Cowboygräber (eBook)

Drei Erzählungen

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
192 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26730-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Cowboygräber - Roberto Bolaño
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'Ein Wunder ist jeder Fund, mit dem Bolano aufs Neue berückt.' (Süddeutsche Zeitung) - Drei einzigartige Erzählungen aus dem Nachlass von Roberto Bolano, dem Autor von '2666'
''Du hast gekündigt, aber was willst du stattdessen machen?', fragte mein Vater. 'Die Revolution', sagte ich. 'Welche Revolution denn?'' 1973 macht sich der 20-jährige Arturo Belano auf den Weg von Mexiko nach Chile mit nur einem Ziel: die linke Revolution Allendes zu unterstützen. Ob Bolaño von Arturos Schiffsreise nach Valparaiso erzählt, ob von der idyllisch-finsteren Fahrt zweier Liebender in einem VW-Käfer durch den Süden Chiles oder von einer Sonnenfinsternis in Guyana, die zum geheimnisvollen Vorboten einer surrealistischen Untergrundliga wird: Diese drei Erzählungen sind kleine Meisterwerke zwischen Albtraum und Euphorie, voll Abgründen und Witz - die letzte große Entdeckung aus Bolaños Werk.

Roberto Bolaño, 1953 in Chile geboren und nach dem Militärputsch von 1973 inhaftiert, ging ins Exil nach Mexiko und 1976 nach Spanien. 2003 starb er in Barcelona. Er erhielt zahlreiche Literaturpreise, darunter den National Book Critics Circle Award für die amerikanische Ausgabe seines Romans 2666. Bei Hanser erschienen zuletzt die Romane 2666 (2009), Lumpenroman (2010), Das Dritte Reich (2011) und Die Nöte des wahren Polizisten (2013) sowie der Erzählungsband Mörderische Huren (2014) und der Gedichtband Die romantischen Hunde (2017).

1.  Der Flughafen


Ich heiße Arturo, und das erste Mal einen Flughafen gesehen habe ich im Jahr 1968. Im November oder Dezember, vielleicht auch schon in den letzten Oktobertagen. Ich war fünfzehn damals und wusste nicht, ob ich Chilene oder Mexikaner war, machte mir darüber aber keine allzu großen Gedanken. Wir wollten nach Mexiko, um mit meinem Vater zusammenzuleben.

