Inniger Schiffbruch (eBook)

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
355 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-95757-905-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Inniger Schiffbruch -  Frank Witzel
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Die Beschäftigung mit dem Nachlass seines verstorbenen Vaters ruft im Erzähler von Frank Witzels autobiografischem Roman Erinnerungen an eine Kindheit wach, in der das Fernsehen den Vorabend erfindet. Eine Kindheit voller Disziplinierungsmaßnahmen wie Hausarrest, Tonband- und Fernsehverbot, in der die Eltern ihrem Kind unwissentlich den Schrecken der einst selbst erlittenen Trennung als unentwegte Drohung weitergeben. Eine Kindheit, in der ein Sonntag klar strukturiert, die Kittelschürze für die Hausfrau unabdingbar und die von Erwachsenen erdachte Mondfahrt Peterchens ein Horrorszenario ist wie das der Mainzer Fastnacht. Wie sehr sich das individuell Erlebte und kollektiv Erfahrene gegenseitig durchdringen, zeigt sich, wenn Witzel gerade nicht die inszenierten Bilder aus dem Familienalbum 'Unser Kind', sondern vielmehr die ausgesonderten Aufnahmen mit der Frage zur Hand nimmt, ob nicht sie es sind, die Auskunft darüber geben können, wie etwas wirklich gewesen ist. Im unentwegten Zweifel am Wahrheitsgehalt der eigenen Erinnerungen zeigt sich Frank Witzel einmal mehr als ein so nahbarer wie begnadeter Erzähler, dem es gelingt, über das Persönliche die Verfasstheit einer Nachkriegsgesellschaft in der neuen BRD zu erfassen.

Frank Witzel veröffentlichte seit seinem ersten Lyrikband 1978 mehr als ein Dutzend Bücher, u. a. die Romane Bluemoon Baby (2001/2017), Vondenloh (2008/2018) und Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969, für den er den Deutschen Buchpreis 2015 erhielt. Für das gleichnamige Hörspiel gewann er den Deutschen Hörspielpreis 2017. Für seinen Roman Direkt danach und kurz davor war er für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2017 nominiert. Im selben Jahr erhielt er die Poetikdozentur der Universität Heidelberg und 2018 die Poetikdozentur der Universität Tübingen, 2017/2018 war er Inhaber der Friederichs-Stiftungsprofessur an der Hochschule für Gestaltung Offenbach, wo er heute lebt. Im BR wurden 2017 sein Hörspiel-Film Die apokalyptische Glühbirne und 2018 die Hörspielserie Stahnke, 2019 beim HR das Hörspiel Jule, Julia, Julischka, alle in der Regie von Leonhard Koppelmann, gesendet, für die er mit ihm zusammen 2017 den Deutschen Hörbuchpreis erhielt.  

Frank Witzel veröffentlichte seit seinem ersten Lyrikband 1978 mehr als ein Dutzend Bücher, u. a. die Romane Bluemoon Baby (2001/2017), Vondenloh (2008/2018) und Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969, für den er den Deutschen Buchpreis 2015 erhielt. Für das gleichnamige Hörspiel gewann er den Deutschen Hörspielpreis 2017. Für seinen Roman Direkt danach und kurz davor war er für den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2017 nominiert. Im selben Jahr erhielt er die Poetikdozentur der Universität Heidelberg und 2018 die Poetikdozentur der Universität Tübingen, 2017/2018 war er Inhaber der Friederichs-Stiftungsprofessur an der Hochschule für Gestaltung Offenbach, wo er heute lebt. Im BR wurden 2017 sein Hörspiel-Film Die apokalyptische Glühbirne und 2018 die Hörspielserie Stahnke, 2019 beim HR das Hörspiel Jule, Julia, Julischka, alle in der Regie von Leonhard Koppelmann, gesendet, für die er mit ihm zusammen 2017 den Deutschen Hörbuchpreis erhielt.  

