Das Licht hinter den Bergen (eBook)

Roman
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2020 | 1. Auflage
280 Seiten
edition bücherlese (Verlag)
978-3-906907-37-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Licht hinter den Bergen -  Thomas Röthlisberger
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Die Welt gerät aus den Fugen, sagt der Lehrer, als Deutschland 1939 in Polen einmarschiert. In der Schweiz, in einem Hochtal in Graubünden, wo Anton Marxer seit Jahren unterrichtet, sind die Grenze und das Ausland nahe, aber Polen weit weg. Und doch dringt das Weltgeschehen in das Tal ein, ins Schulhaus über dem Dorf, wo der Vierzigjährige seine Frau pflegt, die einen Hirnschlag erlitten hat. Eines Abends steht eine fremde junge Frau vor der Tür: Anna Schwarz. Sie ist aus dem Vorarlbergischen geflu?chtet und nachts u?ber den alten Säumerpass gekommen, nachdem man ihren Mann deportiert und auf der Flucht erschossen hat. Marxer nimmt die Frau auf, widerwillig, und versucht zuerst, ihre Anwesenheit vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Natürlich ist das auf Dauer nicht möglich. Die Ehefrau merkt es, die Haushälterin, die den Lehrer bei der Pflege und im Haushalt unterstützt, und sehr rasch auch die Schüler. Marxer ist hin- und hergerissen zwischen Pflicht und Gewissen.

Thomas Röthlisberger, geboren 1954, lebt in Bern. Seit 1991 hat er mehrere Romane und Erzählungen sowie Lyrik veröffentlicht. Zuletzt erschienen sind nur die haut schützt den schläfer (Gedichte, 2009), Zuckerglück (Roman, 2010) und Die letzten Inseln vor dem Nordpol (Erzählungen, 2014). Für seine Lyrik ist der Autor mehrfach ausgezeichnet worden.

Thomas Röthlisberger, geboren 1954, lebt in Bern. Seit 1991 hat er mehrere Romane und Erzählungen sowie Lyrik veröffentlicht. Zuletzt erschienen sind nur die haut schützt den schläfer (Gedichte, 2009), Zuckerglück (Roman, 2010) und Die letzten Inseln vor dem Nordpol (Erzählungen, 2014). Für seine Lyrik ist der Autor mehrfach ausgezeichnet worden.

2


Unten im Tal blinkten noch einige Lichter und zeigten an, wo das Dorf lag. Sie verließ den Weg, kletterte den Hang hinauf und kroch unter eine Tanne, deren ausladende Äste bis fast zu den Wurzeln reichten. Die Wärme des Tages hatte sich unter diese schützenden, dunklen Arme zurückgezogen, und es war, als liege auf dem von Nadeln bedeckten Boden die noch nicht völlig erkaltete Asche einer ausgetretenen Feuerstelle.

Ihr Atem ging stoßweise. Bereits eine Stunde war sie den Hang hinaufgestiegen. Sie musste sich ausruhen. Obwohl die Furcht, die stetige Begleiterin, dies kaum zuließ. Nun war sie schon den dritten Tag unterwegs.

»Anna, du musst fliehen!«, hatte Magda sie beschworen. »Du bist die Nächste, die sie holen!«

»Ich habe die Kraft nicht«, hatte sie geantwortet. »Nicht mehr. Wozu sollte mein Leben noch gut sein?«

»Du kannst dein Leben doch nicht einfach wegwerfen!«, hatte Magda zornig gesagt.

Aber sie hatte nur den Kopf geschüttelt. Sie hatte alles verloren. Josef und das Kind, ihr einziges.

»Ich habe alles verloren, was es zu verlieren gab.«

»Das Leben ist noch nicht vorbei – geh, Anna! Nicht für dich. Geh! Mir zulieb …«

Magda hatte sie davon abgehalten, den naheliegenden Fluchtweg nachts über den Rhein zu wagen. Die Schweizer Grenze wurde gut bewacht. Und in den Sümpfen des Riedlandes konnte man sich nicht nur verirren. Auch wenn tagsüber die Hügel des Appenzellerlandes mit Händen greifbar schienen, hatte Magda ihr geraten, den beschwerlicheren Weg hinauf durch das Montafon und über einen der alten Säumerpässe zu wählen.

