Schlagabtausch (eBook)
256 Seiten
Verlag Klaus Wagenbach
978-3-8031-4272-6 (ISBN)
Ivan Vladislavic' wurde 1957 in Pretoria, Südafrika, geboren. Seit den siebziger Jahren lebt er in Johannesburg. Er arbeitete jahrelang als Lektor des oppositionellen Verlags Ravan Press und gab das Literatur- und Kulturmagazin 'Staffrider' mit heraus. Er schreibt Essays, Romane, Erzählungen und Texte zu Kunst und Architektur. Für sein literarisches Schaffen erhielt der Autor zahlreiche Ehrungen, darunter den renommierten Windham-Campbell Literature Prize. Zwei seiner Bücher erschienen auf Deutsch im A1-Verlag.
Ivan Vladislavic' wurde 1957 in Pretoria, Südafrika, geboren. Seit den siebziger Jahren lebt er in Johannesburg. Er arbeitete jahrelang als Lektor des oppositionellen Verlags Ravan Press und gab das Literatur- und Kulturmagazin "Staffrider" mit heraus. Er schreibt Essays, Romane, Erzählungen und Texte zu Kunst und Architektur. Für sein literarisches Schaffen erhielt der Autor zahlreiche Ehrungen, darunter den renommierten Windham-Campbell Literature Prize. Zwei seiner Bücher erschienen auf Deutsch im A1-Verlag.
2
Lehrstunden
Befestigt man mehrere Haken an einer Lotschnur und prüft damit Tiefe wie Boden auf das Vorhandensein von Gras oder Schlamm, kann man schnell die Schlammbänke finden. Eric Willsden fing am Sonntag in Meerhof einen 5-Kilo-Spiegelkarpfen.
Pretoria News, Juni 1971
Branko
Joe Frazier stirbt am 7. November 2011 an Leberkrebs. Es kommt in den Nachrichten, es steht in den Zeitungen, es ist überall im Internet.
Einige Tage später ruft Joe mich an. Er klingt ganz aufgelöst. Möglich, dass er wieder auf offener Straße ausgeraubt worden ist, denke ich. Er zieht Scherereien an wie ein Magnet, ihm stoßen andauernd schreckliche Dinge zu. Aber nein, es geht um ein Problem mit seiner ›Arbeit‹, und mit Arbeit meint er ›Schreiben‹, als ob alles andere Muße wäre. Wir müssen reden, sagt er. Normalerweise bin ich nicht derjenige, den er um eine Einschätzung bittet, und überhaupt: Es ist nicht der richtige Augenblick. Mein Mach-ich-auf-den-letzten-Drücker-Sohn Jordan – wir dachten an Louis, die Leute immer nur an Michael – produziert einen Film auf seinem Laptop, ein Mash-Up (seine Bezeichnung) von Pulp Fiction mit irgendetwas anderem wahrscheinlich, und ich habe versprochen, ihm heute Nachmittag ein bisschen beim Ton zu helfen. Ich bin neugierig und will wissen, was dabei rauskommt, wenn man Mash vermanscht: Mus? Die jüngste Krise meines Bruders interessiert mich allerdings noch mehr.
Er taucht mit einem Pappkarton mit dem Aufdruck ›Pres-Les‹ auf. Während ich mich zu erinnern suche, wo ich den schon mal gesehen habe, packt er ihn auf dem Esszimmertisch aus. Die Ali-Alben! Es ist dreißig Jahre her, dass ich sie zuletzt gesehen habe. Wir blättern das erste durch. Das heißt: Er blättert, und ich sehe zu. Viele Zeitungsausschnitte haben sich gelöst, und er achtet darauf, dass sie nicht durcheinanderkommen, schiebt die Handfläche unter das Transparentpapier und wendet sie zärtlich wie ein Archivar einen Satz seltener Drucke. Nur die weißen Baumwollhandschuhe fehlen. Die losen Ausschnitte hat er mit Bleistift gekennzeichnet, um zu markieren, wohin sie gehören: Die Ziffern und Stichwörter in den Ecken der Zeitungsausschnitte passen zu denen zwischen den braunen Klebebandnarben. Warum sich die Mühe machen, in diesem Ramsch Ordnung zu halten?
Ich setze zu einer Frage an, aber er schneidet mir das Wort ab wie ein strenger Bibliothekar. ›Schau hin!‹ Sieh es dir einfach an. Das Archiv wird alles klarstellen.