1


Das Rhinozeros


Zwei Monate nach dem Tod meines Vaters hatte ich einen Traum: Aus einer erhöhten Perspektive näherte sich mein Blick durch den morgendlichen Dunst eines ersten Frühlingstages einer Siedlung mit bungalowartigen Einfamilienhäusern, wie sie Ende der sechziger Jahre modern wurden. Er streifte suchend über die Dächer und senkte sich schließlich in eine Straße, die in einem Wendehammer endete, wo er vor einem Haus mit einer großen Blauzeder im Vorgarten anhielt. Wie eine Ansichtskarte, die etwas zeigt, das einem so vertraut ist, dass es als Abbildung fremd bleiben muss, fror dieses Bild ein, während der Blick ins Innere des Hauses drang und sich dort mit meinem Körper verband, der, gerade erst aufgestanden, vom Schlafzimmer in Richtung Küche ging, wohl, um sich dort einen Tee zu machen. Bevor ich jedoch die Küche erreichte, fiel mir ein, dass ich seit Längerem versäumt hatte, nach dem Haus meiner Eltern zu sehen, das sich direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite befand und seit ihrem Tod leer stand. Ich ging zur Garderobe, zog mir einen Mantel über, nahm den Schlüssel mit den Initialen E. H. aus dem Schlüsselkasten, verließ das Haus und eilte hinüber. Bereits beim Öffnen der Tür und Eintreten in den Flur bemerkte ich, dass die Wohnung leicht überhitzt war. Ich dachte an die Kosten, die das verursachen würde, und ärgerte mich, die Heizung nicht abgedreht zu haben. Zögerlich, da mir die Umgebung völlig unbekannt zu sein schien, ging ich den Flur entlang bis zu einer Treppe, die nach oben, wahrscheinlich zum Speicher führte, jedoch nicht zu betreten war, weil die unterste Stufe direkt an der Wand ansetzte, in der auch die Geländer verankert waren. Vergeblich versuchte ich einen Zugang zu finden, wandte mich schließlich ab und ging zur Wohnzimmertür. Als ich sie öffnete, schlug mir eine noch stickigere, streng riechende Luft entgegen. Vorsichtig betrat ich den Raum, dessen Mobiliar von der Zimmermitte an die Wände geschoben war, so, als hatte man für etwas Platz schaffen wollen. Gerade war ich im Begriff, die Tür hinter mir zu schließen, als mir langsam und erschöpft ein lebensgroßes, jedoch völlig abgemagertes Rhinozeros entgegenkam. Erst in dem Moment fiel mir mit Schrecken ein, dass ich nicht nur dieses Rhinozeros, sondern auch die fünf Hunde meiner Eltern zu füttern und mit Wasser zu versorgen vergessen hatte. Keinerlei Geräusche waren zu hören und auch das Rhinozeros verharrte eigenartig still und unbeweglich vor mir, fast, als habe es nur so lange ausgeharrt, um nun vor meinen Augen zu verenden. Vorsichtig schaute ich mich im Zimmer um, da ich befürchtete, etwas Ekelerregendes, etwa eine Reihe von Kadavern, zu entdecken. Und tatsächlich entpuppte sich das, was ich aus einiger Entfernung anfänglich für Teppichvorleger gehalten hatte, im Näherkommen als ausgetrocknete Fellreste. Zu meinem großen Entsetzen befand sich an einem dieser Felle der noch lebendige Kopf eines Hundes. Ähnlich wie das Rhinozeros rührte auch er sich kaum, sah mich nur traurig an und bewegte stumm die ausgetrockneten Lefzen. In Panik rannte ich aus dem Haus und hinüber zu mir, von wo aus ich eine Freundin anrief, die mir versprach, sofort einen Veterinär zu verständigen.

Obwohl der Traum intensiv war und ich verstört aus ihm erwachte, hatte ich nicht die geringste Lust, mich weiter mit ihm zu beschäftigen. Die letzten Monate meines Wachzustandes waren anstrengend genug gewesen, und auf weitere Einblicke in den konfusen Zustand meiner Psyche konnte ich momentan gern verzichten. Es gibt Traumbilder, die etwas zusammenfassen, auf das man von allein niemals gekommen wäre, hier aber hatte ich das Gefühl, einem fremden Traum beigewohnt zu haben, einer filmischen Inszenierung, die mit billiger Effekthascherei arbeitete. Meine Eltern waren nicht mehr am Leben, das stimmte, allerdings hatten sie ihr Haus bereits zwei Jahre vor ihrem Tod verlassen und waren in ein Seniorenheim gezogen. Auch wohnte ich nicht in ihrer Nähe, schon gar nicht in derselben Straße. Am hervorstechendsten, neben der Bezeichnung Rhinozeros, die mein träumendes Ich verwandt hatte, während ich normalerweise Nashorn sagen würde, war die Erscheinung dieses Tiers, das in seiner aufdringlichen Symbolik einem billigen Ratgeber zur Deutung von Träumen entstiegen schien. Sollte es das versinnbildlichen, was ich unwissentlich vernachlässigt und damit dem Tod überantwortet hatte, das, was ich in meinem Verhältnis zu meinen Eltern bislang nicht hatte sehen wollen oder können?

Das Stück Rhinocéros von Ionesco fiel mir ein, das ich nur dem Namen nach kannte. Ich widerstand der Versuchung, nachzuschauen, von was genau es handelte, denn was könnte sich daraus schon für mich erschließen, selbst wenn mir wieder einfallen würde, doch vor vielen Jahren einer Inszenierung beigewohnt und diesen Abend in der Zwischenzeit lediglich vergessen zu haben? Als Nächstes erinnerte ich mich an eine Erzählung Bertrand Russells, in der er eine seiner ersten Begegnungen mit Wittgenstein beschreibt. »Mein deutscher Ingenieur ist, befürchte ich, ein Narr. Er vertritt die Meinung, nichts Empirisches sei erfassbar. Ich bat ihn zuzugeben, dass sich kein Rhinozeros im Raum befände, doch selbst das lehnte er ab.« Wie leicht schien es mir nach diesem Traum, zuzugeben, dass sich kein Rhinozeros im Raum befindet, verglichen mit der umgekehrten Erkenntnis seines Vorhandenseins, noch dazu im Zustand der Agonie, die man mehr oder minder selbst verschuldet hatte. Unwillkürlich drängte sich mir eine Parabel in dem Sinne »Weil du mich gesehen hast, Thomas, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!« auf, doch gelang es mir nicht, diese Konstruktion auch nur ansatzweise zu durchdenken und in Worte zu fassen. Ein Zustand, der mir in meinem momentanen Alltag, und nicht nur in Bezug auf meine Träume, mittlerweile recht vertraut war.