Langsam beruhigte sich ihr Puls. Sie konnte den Bergweg unter sich sehen und würde jede Bewegung sofort bemerken, falls jemand heraufgestiegen käme. Hier unter dem dunklen Dach der Äste blieb sie unsichtbar. Sie öffnete die Tasche und kaute an der hart gewordenen Rinde des letzten Stücks Brot. Proviant hatte sie nur ganz wenig mitnehmen können, Brot, Hartkäse, zwei Äpfel, eine Flasche mit Lindenblütentee. Sie hatte gewusst, es würde nicht reichen, auch bei strengster Einteilung nicht. Hätte sie genügend Verpflegung mit sich geführt, für mehrere Tage, hätte eine Kontrolle fatale Folgen haben können.

»Kein Gepäck!«, hatte Magda gesagt. »Nur eine Tasche, als ob du zu Besuch fährst. Und die Fahrkarte hin und zurück.«

Sie war froh gewesen, jemand zu haben, der für sie dachte. Die einfachsten Dinge hätte sie falsch gemacht. Wäre der Spinne ins Netz gelaufen und hätte sich darin verheddert, noch ehe der erste Tag um war.

»Trau niemand, schließ dich niemand an! Verlass dich nur auf dich selbst!«

Vorgestern hatte Magda sie ein letztes Mal umarmt.

»Du schaffst das!«

»Und wenn man nach mir fragt?«

»Wir werden einfach sagen, du bist nach Innsbruck gefahren, um deine betagten Eltern zu besuchen.«

»Aber meine Eltern …«

»Sind in Graz, ich weiß. Aber das werden wir denen doch nicht haarklein erzählen, Liebes.«

»Und dein Mann?«

»Weiß hoffentlich, was er tut.«

Magdas Mann war bereits vor dem Anschluss ans Reich in die Partei eingetreten. Er musste sich Vorteile ausgerechnet haben. Ihr gegenüber war er immer höflich gewesen. Trotzdem hatte Magda sie nur mit Mühe davon überzeugen können, dass er mit Josefs Verhaftung nichts zu tun hatte. Dass er ihn im Gegenteil gewarnt hatte. Aber Josef hatte ihm nicht geglaubt. Er hatte sich doch stets korrekt benommen, sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Was sollten sie gegen ihn vorzubringen haben? War es nur schon, weil er sich bisher aus allem herauszuhalten versucht hatte? Dass seine Großmutter mütterlicherseits jüdische Wurzeln gehabt hatte, erfuhr sie nicht erst, als die Behörde sie vorlud und ihr mitteilte, Josef Schwarz, ihr Ehemann, sei während des Transports in ein Lager bei einem Fluchtversuch erschossen worden. Aber sie hatte es verdrängt.

Sie hatten sich nur kurz umarmt. Sie hatte Magdas fülligen Körper gespürt, der Halt bot, der fest verankert schien auf dem Boden, im Leben. In diesem Augenblick hatte sie ihre eigene Schmächtigkeit, ihre Unsicherheit viel deutlicher wahrgenommen. Sie hätte so stehen bleiben wollen, gehalten, in die Berührung des fremden menschlichen Körpers versunken. Aber Magda wollte keine Rührung aufkommen lassen. Behutsam hatte sie Annas Hände gelöst und war einen Schritt zurückgetreten.

»Morgen«, hatte sie gesagt. »Mit dem Frühzug.«

Und Anna hatte genickt.

Die Flasche war leer. Der Tee war schon am Vortag zur Neige gegangen, und sie hatte die Flasche an einem Brunnen mit Wasser aufgefüllt. Sie stand auf, geduckt unter den tief hängenden Ästen, wischte die Tannennadeln vom Kleid und hängte die Tasche um. Lange horchte sie in die Nacht, bevor sie ihr Versteck verließ und hinunterstieg auf den Weg.

Der Wald wurde dichter. Nur einmal noch sah sie die erleuchteten Fenster des Hotels und die Lampen, die unten bei der Zollwache brannten. Durch die Nebeldecke schimmerte das kränkliche Weiß des abnehmenden Mondes, der nur noch eine magere Sichel war. Es gab kein Licht, es gab nur Schatten, hellere und dunklere.

