Mitten in Mannheim -  Nora Noé

Mitten in Mannheim (eBook)

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
320 Seiten
Wellhöfer Verlag
978-3-95428-797-0 (ISBN)
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„Mitten in Mannheim“ schließt an Nora Noés erfolgreiche Jungbusch-Trilogie an und lässt viele „gute Bekannte“ aber auch neue Gesichter auftauchen. Die schweren Kriegsjahre und die von bitterer Not gekennzeichneten unmittelbaren Nachkriegsjahre sind überstanden und die Menschen beginnen langsam wieder nach vorne zu schauen.
„Mädchen aus dem Jungbusch“, das sind sie alle: Betty, Annerose, Helena, Norma und ihre Freundinnen und Nachbarinnen. Junge Mannheimerinnen, die den Krieg überlebt haben. Sie alle sind erfüllt von der großen Sehnsucht, ihre Zukunft nun endlich selbst in die Hand zu nehmen. Doch das ist gar nicht so einfach, denn viele von den wenigen jungen Männern, die aus dem Krieg zurückkehrten, sind traumatisiert, seelisch und körperlich angeschlagen oder noch immer von den Werten des Nationalsozialismus infiziert. Sie alle müssen erst ihren Platz in diesem neuen Deutschland finden.
Der Roman ist Familiengeschichte, Weltgeschichte, regionale Geschichte und die Geschichte Mannheims zugleich. Er ist eine Zeitreise in die späten 40er- und frühen 50er-Jahre mit all ihren Gegensätzen, mit Augenblicken tiefster Enttäuschung und Trostlosigkeit und unbeschreiblicher Glücksmomente voller Begeisterung und Zuversicht.



1952 im Mannheimer Jungbusch geboren, verbrachte Nora Noé ihre ersten 18 Lebensjahre in dem Arbeiter-und Hafenviertel. Doch sie 'strampelt' sich hoch, studiert, wird Lehrerin und leitet schließlich 20 Jahre lang den Kunst- und Kulturbereich der Volkshochschule Karlsruhe. Heute gilt die ganze Aufmerksamkeit der mittlerweile freischaffenden Schriftstellerin ihrer Heimatstadt Mannheim. So stammt die für das 'Schatzkistl' geschriebene musikalische Komödie 'Nierentisch und Caprifischer - Mannem in de 50er' ebenso aus ihrer Feder wie die beiden Mannheim-Bestseller 'Mitten im Jungbusch' und 'Zwischen Jungbusch und Filsbach'. Neben zahlreichen musikalisch-literarischen Programmen und Beiträgen für Anthologien legt sie nun mit 'Tod im Jungbusch' ihren ersten Krimi im Wellhöfer Verlag vor, in den natürlich wieder viel internes Wissen über Mannheim und speziell über den Jungbusch eingeflossen sind. Nora Noé ist verheiratet und lebt in Mannheim und in Mexiko.

Für meine Mutter,

ohne deren liebevolle und verlässliche Unterstützung

mein Lebensweg ein völlig anderer geworden wäre.

 

Für meinen Vater,

der mir mit seiner Herzenswärme, Aufgeschlossenheit

und seinem Humor stets ein Vorbild war.

St. Hedwig-Klinik (1952)


 

Ihre Fingernägel gruben sich in das weiße Laken, so als wollte sie es durchbohren. Ihr Körper bäumte sich auf. Sie hechelte und wollte vor Schmerzen schreien, aber sie wusste, sie durfte es nicht. Sie musste sich beherrschen. Stattdessen griff sie nach einem Zipfel des ausgebleichten Bettbezugs und stopfte ihn in ihren Mund. Mit aller Kraft biss sie darauf. Was waren das nur für höllische Schmerzen! Helena hatte zwar von den vagen Andeutungen ihrer Mutter und ihrer Tanten gewusst, dass es sehr wehtun würde, aber so schrecklich hatte sie es sich nicht vorgestellt. Sie hatte das Gefühl, tausend Teufel würden in ihrem Leib toben und sie von innen auffressen.

Als ihre Eltern sie eine Stunde zuvor in die St. Hedwig-Klinik gebracht hatten, waren sie gleich an der hohen Flügeltür von einer stämmigen Ordensschwester mittleren Alters in Empfang genommen worden. Anstatt sich gleich um sie zu kümmern, hatte sie die drei erst einmal gemaßregelt: »Imma mit de Ruh! Vor allem, macht ämol net so en Uffstand!« Sie hatte sich ihnen in den Weg gestellt und sich vor ihnen aufgebaut. Dann hatte sie ihren spitzen Zeigefinger auf Helena gerichtet und hinzugefügt: »Un damit du es glei ämol weeschd, Mädsche, hia werd net gschriee! Hoschd misch verstanne? Net dass du ma am End noch die ganz Schstazion do verrickd machschd. Des kennd isch heid Nacht grad noch gebrauche!« Danach hatte sie sich wieder Amelie und Carlo zugewandt und auf eine Zimmertür gedeutet. »Do bringe Se Ihr Dochda jetzd noi un legese se ufs Bedd. Un dann machese, dass se heemkumme!«

»Aber wir können doch unsere Tochter nicht einfach so ganz mutterseelenallein in diesem Zimmer zurücklassen. Sie sehen doch, dass ihr die Fruchtblase geplatzt ist«, entgegnete Amelie mit Nachdruck. Sie wollte weitersprechen, die Schwester fiel ihr jedoch ins Wort.

