Kurz vor dem Regen -  Yvette Z'Graggen

Kurz vor dem Regen (eBook)

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2020 | 1. Auflage
175 Seiten
Lenos Verlag
978-3-85787-980-7 (ISBN)
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September 2009: Inspiriert vom medialen Gedenken an den siebzigsten Jahrestag des Kriegsbeginns, fragt sich Yvette Z'Graggen, wie ihr Leben verlaufen wäre, hätte Yvie, ihr Alter Ego, damals im Sommer 1938 den jungen Deutschen nicht abgewiesen. Aus der Erinnerung an eine kurze Romanze, die sie mit achtzehn erlebte, entwickelt die Autorin eine Geschichte, deren Protagonistin zweifellos die stärkste und freieste ihrer Figuren ist, da sie sich der bürgerlichen Moral ihres Umfelds widersetzt. In einem zweiten Teil verabschiedet sich Yvette Z'Graggen von den Heldinnen ihrer Bücher: 'Sie widerspiegeln jede auf ihre Art die Entwicklung der Frauen über mehr als ein halbes Jahrhundert hinweg. Sie haben versucht, die Unwissenheit, die Verlogenheit, die Vorurteile zu bekämpfen, die in ihrer Kindheit noch herrschten. Sie haben auch begriffen, dass die innere Freiheit wesentlich ist, und sie haben sich gegen alles zur Wehr gesetzt, was sie gefangen hielt.' Für dieses Buch wurde Yvette Z'Graggen 2012 postum der Prix Edouard Rod verliehen.

Yvette Z'Graggen (1920-2012), aufgewachsen in Genf. Nach langjähriger Tätigkeit beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz war sie als Übersetzerin und als Mitarbeiterin von Radio Suisse Romande tätig. Mit vierundzwanzig Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Roman. Seither publizierte sie zahlreiche Werke - Romane, Erzählungen und Hörspiele -, von denen etliche ins Deutsche übersetzt wurden. Für ihr Werk wurde Yvette Z'Graggen mehrfach ausgezeichnet, u.a. erhielt sie 1951 für ihren Roman 'L'Herbe d'octobre' ('Oktobergras') und 1996 für ihr Gesamtwerk den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung sowie für die Erzählung 'Les Années silencieuses' ('Die Jahre des Schweigens') 1982 den Preis der Genfer Schriftstellergesellschaft. Ihr Roman 'La Punta' wurde 1992 mit dem Prix des Auditeurs de la Radio Suisse Romande gewürdigt.

Yvette Z'Graggen (1920-2012), aufgewachsen in Genf. Nach langjähriger Tätigkeit beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz war sie als Übersetzerin und als Mitarbeiterin von Radio Suisse Romande tätig. Mit vierundzwanzig Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Roman. Seither publizierte sie zahlreiche Werke - Romane, Erzählungen und Hörspiele -, von denen etliche ins Deutsche übersetzt wurden. Für ihr Werk wurde Yvette Z'Graggen mehrfach ausgezeichnet, u.a. erhielt sie 1951 für ihren Roman "L'Herbe d'octobre" ("Oktobergras") und 1996 für ihr Gesamtwerk den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung sowie für die Erzählung "Les Années silencieuses" ("Die Jahre des Schweigens") 1982 den Preis der Genfer Schriftstellergesellschaft. Ihr Roman "La Punta" wurde 1992 mit dem Prix des Auditeurs de la Radio Suisse Romande gewürdigt.

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September 2009. Europa erinnert sich. Im Fernsehen, am Radio folgen zum siebzigsten Jahrestag des Kriegsbeginns Dokumentarfilme, Debatten und Gedenksendungen aufeinander. Die Augenzeugen jener Epoche, die den jungen Erwachsenen vorsintflutlich erscheint, werden immer seltener. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass ich damals schon da war, nicht einmal ein Kind, nein, ich war achtzehn, neunzehn Jahre alt und hatte das Leben noch vor mir, wie man gern sagt. Tatsächlich glaubte ich nicht, dass es Krieg geben würde: Der Krieg war eine Sache der Alten, und sie hatten geschworen, dass derjenige, den sie erlebt hatten, der allerletzte sein würde, la der des der*, wie sie sagten … Mistinguett und Josephine Baker tanzten, Chevalier sang, und trotz der Wirtschaftskrise, die wir durchgemacht hatten, stand die Zeit im Zeichen der Unbekümmertheit. Jenseits des Rheins liess Hitler sein Drohgebrüll vernehmen, doch wie schön, wie lieblich waren die Lieder, die der deutsche Rundfunk ausstrahlte!

