uns einen kleinen Eschenhain, zwei Felder von der Ostküsten-Hauptstrecke entfernt, weit genug, um nicht gesehen zu werden, nahe genug, um die Züge zu erkennen. Wir hörten sie zur Genüge: das Brummen und Sirren der Personenzüge, das Rackern und Knorzen der Güterzüge, die mit ihrer in gestrichenen Metalltanks verstauten Fracht vorbeiratterten. Sie hatten ihre eigenen Fahrpläne und Zeitabstände, zogen mit jeder Fahrt Wachstumsringe um unser Haus und hörten sich an wie Gebetsglocken. Die langen indigoblauen Adelantes und Pendolinos, die von London nach Edinburgh brausten. Die kleineren Züge, die mehr Jahre auf dem Buckel hatten und Rost an den ratternden Strombügeln. Alte Züge voller Arbeitspferde, die zum Abdecker tuckerten, sie fuhren für die neueren Gleise zu langsam und rutschten auf dem warmgewalzten Stahl wie alte Männer auf Glatteis.

Am Tag unserer Ankunft kam ein alter Soldat in einem Sattelschlepper den Hügel herauf, beladen mit Trümmersteinen von einem verlassenen Bauplatz. Der Soldat überließ das Abladen weitgehend Daddy, während er selbst auf einem frisch gefällten Baumstamm saß und eine Zigarette nach der anderen rauchte. Cathy drehte sie mit ihrem eigenen Tabak und Papier. Er beobachtete genau, wie sie sie zwischen den Fingern rollte und mit der Zunge über den Klebestreifen fuhr. Und er sah auf ihren rechten Schenkel, wenn sie den Tabaksbeutel darauf ablegte, und beugte sich mehrfach vor, um den Beutel zu nehmen, streifte Cathy mit der Hand und gab vor zu lesen, was auf der Packung stand. Jedes Mal bot er an, ihr die Zigarette anzuzünden. Streckte ihr die Flamme bereitwillig entgegen und war beleidigt wie ein Kind, wenn sie die Zigaretten selbst anzündete. Er sah nicht, dass sie die ganze Zeit, während sie seine Arbeit verrichtete, mürrisch dreinschaute und mit gerunzelter Stirn auf ihre Hände starrte. Er war außerstande, so in Gesichtern zu lesen, dass er es erkannt hätte. Er gehörte nicht zu den Leuten, die wissen, was Augen und Lippen ausdrücken, die sich vorstellen können, dass ein schönes Gesicht vielleicht keine schönen Gedanken umschließt.

Den ganzen Nachmittag redete der Soldat übers Militär und die Gefechte, an denen er im Irak und in Bosnien beteiligt gewesen war, davon, dass er gesehen habe, wie Jungen, nicht älter als ich, mit Messern aufgeschlitzt wurden, ihre Eingeweide von blassem Blau. Beim Erzählen dieser Geschichten hatte er nichts Düsteres. Den Tag über arbeitete Daddy am Haus, und abends gingen die beiden Männer den Hügel hinab, um den Apfelwein zu trinken, den der Soldat in einer Plastikflasche mitgebracht hatte. Daddy blieb nicht lange weg. Er trank nicht besonders gern, und außer meiner Schwester und mir hatte er nur ungern jemanden um sich.

Als er zurückkam, erzählte er uns, er habe sich mit dem Soldaten gestritten. Er hatte ihm eins auf die Rübe gegeben und eine blutende Risswunde am Daumen davongetragen.

Ich fragte, was den Streit ausgelöst habe.

»Er ist ein Mistkerl, Daniel«, sagte Daddy. »Er ist ein Mistkerl.«

Cathy und ich fanden das nur recht und billig.

Unser Haus war angelegt wie alle ebenerdigen Behausungen oder Wohnwagen an den Rändern einer Kleinstadt, wo alte Leute und arme Familien leben. Daddy war kein Architekt, doch er konnte einem grau-weißen Bauplan folgen, den er von der örtlichen Verwaltung beschafft hatte.

