Pause für Wanzka -  Alfred Wellm

Pause für Wanzka (eBook)

oder die Reise nach Decansar

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
312 Seiten
Hinstorff Verlag
978-3-356-02316-9 (ISBN)
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Der Kampf eines Lehrers um einen Schüler. Eigentlich will Gustav Wanzka sich zur Ruhe begeben, eine Reise antreten, zu sich kommen. Eigentlich. Denn die Frage, was habe ich im zurückliegenden Leben richtig gemacht, was falsch, kann er nicht verdrängen. Und so beginnt er sie aufzu- schreiben, die Geschichte des Lehrers Wanzka. Der Schulrat wurde und eines Tages doch noch mal zu unterrichten beginnt. Und der dabei viel lernen wird - über ein Bildungssystem, das die Kinder oft nicht im Auge hat, das nicht zurechtkommt mit unangepassten jungen Menschen. Deren Stärken vielleicht erkannt, aber damit noch lange nicht gefördert werden. 'Pause für Wanzka' gehört zu den wichtigsten und am meisten gelesenen DDR-Romanen. Auch wenn das bewegende Buch und sein Autor oft angefeindet wurden, waren Generationen von Leserinnen und Lesern von der Geschichte um den alten Schulrat mitgerissen. Nun erscheint die Neuauflage des Buches, das mit Kurt Böwe und Claudia Michelsen auch verfilmt wurde.

ERSTES KAPITEL


1 Ja, die Reise. Nun werde ich sie antreten, die Reise nach Descansar. Ich muß gestehen, daß eine unbändige Freude auf diese weite Reise in mir ist; und ich kann es mir nicht verzeihen, ich hab sie viel zu oft hinausgeschoben.

Es ist zehn Minuten nach vier – wie an allen Tagen, wenn ich wach werde. Die Fliegen summen, im wilden Wein draußen tschilpen die Sperlinge. Auf meinem Tisch dort steht ein Globus, beklebt, beschrieben; und der Nordpol liegt wohl wirklich im Stillen Ozean. Der Südpol wiederum … Nein, mit der Reise hat das nichts zu tun. Jemand hat den Globus eines Winters bunt beschrieben, nun steht der Globus drüben auf dem Tisch; es sieht nur lustig aus, daß der Nordpol im Pazifik ist.

Ich bleibe still liegen; denn ich will alles auskosten. Vielleicht, daß ein Buch umschlägt im Regal. Oder ein Ton klingt auf, und im Geigenkasten ist eine Saite gesprungen. Ich warte, warte – daß etwas geschieht. Warum um alles sollte ich nicht diese Reise machen! Ich habe keinen Hund, den ich versorgen müßte, die vier Blumentöpfe trage ich hinüber zu Frau Pegelow. Nein, ich habe keine Pflichten mehr. Das ist kaum zu begreifen; aber ab heute habe ich nur Zeit, undenkbar viel Zeit …

Für diesen Tag habe ich mir einiges vorgenommen. Doch morgen, morgen trete ich die langersehnte Reise an.

2 Die Straßen kommen mir vor, als ginge ich sie das erste Mal entlang, die Breitscheidstraße, der Töpferweg. Ich gehe wie ein Sommergast, ich bleibe stehen und sehe mir die Hausgiebel an. Auf dem First glitzert der Tau. Ich freue mich über die bunten Ziegelschuppen auf einem schmalen eingepferchten Dach.

Aber dann ist es acht, und der Fischladen wird geöffnet. Der Fischladen liegt vier Treppenstufen tiefer als die Straße.

„Bitte“, sage ich, „ich hätte gerne Aale. Fünf, sechs Aale, sagen wir, jeder ein gutes …“

Nicht einen Aal?

„Am Freitag könnte es sein“, sagt die Frau.

„Am Freitag … Aber ich muß sie unbedingt heute haben. Ich will sie nämlich räuchern“, erkläre ich. Die Frau hat Gummistiefel an und eine weiße Gummischürze.