Die Sendung, die ich vorhin gehört habe, illustriert jenen trügerischen Optimismus: In der Reihe Histoire vivante (Lebendige Geschichte) von Radio Suisse Romande wurde das Jahr 1938 in Erinnerung gerufen und das Münchner Abkommen, das die Tschechoslowakei ohne Skrupel den Nazis auslieferte. Chamberlain streckte jubelnd ein von »Herrn Hitler« unterzeichnetes Dokument in die Höhe, während Churchill, bereits allein gegen viele, sein berühmtes »You chose dishonour, and you will have war« in die Runde warf. (Sie haben die Schande gewählt und werden den Krieg bekommen.)

Wenn ich die Augen schliesse, beginnt in meiner Erinnerung ein kleiner Film zu laufen, ich sehe Schwarzweissbilder, die ich längst ausgelöscht glaubte.

Genf 1938, die Strassen, auf denen nur wenige Autos verkehrten, die Trams vorn mit einer offenen, Wind und Wetter ausgesetzten Plattform. Die Männer im dreiteiligen Anzug, Hut, steifer Kragen, die Frauen ebenfalls mit Hut, in einem von einer kleinen Damenschneiderin angefertigten Kleid, im strengen Tailleur. Die Kurzwarenhandlungen, wo man Faden, Nadeln und alle Arten von Knöpfen verkaufte. Läden, in denen man Stoffe auswählte, andere, in denen man Wollknäuel und Anleitungen fand, um Pullover, Handschuhe, Mützen selbst zu stricken. Die Restaurants, in die sich die Frauen selten allein hineinwagten, sogar am Morgen, um einen Kaffee zu trinken und das Journal de Genève oder La Suisse zu lesen. Kinos, es gab ihrer viele, vor denen man zu gewissen Zeiten mühelos sein Auto parken konnte.

Die Arbeiterviertel am rechten Rhoneufer und rund um die Kirche Saint-Gervais, dann, auf dem Hügel der Kathedrale Saint-Pierre zusammengedrängt, die schönen Wohnsitze der guten Gesellschaft. Das Collège Calvin, die Sekundarschule für die Knaben, und am anderen Ende der Stadt, an der Rue Voltaire, die Sekundarschule für die Mädchen und die Höhere Töchterschule.

Und dann die grossen Parks, die Quais und die beiden Strandbäder: jenes von Les Pâquis mit seinen drei Schwimmbecken, wo männliche und weibliche Badende voneinander getrennt waren, und am anderen Ufer Genève-Plage, das ein paar Jahre zuvor eingeweiht worden war, sein Sprungturm, seine Rasenflächen, seine noch schmächtigen Bäumchen, seine Sonnenschirme. Hier lernte man die Freiheit und die Unbeschwertheit kennen, die neue Lust, Wasser und Sonne auf der Haut zu spüren.

Auf den Strassen und in den Innenhöfen zu bestimmten Zeiten die Karren der Milchmänner, die die Milch nach Hause brachten, Messer- und Scherenschleifer, Wollkämmer für die Matratzen, durch Jutesäcke geschützte Männer, die die Hausfrauen mit grossen Eisblöcken belieferten, Liedersänger und Akkordeonisten, die darauf warteten, dass man ihnen vom Fenster aus ein in Seidenpapier eingewickeltes Geldstück zuwarf. Am Himmel kurvten kleine Flugzeuge – man hob den Kopf, um ihnen zuzusehen, und bedauerte, dass man den Zeppelin Hindenburg nicht mehr vorbeiziehen sah, der 1937 verbrannt war. Natürlich, sagten die alten Leute, heutzutage geht alles viel zu schnell.

Dabei war das Leben doch langsam, man hatte Zeit, zu reden, innezuhalten, Briefe zu schreiben, in denen man in allen Einzelheiten seinen Tag erzählte, lange Spaziergänge über Land zu machen, auf die Gefahr hin, unbemerkt die Grenze zu überqueren und sich plötzlich in Frankreich zu befinden.

Es war angenehm, so nah bei Frankreich zu leben und zugleich in einem Land, das der Sitz des Internationalen Roten Kreuzes und durch seine Neutralität geschützt war und dessen Berge ein unüberwindliches Hindernis bildeten. Selbst wenn der Krieg ausbrach, wie man es in diesem Sommer 1938 befürchtete, würden wir bestimmt von ihm verschont bleiben wie 14–18. Und das war nur gerecht, dachten wir: Die Schweiz hatte nie Kolonien gehabt, sie hatte keine Sklaverei betrieben, hatte sich aus allen Konflikten herausgehalten. Sogar Hitler würde jedes Interesse daran haben, unsere Grenzen zu respektieren, wenn es den Alliierten unglücklicherweise nicht gelingen sollte, seine Eroberungsgelüste zu dämpfen. Natürlich war das Leben in der Schweiz ein bisschen langweilig vor lauter Geruhsamkeit, es passierte nicht viel, ein Tag glich dem anderen, die jungen Leute hatten kaum Abwechslung und manchmal das Gefühl zu ersticken.

