Der Klavierstimmer Ihrer Majestät (eBook)

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2020 | 1. Auflage
398 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-74889-9 (ISBN)
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London 1887: Die britischen Kolonialherren in Afrika und Asien stehen auf der Höhe ihrer Macht. Doch von den Gewaltverbrechen in der Ferne bekommt der Klavierstimmer Edgar Drake nur wenig mit, er hat Großbritannien noch nie verlassen - bis sein beschauliches Leben plötzlich komplett auf den Kopf gestellt wird: Wieso schickt ihn das britische Kriegsministerium in den umkämpften Dschungel von Birma, um einen Flügel zu reparieren?
Der Flügel gehört dem dort stationierten Militärarzt Anthony Carrol, der das Instrument einsetzt, um über die Kraft der Musik einen friedlichen Dialog mit den Einheimischen zu führen. Der Brutalität des Krieges auf diese Weise zu trotzten, beeindruckt Drake, er nimmt den Auftrag an. Und tatsächlich verfällt er in Birma nicht nur der exotischen Landschaft und den fremden Bräuchen, sondern auch dem charismatischen Arzt Carrol. Selbst als die Arbeiten am Flügel längst vollzogen sind, schafft er es nicht sich von dieser faszinierenden Welt zu lösen - mit fatalen Folgen.

Daniel Mason, 1976 geboren, ist Schriftsteller und Psychiater. Er lehrt Psychiatrie an der Universität Stanford. Seine Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. <br> <br>Barbara Heller lebt als Diplomübersetzerin aus dem Englischen, Niederländischen und Französischen in Heidelberg. Sie übersetzte u. a. Salman Rushdie, George Simenon, Agatha Christie, Amitav Ghosh, Anne Fine und Connie Palmen.

Erstes Buch


Fuge [ital.; von lat. fuga = Flucht] In der Musik Bezeichnung für ein mehrstimmiges Tonstück, dessen streng kontrapunktisch gesetzte Stimmen dem Prinzip der imitatorisch-variativ durchgeführten Verarbeitung eines Themas folgen.

Fugue Eine Kombination von Amnesie und körperlichen Angstzuständen. Der davon Betroffene entflieht seiner gewohnten Welt, um eine andere Identität anzunehmen.

I


Es war Nachmittag im Büro von Colonel Killian, dem Leiter des Birma-Stabes der britischen Streitkräfte. Edgar Drake saß neben zwei rumpelnden dunklen Heizungsrohren und schaute aus dem Fenster, gegen das der Regen peitschte. Auf der anderen Seite des Raumes saß der Colonel, ein stämmiger, sonnengebräunter Mann mit einem roten Haarschopf. Sein dichter Schnurrbart fächerte sich wohl gebürstet und symmetrisch auf und betonte die harten grünen Augen. An der Wand hinter seinem Schreibtisch hingen ein langer Bantu-Speer und ein bemalter Schild, der die Narben von Kämpfen zeigte. Der Colonel trug eine scharlachrote, mit Flechtschnüren aus schwarzem Mohair eingefasste Uniform. Edgar sollte sie im Gedächtnis behalten, denn die Flechtschnüre erinnerten ihn an die Streifen eines Tigers, und das Scharlachrot ließ das Grün der Augen noch grüner erscheinen.

Mehrere Minuten waren vergangen, seit der Colonel den Raum betreten, einen Stuhl an den hochglanzpolierten Mahagonischreibtisch gerückt und begonnen hatte, einen Stapel Papiere durchzublättern. Endlich blickte er auf. Eine dröhnende Baritonstimme kam hinter dem Schnurrbart hervor. «Vielen Dank für Ihre Geduld, Mr. Drake, ich hatte noch etwas Dringendes zu erledigen.»

Der Klavierstimmer wandte sich vom Fenster ab. «Keine Ursache, Colonel.» Seine Finger spielten mit dem Hut auf seinem Schoß.

«Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir gleich in medias res.» Der Colonel beugte sich vor. «Nochmals: willkommen im Kriegsministerium. Ich nehme an, Sie sind zum ersten Mal hier», sagte er, wartete die Antwort aber gar nicht erst ab. «Ich danke Ihnen, auch im Namen meines Stabes und meiner Vorgesetzten, dass Sie uns in dieser, wie wir meinen, überaus ernsten Angelegenheit Ihre Aufmerksamkeit schenken. Wir haben einige Hintergrundinformationen zu der Sache vorbereitet. Am besten wird es wohl sein, ich lese sie Ihnen vor, wenn Sie einverstanden sind. Sollten Sie Fragen dazu haben, können wir sie erörtern, sobald Sie nähere Einzelheiten kennen.» Er legte die Hand auf einen Papierstapel.

«Danke, Colonel», erwiderte der Klavierstimmer ehrerbietig. «Ich muss gestehen, Ihr Ansuchen hat mich neugierig gemacht. Es ist höchst ungewöhnlich.»

Der Schnurrbart auf der anderen Seite des Schreibtisches zitterte. «Höchst ungewöhnlich, in der Tat, Mr. Drake. Die Sache beschäftigt uns sehr. Und falls es Ihnen bisher entgangen sein sollte: nicht nur wegen des Klaviers, sondern auch wegen dieses Mannes. Ich werde also mit Oberstabsarzt Carroll selbst beginnen.»

Der Klavierstimmer nickte.

Wieder zitterte der Schnurrbart. «Ich will Sie nicht mit Einzelheiten aus seiner Jugend langweilen. Wir wissen selbst nicht viel darüber, und tatsächlich liegt hier einiges im Dunkeln. Carroll ist irischer Abstammung und wurde 1833 geboren als Sohn von Mr. Thomas Carroll, einem Lehrer für griechische Dichtung und Prosa an einem Internat in Oxfordshire. Die Familie war nie wohlhabend, aber das Bildungsinteresse des Vaters muss sich auf den Sohn übertragen haben; er war ein ausgezeichneter Schüler und studierte später am University College Hospital in London Medizin. Nach seinem Abschluss eröffnete er nicht wie die meisten anderen eine Privatpraxis, sondern bewarb sich um eine Stelle an einem Armenhospital in der Provinz. Auch über diese Zeit liegen uns wenig Informationen vor, wir wissen nur, dass er fünf Jahre dort verbrachte. Er heiratete ein Mädchen aus der Gegend, aber die Ehe war von kurzer Dauer; seine Frau starb im Kindbett und ebenso das Kind. Carroll hat nicht wieder geheiratet.»

Der Colonel räusperte sich, nahm ein anderes Dokument zur Hand und fuhr fort: «Nach dem Tod seiner Frau kehrte Carroll nach London zurück und bewarb sich während der Cholera-Epidemie um eine Stelle als Arzt am Armenasyl im East End. Er blieb dort nur zwei Jahre. 1863 erhielt er ein Offizierspatent als Stabsarzt bei der Armee. Und hier werden unsere Informationen nun vollständiger. Carroll wurde dem 28. Infanterieregiment in Bristol zugeteilt, ersuchte aber schon vier Monate später um Versetzung in die Kolonien. Sein Gesuch wurde umgehend bewilligt, und man berief ihn zum stellvertretenden Leiter des Militärkrankenhauses im indischen Saharanpur. Er erwarb sich dort bald ein gewisses Renommee, nicht nur als Arzt, sondern auch als eine Art Abenteurer. Er begleitete zahlreiche Expeditionen ins Pandschab und nach Kaschmir und geriet dabei mehrfach in Gefahr, sowohl durch die dortigen Stämme als auch durch russische Agenten – ein Problem, das auch weiterhin besteht, denn der Zar strebt ähnliche Gebietsgewinne an, wie wir sie verzeichnen. Außerdem erwarb er sich in Indien den Ruf eines literarisch gebildeten Mannes, wobei allerdings noch nichts auf die, nun, nennen wir es Besessenheit hindeutete, die ihn später veranlasste, ein Klavier anzufordern. Mehrere seiner Vorgesetzten haben beobachtet, dass er im Krankenhausgarten Lyrik las und seine Visiten vernachlässigte. Das wurde – wenn auch widerwillig – toleriert, nachdem Carroll offenbar einmal einem Stammesführer aus der Gegend, der im Krankenhaus behandelt wurde, ein Gedicht von Shelley vorgetragen hatte – ‹Osymandias› war’s, glaube ich. Der Stammesführer hatte bereits einen Kooperationsvertrag abgeschlossen, weigerte sich aber, Truppen zur Verfügung zu stellen. Eine Woche nach seiner Entlassung kam er noch einmal ins Krankenhaus und wollte Carroll sprechen, nicht etwa den zuständigen Offizier. Er hatte dreihundert Mann mitgebracht, die ‹dem Dichtersoldaten dienen› sollten – seine Worte, nicht unsere, Mr. Drake.»