Ich hatte relativ bald nach dem Tod meines Vaters angefangen, mir einige Dinge zu notieren, und war deshalb in einen unausgesprochenen Konflikt mit meiner Therapeutin geraten, da ich das Gefühl hatte, sie akzeptiere diesen Schreibvorgang nicht als eine angemessene Form der Trauerarbeit, und mir bereits der Begriff »Trauerarbeit« problematisch erschien, denn wenn ich etwas nicht verspürte, war es Trauer, und wenn ich auf etwas keinen Wert legte, war es zusätzliche Arbeit. Ich hatte beim Tod meiner Mutter vor zwei Jahren keine Trauer verspürt und verspürte sie auch jetzt nicht nach dem Tod meines Vaters. Ich fühlte eine Art Bedauern. Ein Bedauern, dass das Leben meiner Eltern nun unwiderruflich vorbei war. Dieses Bedauern nahm manchmal die Form einer Traurigkeit an, aber Trauer war das meines Erachtens nicht.

Nachdem ich diesen uneingestandenen Groll gegen meine Therapeutin eine Zeit lang mit mir herumgetragen hatte, nahm ich mir schließlich vor, ihn in der nächsten Stunde zur Sprache zu bringen. Genauer gesagt nahm ich mir vor, die Therapie mit der Begründung zu beenden, mein Vertrauen in unsere Beziehung sei erschüttert. Ich legte mir verschiedene Sätze zurecht, ebenso verschiedene Antworten auf die von mir erwarteten Ausflüchte und betrat an einem Mittwochvormittag Anfang Oktober die Praxis. Ich hätte etwas zu sagen, kündigte ich an, kaum, dass ich mich gesetzt hatte, um sofort und ohne eine Antwort abzuwarten hastig, allerdings nicht ganz so wie vorbereitet, hervorzustoßen, dass ich es nicht zulassen werde, einen Keil zwischen mich und mein Schreiben getrieben zu bekommen, weshalb ich die Therapie hiermit beende. Ich war über dieses eher unpassende Bild des Keils, das mir spontan gekommen war, selbst verblüfft, so als wäre das Schreiben nicht eine Tätigkeit, der ich nachging, sondern etwas mir Fremdes, wie eine andere Person, zu der ich ein wie auch immer geartetes Verhältnis unterhielt. Zudem hatte ich das, was ich mir als letzten Trumpf hatte aufbewahren wollen, nämlich die Drohung eines Therapieabbruchs, gleich zu Beginn ausgespielt und damit vertan. Meine Therapeutin fragte mich, was genau sie denn in Bezug auf mein Schreiben gesagt habe. Ich überlegte einen Moment, konnte mich aber an den genauen Wortlaut nicht mehr erinnern, eben nur, dass es sich dabei um keine adäquate Form der Trauerarbeit handle. Es wundere sie, sagte sie, das so ausgedrückt zu haben, da sie den Begriff »Trauerarbeit« in der Regel vermeide und auch nicht glaube, dass es bessere oder schlechtere Formen gäbe, mit Gefühlen umzugehen. Dennoch, oder gerade deshalb tue es ihr aufrichtig leid, dass ein solcher Eindruck in mir entstanden sei.

Ich war über dieses unerwartete Entgegenkommen einigermaßen erstaunt und versuchte mir die Situation noch einmal genau vor Augen zu führen: Sie hatte dort gesessen, wo sie immer saß, und ich hier, wo ich immer saß, und dann hatte ich davon gesprochen, mit ersten Aufzeichnungen zum Leben meines Vaters und meiner Eltern begonnen zu haben, worauf sie – tatsächlich nichts gesagt hatte. Sie hatte nur einen Moment gezögert und mir, so meinte ich es vor mir zu sehen, einen eigenartigen Blick zugeworfen.

Worüber ich oder sie in der verbleibenden Stunde sprachen, war mir schon bald wieder entfallen. Dachte ich daran zurück, sah ich...

Erscheint lt. Verlag 28.2.2020
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 60er • Autobiographischer Roman • BRD • Erinnerungen • Familiengeschichte • Kindheit • Reflexionen • Tod • Trauer
ISBN-10 3-95757-905-8 / 3957579058
ISBN-13 978-3-95757-905-8 / 9783957579058
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