Zweimal versuchten wir fortzugehen, der erste Versuch schlug fehl, der zweite hatte Erfolg. Beim ersten Anlauf unterhielten sich meine Mutter und meine Schwester gerade mit meiner Großmutter und zwei oder drei anderen Leuten, deren Gesichter ich komplett vergessen habe, als sich mir ein Unbekannter näherte und mir ein Buch in die Hand drückte. Ich weiß noch, dass ich ihm ins Gesicht schaute, von unten herauf, weil er sehr groß war und hager, und dass er mir zulächelte und mich mit einem Nicken (er sagte die ganze Zeit kein Wort) ermunterte, sein unverhofftes Geschenk anzunehmen. Auch sein Gesicht habe ich vergessen. Er hatte leuchtende Augen (manchmal allerdings trug er in meiner Erinnerung eine schwarze Sonnenbrille, die nicht nur seine Augen verbarg, sondern auch einen Großteil seines Gesichts) und eine makellos rasierte, bis zu den Ohren glatt gespannte Haut. Im nächsten Moment war der Typ verschwunden, und ich erinnere mich, wie ich auf einem der Koffer saß und das Buch las. Es war ein Handbuch über Zivilflughäfen in aller Welt. Ich erfuhr darin, dass ein Flughafen über Hangars verfügt, die an die verschiedenen Fluggesellschaften vermietet werden und der Unterbringung und Instandhaltung der Maschinen dienen, dass sie Abflughallen haben, aus denen die Passagiere über Flugsteige zu den wartenden Flugzeugen gelangen, eine Wetterstation, einen Kontrollturm von üblicherweise mehr als 35 Metern Höhe, Rettungsdienste, deren Spezialeinheiten auf dem Rollfeld stationiert sind und vom Tower aus gelenkt werden, einen Windsack zur örtlichen Bestimmung der Windrichtung, der, wenn er waagerecht steht, eine Windgeschwindigkeit von 25 bis 30 Knoten anzeigt, ein Gebäude für die Flugabfertigung, in dem sich die zentralen Flugplanungsbüros befinden, ein Gepäckverladezentrum, Geschäfte, Restaurants und eine Polizeistation, in der man durchaus auf einen oder mehrere Interpol-Beamte stoßen kann. Kurz darauf nahmen wir Abschied von den Leuten, die uns zu diesem Zweck zum Flughafen begleitet hatten, und stellten uns in die Schlange zum Einsteigen. Das Buch steckte in meiner Jackentasche. Dann wurde über Lautsprecher der Name meiner Mutter ausgerufen. Ich glaube, der ganze Flughafen hörte ihn. Die Schlange geriet ins Stocken, die Passagiere sahen sich gegenseitig an und hielten Ausschau nach der Frau, die man suchte. Auch ich sah mich suchend um, aber weil ich wusste, wen ich suchen musste, schaute ich direkt meine Mutter an, was getan zu haben, ich mich bis heute schäme, wo ich dies schreibe. Die Reaktion meiner Mutter war übrigens ziemlich einzigartig: Sie tat völlig unbeteiligt, blickte sich sogar ihrerseits um, als suchte sie nach der ausgerufenen Person, nur weniger intensiv als die anderen Passagiere des Flugs Santiago—Lima—Quito—Mexiko DF. Einen Augenblick dachte ich, sie würde damit durchkommen und dass das Unvermeidliche, wenn sie es nicht akzeptierte, auch nicht eintreten werde, dass man also nur weiter in Richtung Flugzeug zu gehen brauchte, nur die Lautsprecherdurchsage ignorieren musste, damit die Stimme es leid wurde, nach ihr zu suchen, oder immer noch nach ihr suchen würde, wenn wir schon längst auf dem Weg nach Mexiko waren. Dann rief die Stimme sie erneut aus, und diesmal nannte sie zusätzlich zu ihrem Namen auch den meiner Schwester (die erst erbleichte und dann rot anlief wie eine Tomate) und meinen. Ich glaube, ich sah von fern, jenseits der Schlange zum Einsteigen, durch Glasscheiben von uns getrennt, meine Großmutter, die uns mit ängstlichem Gesicht oder hochrotem Kopf Zeichen machte und aus unerfindlichen Gründen auf die Uhr an ihrem linken Handgelenk deutete, als wollte sie sagen, es sei höchste Zeit oder schon zu spät. Dann erschienen zwei Beamte von Interpol und forderten uns nicht gerade höflich auf, ihnen zu folgen. Meine Mutter hatte uns kurz zuvor gesagt, keine Panik, Kinder, und als wir jetzt den Polizisten folgen mussten, sagte sie das erneut und fragte (scheinbar die Polizisten, die uns eskortierten, in Wirklichkeit aber niemand Bestimmten), was das für ein Skandal sei und dass man sich hüten solle, sie aufzuhalten, wir würden den Flieger verpassen. Typisch meine Mutter.