Die Geräusche aus dem Tal waren verstummt. Hier oben war es still, beinahe beängstigend still. Sie erschrak jedes Mal, wenn ihr Fuß an einen Stein stieß, der auf dem Weg lag, und sie ihn durch ihre Unachtsamkeit ins Rollen brachte. Wenn er dann ein paar Meter den Weg hinunterkollerte, bis er endlich liegen blieb, wurde das in ihren Ohren zu einem Getöse, das nicht unbemerkt bleiben konnte. Die Steine schrien geradezu: Hier ist sie, hier geht sie, die ihr sucht! Hierher, hierher, holt sie euch!

Sie suchte die Nähe eines Baumes, blieb stehen, lauschte. Nichts geschah. In den Wipfeln bewegte ein leiser Nachtwind die Zweige. Am Hang zwischen den Stämmen raschelte ein Nager. Einmal erstarrte sie, als ein großer Schatten aus der Höhe herabstieß, fast geräuschlos. Eine Maus piepste. Dann vernahm sie wieder ihren eigenen Atem. Versuchte, dem Zittern Herr zu werden. Befahl den Füßen, weiterzugehen. Stieg höher.

Genauso schlugen sie zu. Stießen herab, aus dem Nichts. Ein Piepsen. Ein Röcheln. Zu mehr kam das Opfer nicht. Sie war die Maus. Sie hatte Angst. Warum hatte sie Angst? Hatte sie nicht zu Magda gesagt, ihr Leben sei wertlos geworden? Wenn sie aber Angst hatte, hieß das doch, dass sie leben wollte.

Hatte Josef Angst gehabt? Ja, sicher hatte er Angst gehabt! Sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie groß seine Angst gewesen sein musste. Und dann hatten sie ihn erschossen. Auf der Flucht. Von hinten, in den Rücken.

Sie war schwach. Was war ihre Angst schon gegen die seine?

»Männer erschießen sie einfach«, hatte Magda gesagt. »Aber junge Frauen, die erschießen sie erst nachher.«

Sie hatte das letzte Wort so betont, dass Anna nicht nachfragen musste. War es das, was ihr Angst machte? Das, was vor dem Sterben kam?

Schritt für Schritt zwang sie sich weiter. Stolperte über einen Ast, der quer über dem Weg lag. Hob ihn auf. Er fühlte sich an wie ein geschnittenes Haselholz. Als hätte jemand seinen Wanderstock verloren. Sie nahm ihn mit, war froh, sich an etwas festhalten zu können. Und vielleicht würde er ihr noch von Nutzen sein, oben in den Steilhängen. Sie wusste ja nicht genau, wie der Pfad über den Pass verlief. Ob bereits der erste Schnee gefallen war.

Sie war in den Frühzug nach Innsbruck gestiegen. Ihr gegenüber saß eine ältere Frau, die ihr freundlich zunickte, als sie sich setzte. Um nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden, schloss Anna gleich die Augen und ließ den Kopf nach kurzer Zeit im Takt der Schienenstöße wippen, als döse sie. Aufgeregt wie sie war, hatte sie in der vorangegangenen Nacht kein Auge zugetan. Sie war erschöpft, aber nicht müde. Jedenfalls bestand keine Gefahr, dass sie tatsächlich einschlief.

Nach Feldkirch, wo wieder Leute zugestiegen waren, kam der Schaffner. Hinter ihm war noch ein anderer ins Abteil getreten. Ein Uniformierter. Sie streckte dem Schaffner ihre Rückfahrkarte hin. Dem Blick des anderen wich sie aus. Der Schaffner gab ihr das Billett zurück und wandte sich den übrigen Reisenden zu.

»Sind Sie Jüdin?«

Sie blickte auf. Der Uniformierte hatte sich vor ihr aufgepflanzt.

»Ja, Sie!«

»Ich bin Österreicherin«, sagte sie.

»Das habe ich Sie nicht gefragt!«

»Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«

Sie versuchte das Zittern in...

Erscheint lt. Verlag 19.3.2020
Verlagsort Luzern
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1939 • Belletristik • Flucht • Fremdsein • Graubünden • Historischer Roman • Migration • Schweiz • Solidarität • Thomas Röthlisberger • Weltgeschichte • Weltkrieg • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-906907-37-6 / 3906907376
ISBN-13 978-3-906907-37-6 / 9783906907376
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