Aber unser Haus war stabiler als andere seiner Art. Es war aus besseren Ziegeln, besserem Mörtel, besseren Steinen und besserem Holz gebaut. Ich wusste, es würde viel länger stehen bleiben als die anderen Häuser an den in die Stadt führenden Straßen. Und es war schöner. Das grüne Moos und der Efeu aus dem Wald waren begieriger, nach seinen Wänden zu greifen, bereitwilliger, es in die Landschaft zurückzuholen. Mit jeder neuen Jahreszeit sah es älter aus, als es war, und je länger es da zu sein schien, desto länger würde es bleiben. Wie alle richtigen Häuser und jene, die sie ihr Zuhause nennen.

Sobald die Außenmauern errichtet waren, brachte ich Samen und Steckzwiebeln in die Erde, die da, wo Daddy die Grube für das Fundament gegraben hatte, noch offen war. Ich vergrößerte die Mulden und füllte sie mit Kompost und frischem Pferdemist. Den bekamen wir aus einem zwölf Kilometer entfernten Stall, wo kleine Mädchen in beigen Reithosen und glänzenden Lederstiefeln auf Ponys, einer beleuchteten Reitbahn folgend, ihre Runden ritten. Ich pflanzte Stiefmütterchen, Narzissen, Rosen in verschiedenen Farben und den Steckling einer weiß blühenden Kletterpflanze, die ich aus einer alten Trockensteinmauer hatte sprießen sehen. Es war zum Pflanzen die falsche Jahreszeit, aber manche Triebe kamen hervor, und im Jahr darauf waren es schon mehr. Bei einem richtigen Haus geht es ums Warten. Wir mussten es uns zu eigen machen, es Fuß fassen lassen, es wie uns selbst mit den Jahreszeiten, den Monaten und Jahren verbinden.

Kurz vor meinem vierzehnten Geburtstag kamen wir an. Cathy war gerade fünfzehn geworden. Es war Frühsommer, also hatte Daddy genug Zeit zum Bauen. Er wusste, er würde lange vor Anbruch des Winters fertig sein, und bereits Mitte September würden wir darin wohnen können. Bis dahin hausten wir in zwei ausrangierten Militärlastwagen, die Daddy von einem Dieb in Doncaster gekauft und auf Nebenstraßen und Feldwegen zu unserem Bauplatz gefahren hatte. Wir verbanden sie mit einem Stahlseil und spannten fachmännisch eine Plane, die uns Schutz bot. Daddy schlief in dem einen Wagen, Cathy und ich in dem anderen. Unter der Plane standen verwitterte Plastikgartenstühle und etwas später auch ein durchgesessenes blaues Sofa. Das war unser Wohnzimmer. Um unsere Becher und Teller abzustellen und an warmen Sommerabenden, wenn es außer Dasitzen, Reden und Singen nichts zu tun gab, die Füße hochzulegen, benutzten wir umgedrehte Kartons.

In den klarsten Nächten blieben wir bis zum Morgen draußen. Wir schalteten die Radios beider Wagen ein, und Cathy und ich tanzten auf der laubübersäten Erde zu unserer Stereoanlage im Wald, wohl wissend, dass kein Nachbar nahe genug wohnte, um es zu hören. Manchmal saßen wir auch da und sangen ohne die Radios. Jahre zuvor hatte Daddy für mich eine Blockflöte und für Cathy eine Geige gekauft. Als wir noch zur Schule gingen, bekamen wir kostenlosen Unterricht. Wir waren keine großen Könner, doch mit den Instrumenten, die wir hatten, klang es nicht schlecht. Daddy hatte eine gute Wahl...

Erscheint lt. Verlag 9.11.2020
Übersetzer Thomas Gunkel
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Elmet
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte btb SELECTION • eBooks • Einfaches Leben • England • Familiengeschichte • Gentrifizierung • Grundbesitz • Roman • Romane • Shortlist Man Booker Prize • Soziales Ungleichgewicht • Yorkshire
ISBN-10 3-641-22987-1 / 3641229871
ISBN-13 978-3-641-22987-0 / 9783641229870
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