Das Archiv! Aha. Hier taucht ein unglaubwürdiger kleiner Bericht mit der Überschrift ›Als Roter vereinnahmt‹ auf, in dem steht, dass die sowjetische Nachrichtenagentur TASS dem Kampf des Jahrhunderts lediglich einige Zeilen gewidmet und nur darauf hingewiesen hat, dass der Negersportler Cassius Clay, auch Muhammad Ali genannt, einen Kampf gegen Joe Frazier nach Punkten verloren hat. Dort findet sich oberhalb der Überschrift ›Ali sagt, er ließ Gnade walten‹ ein Foto, das Ali zeigt, wie er Jimmy Ellis boxt. Und ein anderes, das nach dem Kampf aufgenommen wurde, mit der Überschrift ›Cassius fletscht die Zähne‹. Im darunterstehenden Artikel: Cassius Clay sagt, dass er ein Visum für einen Besuch in Südafrika erhalten hat. Regierungssprecher in Pretoria behaupten aber, dass kein Antrag des Boxers vorliege. Daran erinnere ich mich nicht. Ist er tatsächlich in Südafrika gewesen? Bevor ich fragen kann, fängt Joe wieder zu blättern an. Jetzt steht da ›Buster gebrochen‹. Der arme Buster Mathis auf allen Vieren, nachdem er einen von Alis linger-on-Schlägen einstecken musste. Eine Überschrift nennt sie ›Clays neue Waffe‹. Weiter durchblättern. Hier und da ein Innehalten, damit ich einen besseren Überblick bekommen oder einen Absatz überfliegen kann. Dabei zeigt er mit seinem Stift auf die eine oder andere Überschrift, entfaltet die Ziehharmonika einer Zeitungsseite, um mir ein Foto zu präsentieren, auf dem Ali mit weit aufgerissenem Mund zu sehen ist. Die Großmaulpose.
Eins steht fest: Joe war ein fürchterlicher Archivar. Er hätte vollständige Zeitungsseiten aufheben sollen, hätte sie in Aktenkisten verstauen können, zweckmäßig nummeriert und indiziert. Oder sie, jeden Kampf für sich, in Pappmappen ordnen. Stattdessen hat er sie ausgeschnitten und zu albernen, komplizierten Origami-Figuren gefaltet und Teile der Ausschnitte mit Klebeband versehen, um so viel Material wie möglich auf einer Seite unterzubringen. Einige dieser Anhäufungen sind durchaus raffiniert, entfalten fünf oder sechs Artikel aus einer Oberfläche. Wie das findige Layout in einem Aufklappbuch für Kinder. Das Klebeband aber ist eine unverzeihliche Sünde. Jeder Archivar wird sagen, dass so was das Allerletzte ist, was man an Ausschnitten oder Fotografien sehen will, die man erhalten möchte. Der Klebstoff entfärbt und ruiniert das Papier, das Klebeband trocknet aus und verformt sich. Die Ausschnitte sind von einem schmutzigen Gelbbraun. Das ist die Farbe, die man an den Fingern eines Rauchers von Texas Plains entdecken würde, der am Tag eine Schachtel konsumiert. Eins kann man Joe nicht vorwerfen: Das Ganze hat er angefertigt, lange bevor säurefreies oder holzfreies Papier entwickelt wurde, von papierfreien Nachrichten ganz zu schweigen. Oder dem wahrheitsfreien Zeug. Aber die Klebebandnarben sind sein Fehler. Keine Frage.
Dann wiederum ist ihm nie der Gedanke in den Sinn gekommen, dass er ein Archiv aufbaut. Es ist komisch, ihn so darüber reden zu hören. Ist doch nur ein Stapel Alben. Sylvie hatte auch ein paar, die waren Cliff Richards gewidmet. Oder waren es die Fab Four? Der Gedanke, dass er etwas für die Nachwelt anlegte, ist lächerlich. Ein Dreizehnjähriger mit Flaum auf den Wangen? Er dachte nicht weiter als bis zum Läuten der Schulglocke am Freitagnachmittag. Wenn er sich überhaupt etwas in der Zukunft ausmalte, dann einmal so einen E-Type-Jag wie Mark Condor zu fahren, einen roten mit Speichenrädern. Und dazu eine ganz besonders hübsche Freundin zu haben, die davon aber nichts weiß, weil sie mit sechs aufgrund einer geheimnisvollen Krankheit erblindet war. Ganz offensichtlich nichts, was ich mir vorstellen würde.