Meine Mutter war Chilenin, mein Vater Mexikaner, ich bin in Chile geboren und habe mein Leben lang in Chile gelebt. Der Umzug aus unserem Haus in das meines Vaters machte mir möglicherweise mehr Angst, als ich zugeben mochte. Außerdem ließ ich bei meinem Fortgang Vieles unerledigt. Ich hatte, bevor ich fortging, noch versucht, Nicanor Parra zu treffen. Ich hatte versucht, mit Mónica Vargas zu schlafen. Daran erinnere ich mich jetzt und knirsche mit den Zähnen, vielleicht erinnere ich mich auch nur an mich selbst und sehe mich mit den Zähnen knirschen. Damals waren Flugzeuge etwas Gefährliches und gleichzeitig das große Abenteuer, das wahre Reisen, aber ich hatte dazu keine eigene Meinung. Keiner meiner Lehrer war je geflogen. Keiner meiner Schulkameraden. Einige hatten schon ihr erstes Mal gehabt, aber geflogen war noch keiner. Meine Mutter sagte regelmäßig zu uns, Mexiko sei ein wunderbares Land. Bislang hatten wir immer in kleinen Provinzhauptstädten im Süden Chiles gelebt. Santiago, wo wir einige Tage blieben, bevor wir die Reise antraten, kam mir vor wie eine Metropole der Träume und Alpträume. Warte, bis du Mexiko-Stadt kennenlernst, sagte meine Mutter. Manchmal imitierte ich die mexikanische Art zu sprechen, imitierte die Art, wie mein Vater redete (obwohl ich mich kaum an seine Stimme erinnern konnte) und wie die Typen in den mexikanischen Filmen redeten. Ich imitierte Enrique Guzmán und Miguel Aceves Mejía. Meine Mutter und meine Schwester lachten sich schief, und auf diese Weise vertrieben wir uns an langen Winterabenden die Zeit, wobei ich das zuletzt nicht mehr so witzig fand wie am Anfang und mich schließlich verdrückte, ohne zu sagen, wohin. Ich ging gern in der Natur spazieren. Einmal besaß ich ein Pferd. Es hieß Zafarrancho. Mein Vater hatte das Geld geschickt, damit man es mir kaufte. Wo wir damals wohnten, weiß ich nicht mehr, vielleicht in Osorno, vielleicht in der Gegend von Llanquihue. Ich erinnere mich, dass unser Haus einen Patio hatte, mit einem Schuppen, der vom früheren Mieter als Werkstatt genutzt worden war und in dem wir eine Art Stall für mein Pferd einrichteten. Wir hatten Hühner, zwei Gänse und einen Hund, Duque, der mit Zafarrancho bald dick befreundet war. Jedenfalls sagten meine Mutter oder Celestina immer, wenn ich mit dem Pferd ausritt: Nimm Duque mit, er wird dich beschützen und dein Pferd beschützen. Lange Zeit (fast mein ganzes Leben lang) wusste ich nicht, was sie damit sagen wollten, vielleicht interpretierte ich ihre Worte auch falsch; Duque war ein großer Hund, aber immer noch kleiner als ich und viel kleiner als mein Pferd. Er besaß die Größe eines Deutschen Schäferhunds (war aber alles andere als ein Rassehund), hatte weißes Fell mit hellbraunen Flecken und Schlappohren. Manchmal verschwand er für mehrere Tage von zu Hause, und dann verbot mir meine Mutter kategorisch, mit dem Pferd auszureiten. Nach drei oder längstens fünf Tagen tauchte er wieder auf, magerer denn je, mit einem kühischen Gesichtsausdruck und solchem Durst, dass er imstande war, einen halben Eimer Wasser auszutrinken. Vor kurzem träumte ich während eines nächtlichen Bombardements, das am Ende nicht über ein militärisches Geplänkel hinauskam, von Duque und Zafarrancho. Beide waren tot, und ich wusste das. Duque, Zafarrancho, sagte ich zu ihnen, kommt her und schlaft doch bei mir, es gibt Platz genug. Mit meiner Traumstimme (dass ich träumte, begriff ich sofort, ohne aufzuwachen) imitierte ich den chilenischen Akzent, so wie früher immer den der mexikanischen Filme. Das war aber unwichtig. Wichtig war nur, dass mein Hund und mein Pferd aus freien Stücken in mein Zimmer kamen und dass sie die Nacht bei mir verbrachten.

Meine Mutter war eine schöne Frau. Sie las viel. Mit zehn hielt ich sie für den belesensten Menschen in dem Ort, in dem wir lebten, wo immer das auch gewesen sein mochte, obwohl sie in Wirklichkeit nie mehr als fünfzig Bücher besaß und ihre eigentliche Vorliebe den Zeitschriften für Esoterik oder Mode galt. Sie kaufte die Bücher im Versandhandel, was, glaube ich, auch der Grund war (anders kann ich es mir nicht vorstellen), warum wir die Gedichte und Antigedichte von Nicanor Parra ins Haus bekamen. Ich nehme an, dass jemand es irrtümlich der Büchersendung meiner Mutter...

Erscheint lt. Verlag 20.7.2020
Übersetzer Luis Ruby, Christian Hansen
Sprache deutsch
Original-Titel Sepulcros De Vaqueros
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2666 • Allende • Chile • Die wilden Detektive • Erzählungen • Familiengeschichte • Lateinamerika • Mexiko • Nachlass • #ohnefolie • ohnefolie • persönlich • Pinochet • Putsch • Revolution • Schiffreise • Südamerika • surreal • Untergrund • Valparaiso • VW Käfer • Witz
ISBN-10 3-446-26730-1 / 3446267301
ISBN-13 978-3-446-26730-5 / 9783446267305
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