Was mich betraf, so hatte ich mich während meiner ganzen Kindheit und Jugend ins Schreiben und Lesen geflüchtet. Ich hatte mir Geschichten ausgedacht, die sich im Busch abspielten, in der Wüste, auf fernen Meeren; da war von der Jagd auf wilde Tiere, von Banditen und Schiffbrüchigen die Rede. Später hatte ich Colette, die englischen Romanautorinnen, Aldous Huxley, Roger Martin du Gard, Alain-Fournier, Lautréamont und viele andere gelesen. Wenn ich in die Hefte mit den schwarzen Wachstuchumschlägen Geschichten schrieb, in denen ich das Thema Liebe anzuschneiden wagte, dachte ich nie daran, sie in meinem Land anzusiedeln. In Frankreich, in Deutschland, gleichgültig wo, bloss nicht in der Schweiz. Gab es überhaupt Schweizer Schriftsteller? Ramuz natürlich, doch das war ein Sonderfall, man konnte ihn nicht zum Vorbild nehmen: Den Genfersee zu beschreiben, die Rebhügel, die Berge, die Sprache der Leute von hier nachzuahmen, das schien mir ausserhalb meiner Reichweite zu liegen, und ich sah keinen Sinn darin. Eigentlich war mir, das muss ich einfach zugeben, das Land, in dem ich lebte, gleichgültig. Vielleicht weil ich einen österreichisch-ungarischen Grossvater und Deutschschweizer Grosseltern hatte, die in einem entlegenen Dorf im Kanton Glarus wohnten und deren Sprache ich nicht verstand.

Auf meinem kleinen Bildschirm löst ein Bild das andere ab.

August 1938. Genève-Plage. Mama, noch sehr jung, mit Freundinnen im Gras sitzend, plaudernd, fröhlich, für ein paar Augenblicke von ihren Sorgen befreit. Und ich, achtzehn, glücklich, Ferien zu haben, bevor ich mein letztes Schuljahr und gleich danach das Leben, das wirkliche Leben in Angriff nehme. Ich habe einen Roman im Kopf, den ich schreiben will, sobald die Matura hinter mir liegt, und der sicher besser sein wird als die, die ich bisher entworfen habe. Ich fühle mich reif für die Liebe, für ein Abenteuer, selbst ein gefährliches.

Und da ist eben gerade Alex. Er ist zwanzig. Gross, athletisch, braungebrannt, blondes Haar, blaue Augen. Schön wie der Legionär, von dem Marie Dubas singt. Ich betrachte ihn von ferne, überzeugt, dass er mich nicht beachten wird. Ich finde mich nicht hübsch, ein bisschen zu dick, mit einem etwas zu starken Hohlkreuz, etwas zu kurzen Beinen. Es gibt viele bezaubernde junge Mädchen am Strand, aber – durch welches Wunder, ist mir ein Rätsel – ich bin es, mit der er die paar Tage bis zu seiner Rückkehr nach Berlin zu verbringen gedenkt. Wir schwimmen zusammen, sitzen stundenlang auf dem Floss, mit Blick zum Jura hinüber, Füsse im Wasser, Schulter an Schulter, liegen Hand in Hand auf dem Rasen. Seine Haut ist zart, warm, ich fühle mich gut. Er erzählt mir auf Deutsch von seinem Studium in Potsdam, er will Berufsoffizier werden. Ich sage, ich hoffte, weiterhin zu schreiben, meinen Lebensunterhalt vielleicht mit dem Verfassen von Romanen zu verdienen. Wir sprechen nicht vom drohenden Krieg, vor allem nicht von Hitler und vom Nationalsozialismus.

Die Deutschen sind zurzeit bei fast allen verhasst und gefürchtet. Ich bin stolz, gegen den Strom zu schwimmen.

Eines Nachmittags, kurz vor Alex’ Abreise, gehen wir auf der Kursaalterrasse tanzen. Die Fontäne, die Rade, die Savoyer Alpen sehr nahe, denn es herrscht Föhn. Der zu blaue Himmel. Das kleine Orchester. Alex, elegant, graue Hose, weisses Hemd, Blazer. Ich in meinem von unserer Schneiderin abgeänderten Kommunionkleid. Die Entdeckung des Begehrens. Kummer bereits über den so nahen Abschied.

Der Pont du Mont-Blanc am späten Nachmittag. Alex hält meine Hand, er ist mein erster Verehrer, aber auch der grosse Bruder, der starke Beschützer, von dem ich oft geträumt habe, als ich noch klein war.

In der Nacht nach diesem »Tanztee« kann ich nicht schlafen. Ich...

Erscheint lt. Verlag 20.2.2020
Übersetzer Yla M. von Dach
Verlagsort Basel
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Affäre • alleinerziehend • Baby • Emanzipation • Frauen • Genf • Liebe • Literaturgeschichte • Schweiz • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-85787-980-7 / 3857879807
ISBN-13 978-3-85787-980-7 / 9783857879807
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