Jahre später, als er in California wohnte, holte ich wegen eines anstehenden Reservistenlagers meinen balsak aus dem Einbauschrank in Clubview. Dabei stieß ich auf diese Kiste und öffnete sie aus Neugier. Die erste Seite des ersten Albums, dasjenige, das wir jetzt gerade durchblättern, trug eine handgeschriebene Überschrift: ALI VS FRAZIER – VORHER. Die dicklichen Cartoon-Buchstaben, umgeben von farbigen Wellenlinien, die wie Schockwellen aussehen, der blasse Schimmer einer Psychedelia in Suburbia. Ich kann ihn vor mir sehen, über den Esszimmertisch gebeugt, wie er diese Henry-Moore-Schrift ausmalt, die Hand auf diese seltsame Art zurückgebogen, wie immer, wenn er einen Stift hielt, als hätte er sich das Handgelenk gebrochen und es sei schief zusammengewachsen. Was Schulprojekte anging, war er wie besessen, gab sich endlose Mühe, um Strichzeichnungen aus Enzyklopädien zu kopieren und Fotos aus Broschüren auszuschneiden. Er tat nicht einfach das Nötigste, wie es jeder normale lightie machen würde, sondern viel zu viel. Und zwar immer. Er wollte unbedingt gefallen, nehme ich an. Ließ dadurch alle anderen faul aussehen und an ihrer Visiomotorik zweifeln. Ständig hatte er Angst, etwas Falsches zu sagen, die richtige Antwort nicht zu wissen, wie ein Dummkopf dazustehen. Ich hätte seine kostbaren Alben wegschmeißen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte.
Was willst du von mir?
Wir sind am Ende von ALI I angelangt. Dort gibt es eine Seite mit Zeitungsausschnitten über Alis Besuch in Südafrika. Wilbur, der Cartoonist, fragt: Betreibt die Regierung Schattenboxen mit Clay? Noch eine Seite zum Kampf gegen Al ›Blue‹ Lewis in Dublin 1972. Lewis bekam seinen Spitznamen, weil er blaue Anzüge und blaue Autos mochte. Ich muss an den Witz über den südafrikanischen Meister Mike Schutte denken: Was für ein Auto fahren Sie, Mike? Mike (kratzt sich am Kopf): ein blaues! Neil Allen, der den Ellis-Kampf für die Times beobachtete, meinte belegen zu können, dass Clay über keinen harten Punch verfüge. Im Gegensatz dazu vertrat der Bericht in der Pretoria News die Ansicht, dass Clay einen weiteren Gegner ebenso ruhig wie brutal aus dem Weg geräumt hatte. Chuck Nary, der Manager des Verlierers: Es war mehr die Erschöpfung als etwas anderes, die Lewis schlug.
Ich habe diese körnigen Bilder von Männern satt, die Faustschläge austeilen. Wie viele Arten gibt es, einen anderen zu treffen? Jab (kurze Gerade), Gerade, Haken, Cross (Gerade, die die Arme des Gegners kreuzt) … Die Fotos, auf denen Ali für die Kamera den Clown spielt, den Mund so aufgerissen, als wolle er das Objektiv und den Betrachter verschlingen und sagen, halt mich zurück, doch lässt auch das keine Wärme aufkommen. Er hat schwierige Zeiten durchgemacht, das weiß ich, mit dem Parkinson und allem, aber meine alte Abneigung gegen ihn meldet sich wieder. Ich studiere die Gesichter der Männer, die er geschlagen hat. Jimmy Ellis mit seinen Elvis-Koteletten wie zwei Raffgardinen, Broken Buster, dem sein speicheltriefender Mundschutz herausragt, all diese Männer, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, sich dumm schlagen zu lassen. Mein Gott. Was ist eigentlich aus George Chuvalo geworden?
Jeden Augenblick wird er mit ALI II anfangen.
Warum zeigst du mir das?
Mit den Fingern...
Erscheint lt. Verlag | 12.3.2020 |
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Übersetzer | Thomas Brückner |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Apartheid • Archiv • Black Muslim • Boxen • Boxer • Bruder • Brüder • Cassius Clay • Coming of Age • Erinnerungsarbeit • Familie • Familienroman • Kindheit • Muhammad Ali • Notizen • Politisches Engagement • Rassismus • Rumble in the Jungle • Sammeln • Sammlung • Segregation • Sport • Sportjournalismus • Südafrika • Tagebuch • Vergangenheit • Zeitung |
ISBN-10 | 3-8031-4272-5 / 3803142725 |
ISBN-13 | 978-3-8031-4272-6 / 9783803142726 |
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