Es sind grüne Heringe da, Barsche, Hechte und etwas Weißfisch. Ich lasse mir sieben Kilo Barsche in die Aktentasche schütten und einen dünnen Hecht dazu.

„Sie müssen den Hecht in Stücke schneiden, wenn Sie ihn räuchern wollen“, sagt die Frau.

Ich grüße und gehe hinaus. Wem sagt sie das!

Seit Wochen ist alles vorbereitet. Elf Drahtspieße, das Räucherfaß, zwei Arme mürbes Erlenholz, ein Beutelchen mit Kiefernäpfeln, die sich spreizen vor Trockenheit. Das Räucherfaß habe ich zwischen den Birnbäumen aufgestellt. Das Feuerloch ist ausgehoben, und der Rand ist sorgfältig abgedichtet. Auch zwei Säcke liegen bereit. Es ist kein Wind. Die Luft streicht durch den Garten und wischt nur den Tau aus dem Gras.

Ich stülpe den Eimer um und fange an, die Fische auszunehmen. Ich sehe, wie meine Hände sich erinnern, wie sie jede Bewegung wiederfinden. Ich reihe die Barsche auf die Spieße und hänge sie zum Trocknen in die Bäume. Den Hecht habe ich in sechs gleich große Stücke geschnitten.

Ich gehe zehnmal zu den Bäumen, ob die Fische trocken sind.

Dann sitze ich endlich im Gras und sehe dem Qualm zu, der breiig aus dem nassen Sackleinen sickert. Ich lausche, wie es leise bricht und knistert. Manchmal treibt der Rauch zu mir, und die Augen fangen mir an zu brennen. Das ist gut.

Die Phantasie, die kluge Gefährtin, bückt sich nach jedem Stück Wahrhaftigkeit, ehe sie sich an den Zauber macht.

Es riecht nach Kalmus, nach Schlick und jungem Schilf. Das Haffwasser schwätzt zwischen den Kähnen. Und der Rohrsperling spektakelt nebenan. Und ich bin nun wieder der Fischerjunge und liege barfuß vor der Räuchertonne, während der Heide an den Aalreusen hantiert, Maschen zurechtschneidet und sie wieder verknüttet. Ich sinne alten Träumen nach, wie ich selbst der Lilienthal bin und wie ich über den hohen Föhrenwald gesegelt komme. Ich gleite über das Dorf, und der Heide unter mir tritt verwundert zurück. Er schiebt die Netznadel in die Mütze und reckt und dreht sich, auf daß er mich genau verfolgen kann. Der Heide ist so klein dort unten; aber ich kann deutlich erkennen, wie sich ihm die Fältchen an den Augen ziehen, und daß sie ganz starr werden, vor Stolz und lauter Glück …

3 Der Heide war mein Großvater. Er hatte einen gelben Bart der über die Hälfte des Gesichts verdeckte. Und auch am Sonntag trug er die weißen Gummistiefel. Die Stiefel reichten ihm bis zum Leib.

Außer der Bibel hatte er drei dicke Lexikonbücher, Band elf, zwölf und Band fünfzehn. Und es sah sehr feierlich aus, wenn der Heide in ihnen las. Im Dorf wurde viel um die magischen Bücher geredet. Mir erklärte der Heide was eine Oase ist oder ein Orakel. Oder er trug mir auf, den Lehrer Bublitz zu befragen, wo Orosius Paulus geboren war. Der Lehrer kannte einen Paulus und etliche Briefe von ihm, aber er kannte nicht den Orosius Paulus, der römische Geschichte geschrieben und aus der spanischen Hafenstadt Tarragona stammte. Der Heide wußte alles, was es gab und was gewesen war, wenn es nur den rechten Anfangsbuchstaben hatte. Ich war der einzige, der in den großen Büchern blättern durfte. Ich sah mir dann die farbigen Tafeln an, die Papageien und die bunten Paradiesvögel.