»Un ob ich des seh, de ganze Boode ist verdrobbseld. Hättese do net ä bissel bessa uffbasse kenne?!«

»Hören Sie doch, meiner Tochter ist die Fruchtblase geplatzt, und zwar sechs Wochen zu früh!« Amelie war zutiefst beunruhigt. »Ist denn hier nirgends ein Arzt?!«

Die Ordensschwester hatte ihr nicht geantwortet. Die konnte anscheinend nichts aus der Ruhe bringen. »Jetzt machese net so ä Theada! Des bassierd efders. Mir gugge schun nach ere. Sie schdere bloß! Ihr Dochda is Erschdgebernde, des kann ewisch dauere, bis des Kleene uf die Welt kummd.«

»Reicht es denn nicht, wenn mein Mann geht? Lassen Sie mich doch wenigstens hier bleiben?« Amelie wollte sich nicht einfach so hinauskomplimentieren lassen. Sie war in großer Sorge um Helena.

»Nix do! Ma fiehre hia ke neie Mode oi.« Die Schwester ließ sich nicht erweichen. »Sie schdehe mer bloß im Weg rum. Lossese Ia Telefonnumma hia, mia melde uns bei Ihne, wenn des Kleene do is. Un jetzt lossese misch endlisch moi Arbeid mache.«

Während Carlo seine Tochter stützte und sie in das zugewiesene Zimmer begleitete, kramte Amelie in ihrer kleinen schwarzen Handtasche. Schließlich zog sie einen Zettel heraus und reichte ihn der Schwester. »Wir haben selber kein Telefon. Aber der Metzger Haberkorn in der Beilstraße, der hat eins, da können Sie anrufen. Das ist gerade schräg gegenüber von uns. Der gibt uns dann Bescheid.«

»Wo is en die Beilstrooß eigendlisch?«, fragte die Ordensschwester nach, während sie den Zettel betrachtete.

Amelie zögerte ein wenig. »Im Jungbusch«, sagte sie fast etwas verschämt und hoffte, dass die Ordensschwester nichts von dem schlechten Ruf des Hafenviertels wusste.

Doch der schien ihr sehr wohl bekannt zu sein, denn sogleich blickte sie skeptisch über ihre dicken Brillengläser hinweg zu Amelie und begann sie von oben bis unten zu mustern. Ihr Gesichtsausdruck schrieb Bände, aber Gott sei Dank schwieg sie und ersparte ihnen jeden weiteren Kommentar.

Obwohl Amelie das barsche Auftreten der Ordensschwester äußerst missfiel, versuchte sie doch, einigermaßen freundlich zu bleiben. »Dürfte ich dann wenigstens noch mal kurz zu meiner Tochter gehen?«, fragte sie vorsichtig.

»Na ja, dann gehese halt schun, awer bloß ganz korz!« Die schnodderige Art, wie sie sprach, war verräterisch. Für sie war die Situation schnöder Alltag und Kinderkriegen gehörte zum Tagesgeschäft. In das Gefühlsleben einer Erstgebärenden, die gar nicht so recht wusste, was mit ihr passierte und sich schrecklich vor der Geburt fürchtete, konnte sie sich augenscheinlich nicht einfühlen und schien es auch gar nicht zu wollen.

»Hoffentlich sind hier nicht alle Schwestern so schroff«, dachte Amelie, während sie hallenden Schrittes den kahlen, kalten Krankenhausflur entlangging.

Helena stöhnte. »Mama, tut das weh!« Sie krümmte sich vor Schmerzen.

»Ich weiß, mein Liebes, aber du musst immer daran denken, dass du in ein paar Stunden dein Kind in den Armen halten wirst. Das wird dir Kraft geben.«

Amelie strich ihr liebevoll übers Haar.

»Bleibst du bei mir?« Helena griff nach Amelies Hand und schaute ihre Mutter erwartungsvoll an.