Der Colonel blickte auf. Er glaubte ein Lächeln über das Gesicht des Klavierstimmers huschen zu sehen. «Eine erstaunliche Geschichte, nicht wahr?»

«Ein schönes Gedicht.»

«Ja, allerdings muss ich sagen, dass die Episode insgesamt doch etwas unglücklich verlief.»

«Unglücklich?»

«Wir greifen hier vor, Mr. Drake, aber meiner Ansicht nach deutet die Sache mit dem Erard darauf hin, dass der ‹Soldat› immer mehr ‹Dichter› sein will. Das Klavier – und das ist zugegebenermaßen meine bedenkliche Meinung – stellt, wie soll ich sagen, eine bedenkliche Ausweitung dieser Strategie dar. Wenn Dr. Carroll wirklich glaubt, man könne den Frieden befördern, indem man Musik an einen solchen Ort bringt, dann kann ich nur hoffen, dass er auch genug Schützen dorthin bringt, die den Frieden verteidigen.» Der Klavierstimmer schwieg, und der Colonel setzte sich zurecht. «Sagen Sie selbst, Mr. Drake: Einen einheimischen Fürsten mit Rezitationen und Reimen zu beeindrucken ist eine Sache, aber um die Lieferung eines Flügels in unser entlegenstes Fort zu ersuchen eine ganz andere.»

«Ich verstehe nicht viel von militärischen Dingen», erwiderte Edgar Drake.

Der Colonel betrachtete ihn einen Moment lang, bevor er sich wieder seinen Papieren zuwandte. Das Klima und die Strapazen in Birma, dachte er, sind nichts für diesen Mann: Hoch gewachsen, schlank und mit dichtem, angegrautem Haar, das über der Nickelbrille locker in die Stirn fiel, sah der Klavierstimmer eher wie ein Lehrer aus als wie einer, der militärische Verantwortung tragen kann. Er wirkte älter als einundvierzig Jahre; die Brauen über den hellen Augen waren dunkel, und ein weicher Backenbart umrahmte die Wangen. An den Augenwinkeln hatte er Fältchen, allerdings nicht die eines Menschen, der sein Leben lang gelächelt hat, wie der Colonel feststellte. Er trug eine Cordjacke, eine Fliege und abgetragene Hosen aus Wollstoff. Das alles hätte den Eindruck einer traurigen Gestalt vermittelt, wären da nicht die für einen Engländer ungewöhnlich vollen Lippen gewesen, die zwischen Gedankenverlorenheit und leichtem Erstaunen verharrten und dem Gesicht eine Weichheit verliehen, die den Colonel entnervte. Der Klavierstimmer rieb sich unaufhörlich die Hände, und seine Handgelenke verloren sich in der Höhlung der Ärmel. Es war nicht die Art Hände, die der Colonel zu drücken gewohnt war, für einen Mann waren sie zu zart, doch bei der Begrüßung hatte er eine Rauheit und Kraft gespürt, als würden sie unter der schwieligen Haut von Drähten bewegt.

Er senkte den...

Erscheint lt. Verlag 16.3.2020
Übersetzer Barbara Heller
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 19. Jahrhundert • Birma • Daniel Mason • England • Großbritannien • Imperialismus • Klavierstimmer • Kolonialismus • Krieg • Literatur • London • Musik • Myanmar • Roman • viktorianisches England • Viktorianisches Zeitalter
ISBN-10 3-406-74889-9 / 3406748899
ISBN-13 978-3-406-74889-9 / 9783406748899
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