Im Herbst, wenn es sonntags zur Kirche läutete, steckten wir zwei das Schlagnetz in den Sack und gingen auf Krähenfang. Der Heide trug den Sack, ich hatte die schwarze Henne unter dem Arm. Es gab etliche Lichtungen auf den Bergen am Haff, an denen wir unsere Krähenbuden hatten. Wir brauchten das Netz nur festzupflöcken und der schwarzen Henne die Brotwürfel hinzustreuen. Wir lagen in der engen Bude aus Fichtenzweigen, hielten beide das Zugseil fest und horchten, ob die Krähenschwärme tiefer kamen. Manchmal brachten wir an fünfzig Krähen mit ins Dorf.

Ich bin fünfundsechzig Jahre.

Eine Lokomotive, die ihre Zeit hinter sich hat. Sie ist gelaufen Jahr um Jahr. Es gibt neue Lokomotiven, Diesellokomotiven, es wird elektrifiziert …

Das Lokomotivenbeispiel gefällt mir nicht. Vor vier Jahren hatte ich rechts ein rheumatisches Reißen. Jetzt tut mir nichts weh. Nein, ich will auch nicht zugeben, daß es nun bessere Lehrer geben wird. Ich nehme drei Stufen auf einmal, ohne das Geländer zu berühren.

„Aber! Herr Wanzka!“

Frau Pegelow steht oben mit den Zeitungen. Und ich fasse schnell zum Geländer und gehe, wie es sich gehört.

„Der Herr Zabel war hier und der Herr Bartureit.“

„So.“

„Sie trugen etwas, aber es war eingewickelt.“

„Sie trugen etwas, nun ja.“

„Sie sagten, daß sie wiederkommen werden. Sie wollen es persönlich überreichen.“ Und sie hätten gestern eine volle Stunde im Lehrerzimmer gewartet und gewartet; nein, sie hätten sich das alles nicht erklären können.

„Haben sie gesagt, wann sie kommen werden?‘‘

„Nein‘‘, sagt Frau Pegelow und überlegt. „Nein, das sagten sie nicht.“

Ich habe mir zwei Bücher mitgebracht. Und eine Pfeife und ein Bündel Pfeifenreiniger. Vor vierzig Jahren habe ich einmal geraucht, dann nicht mehr. Aber die Pfeife gefiel mir, und ich stellte es mir gut vor, während der Fahrt ein neues Buch zu lesen und dabei Pfeife zu rauchen.

Nun tu ich alles überstürzt. Eine Schlafdecke nehme ich mit, Proviant, Tabak, Streichhölzer.

Und wieder steht Frau Pegelow auf der Treppe. „Also reisen Sie nun nicht nach Descansar?“

„Nach Descansar? Natürlich reise ich nach Descansar! Warum sollte ich nicht nach Descansar reisen?“ frage ich zurück. „Sie hören doch, ja, ich reise ein paar Tage später.“

Ich spüre Frau Pegelows Blick hinter mir, bis ich die große Tür geschlossen habe.

4 Die lange Nacht sind die Grillen zu hören. Die Sterne glimmen zwischen den schwarzen Kiefernästen. Ich liege weich und warm im Moos und denke an nichts. Und wenn, dann denke ich, daß es nun Sommer ist und Nacht und daß ich hier so liege und höre, wie die Grillen zirpen. Am Himmel steht die Kassiopeia, und es stört mich nur etwas, daß jenes große W so unterschiedliche Winkel hat. Das ist so geringfügig. Sonst stört mich nichts. Es wird zwei, und die Vögel fangen an zu singen. Ich habe nicht...

Erscheint lt. Verlag 1.3.2020
Verlagsort Rostock
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte DDR-Roman • Hinstorff Verlag • Mecklenburg-Vorpommern • Regionalität • Schülerinnen und Schüler • Schulleben
ISBN-10 3-356-02316-0 / 3356023160
ISBN-13 978-3-356-02316-9 / 9783356023169
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