Amelie schüttelte traurig den Kopf. »Es tut mir so leid, Helena, aber wir dürfen nicht hierbleiben. Die Schwester hat uns gesagt, wir müssen zu Hause warten.«

»Das ist doch wieder typisch für diese Haubenlerchen.« Carlos Abneigung gegenüber der Kirche zeigte sich in diesem Augenblick wieder einmal deutlich. »Die nennen sich Schwestern vom Göttlichen Erlöser, tun furchtbar fromm und dabei sind sie so kalt wie eine Hundeschnauze!«

»Du solltest nicht alle über einen Kamm scheren!«, versuchte Amelie ihren Mann zu beschwichtigen. »Ich gebe ja zu, dass diese Schwester nicht besonders freundlich war. Aber sicher sind sie nicht alle so.«

Doch Carlo wollte sich nicht beruhigen. »Ich habe von Anfang an gesagt, dass es besser wäre, Helena zu der Maria Reichenbacher nach J7, 27 zu bringen. Die ist eine erfahrene Hebamme, so lange wie die das schon macht. Das wäre näher gewesen und da hätten sich normale Frauen um sie gekümmert und nicht diese frommen Tanten.« Für Carlo war alles, was auch nur im Entferntesten nach katholischer Kirche roch, ein rotes Tuch. Die schaurigen Erfahrungen mit der Scheinheiligkeit seiner frömmelnden Mutter Luise hatten lebenslange Spuren bei ihm hinterlassen.

»Carlo, das war ein Notfall! Mit einer vorzeitig geplatzten Fruchtblase ist nicht zu spaßen. Du weißt anscheinend gar nicht, was das bedeutet! Das Kind kommt nicht nur viel zu früh auf die Welt, sondern es ist auch noch eine Trockengeburt. Wenn irgendwelche Probleme auftreten, haben die hier in der Klinik doch ganz andere Möglichkeiten als die Reichenbacherin drüben in der Filsbach«, erklärte ihm Amelie, und zu Helena gewandt fügte sie hinzu: »Mach dir keine Sorgen, mein Kind, du bist hier in den besten Händen. Die Ärzte der St. Hedwig-Klinik haben einen guten Ruf.«

»Aber …« Carlo kam nicht weiter, denn dieses Mal fiel ihm Helena ins Wort.

»Bitte, Papa, jetzt nicht streiten!« Die einzelnen Wörter kamen ihr nur schwer über die Lippen, denn es kündigte sich bereits die nächste Wehe an.

Helena beugte sich vor, krallte sich am Arm ihrer Mutter fest und hielt die Luft an. In diesem Augenblick kam die Ordensschwester herein. Sie schob Amelie unsanft zur Seite, drückte Helena zurück in die Kissen und herrschte sie an: »Atmen! Alla hopp! Oi-aus-oi-aus …! Stell dich net so on!« Dann wandte sie sich um zu Amelie und Carlo. »Und jetzt naus mid eisch!
Sunschd kennd ihr eia Dochder glei widder mit heem nemme!«

Die Schwester sah nicht aus, als würde sie scherzen. Und so blieb Amelie und Carlo nichts anderes übrig, als zu gehen. Trotzdem konnte sich Carlo beim Verlassen der Klinik nicht verkneifen, Amelie zuzuflüstern: »Diese alte Schreckschraube, der könnt ich den Hals umdrehen!«

Helena war allein im Zimmer zurückgeblieben. Auch wenn die Schwester grob gewesen war, so hatte ihr das gleichförmige tiefe Ein- und Ausatmen doch geholfen. Langsam erholte sie sich von der letzten Wehe. Sie musste versuchen, ruhiger zu werden und Kräfte zu sammeln, denn die nächsten Stunden würden ihr alles abverlangen. Sie war jetzt ganz auf sich allein gestellt.

Helena blickte hinauf zu der großen Uhr, die über der Tür hing. Es war jetzt kurz vor zwölf. Heute würde ihr Kind nicht mehr zur Welt kommen. Sein Geburtstag würde der 19. Dezember sein. Am Freitag, den 19. Dezember 1952 würde es das Licht der Welt erblicken. Ein zartes Lächeln legte sich um ihre Lippen.

Eigentlich hatte Helena schon gar nicht mehr zu hoffen gewagt, noch ein Kind zu bekommen, denn beinahe alle ihre Freundinnen waren bereits Mutter geworden. Und nicht nur die. Auch ihre Cousine Betty hatte bereits zwei Söhne geboren und sogar ihr jüngerer Cousin Adolf war schon Vater einer kleinen Tochter. Mit ihren fast 29 Jahren zählte sie zweifellos zu den Spätgebärenden.

 

Helena wurde aus ihren Gedanken gerissen, denn die nächste Wehe kündigte sich mit voller Wucht an. Dieser Schmerz war so unbeschreiblich, nie zuvor hatte sie Derartiges erleiden müssen. Nicht einmal die schrecklichen Gallenkoliken, die sie immer wieder während des Krieges heimgesucht hatten, waren so schlimm gewesen. Sie atmete tief ein und aus, so wie es ihr die Schwester gezeigt hatte. Langsam entspannte sich ihre Muskulatur wieder ein wenig. Sie schaute erneut hinauf zur Uhr. Die Abstände zwischen den Wehen schienen kürzer zu...

Erscheint lt. Verlag 31.1.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
ISBN-10 3-95428-797-8 / 3954287978
ISBN-13 978-3-95428-797-0 / 9783954287970
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