Ein herrliches Vergessen (eBook)

(Autor)

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2019 | 1. Auflage
336 Seiten
Lindemanns (Verlag)
978-3-96308-033-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein herrliches Vergessen -  Petra Hauser
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Als Willi geboren wird, in Straßburg im Kriegsjahr 1915, passt er nicht in die Lebensplanung seiner Eltern. Sie sind im Hotelgewerbe tätig, führen ein unstetes Leben und ihre Zukunft ist ungewiss. Der Kleine lernt, den Mangel an Zuwendung als Freiraum zu nutzen. Er verlässt sich zunehmend auf seine eigenen Kräfte und Ideen, Widerstände nimmt er als Herausforderungen an. Der junge Mann macht eine Ausbildung zum Kaufmann und lernt die Liebe seines Lebens kennen. Dann aber muss er in den Krieg. Nach dem Krieg schafft er es, mit einer umfassenden Vollmacht der Militärregierung ausgestattet, das erste der zerstörten Karlsruher Kinos wiederzueröffnen. Seine Familie und einige gute Freunde helfen ihm dabei. Einfühlsam spürt die Autorin die Kraftquellen und Vorbilder ihres Helden auf, zeigt, wie die politischen Ereignisse Einfluss nehmen auf seine Entwicklung und wie sich seine ureigenen Charaktereigenschaften durchsetzen.

11

Der fünfjährige Willi fühlte sich wohl im gemütlichen alten Haus in den Weinbergen über dem Bodensee, das der Familie Regelmann gehörte. Familie Regelmann bestand aus dem halbseitig gelähmten Herrn Regelmann und seiner Frau, Mine und Fried Frei, Mines Mutter, Madame Ponard, und der Haushälterin, Frau Amalie Köhler, die nun während der Woche oben unterm Dach in einem eigenen Zimmer wohnte. Mitten zwischen ihnen allen befand sich Willi in einer Prinz-auf-der-Erbse-Situation. Sein Selbstwertgefühl war stark und unerschütterlich, denn viele Male am Tag wurde er gelobt, selten wurde er ermahnt. Die Tadel, die strengen Blicke, gerunzelten Stirnen lösten, wenn sie ihn trafen, Unbehagen bei ihm aus, sodass er sich bemühte, solche Spannungen schnell wieder zu beheben, indem er genau das tat, was man von ihm erwartete. Vordergründig jedenfalls. Ohne Freude daran, gar mit Widerwillen, aber gerade das waren die lehrreichsten Momente, wenn er nämlich spürte, wie gut er das konnte: etwas tun, was ihm nicht gefiel, weil es andere für richtig hielten. Er musste nicht immer mit dem Kopf durch die Wand. Mit seinem verträumten Blick saß er da, klein und zierlich, hellblond, fein gekleidet, und wartete einfach auf die Lücken in der Zeit, die sich von selbst ergaben, in die er hineinschlüpfen konnte und damit raus aus dem Korsett, das die Großen ihm anlegten.

Wenn die Frauen weg waren, Amalie beschäftigt und Herr Regelmann in eines seiner vielen täglichen Schläfchen versunken war, dann schlich Willi sich hinaus in den großen Garten. Dann kam die Stunde, die er allein regierte. Langsam, Zentimeter für Zentimeter, nahm er das terrassenförmige Grundstück in Besitz. Er bewegte sich in größer werdenden Kreisen weg vom Haus bis an die Ränder des Gartens, die von dicken Haselnussbüschen gesäumt waren. Er öffnete das Gatter zum Hühnerstall, tappte durch den matschigen, rutschigen grüngrauen Kot der Hühner, versuchte sie zu packen und musste den Kopf schütteln angesichts ihres hektischen Aufflatterns und ängstlichen Kreischens, all ihrer Anstrengungen, ihm zu entkommen. Warum nur wollten sie nicht mit ihm spielen? Er hatte ihnen doch Haferflocken mitgebracht, stibitzt aus Amalies Schrank. Sorgfältig schloss er das Gatter wieder hinter sich, nachdem er sich genug über die Sturheit der Hennen und das aufgeplusterte Gehabe des Hahnes gewundert hatte. Diese dummen Hennen waren kein Ersatz für Chouchou, der inzwischen in den „Hundehimmel“ geflogen war, irgendwann nachts, Willi hätte das gerne gesehen, einen fliegenden Hund. Leider hatte er es verpasst und in ihm blieb eine tiefe Enttäuschung über Chouchous klammheimliches Verschwinden.

Willi setzte seine Expedition fort, ging den Mittelweg zwischen den Beeten entlang und schließlich durchs Gras hinüber zum Spalierobst und zu den auf ein Holzgestänge aufgebundenen Brombeerranken. Er horchte auf die Glockenschläge der beiden Kirchen, zählte: eins, zwei, drei, vier, fünf. Wenn sie sechs schlugen, dann konnte es sein, dass bald schon Papafried heimkam, und mit ihm begann eine ganz besondere Zeit. Von dem Augenblick, an dem Fried die Tür zum Haus öffnete, heftete Willi sich an seine Fersen, und das hieß, er wurde Zeuge, wie Fried überall nach dem „Rechten“ sah. Alles Lose, Schiefe oder Wackelige wurde zurechtgerückt: das Gatter um den Hühnerstall, das Schloss am Gartentor, der Klappladen am Schlafzimmer der Regelmanns, der mit seinem Gescheppere verhinderte, dass Frau Regelmann wenigstens eine Mütze voll Schlaf nehmen konnte zwischen all dem Tun und Machen der Nächte an der Seite des kranken Ehemannes. Manchmal auch gab es nichts zurechtzurücken, dann hatte Fried irgendeine Idee und sagte: „Komm mit in die Werkstatt, Willi, wir haben was zu tun, wir zwei beide.“

Ideen gingen Fried nicht aus. Sie bastelten zum Beispiel ein raffiniertes Gestell. Es sah aus wie ein großer Vogel, stand auf hohen Beinen, hatte allerdings drei Beine, nicht nur zwei.

„Damit es nicht kippt, verstehst du?“

Dann wurden Wäscheklammern auf einen Rahmen geschraubt. „Da, rüttel’ mal dran, das ist stabil, da kannst du einen Ochsen dran aufhängen.“ Nun musste nur einer, das konnte gut Willi sein, weil er die ganze Konstruktion mit entworfen hatte und sozusagen dadurch ein Experte war, die Zeitung einklemmen und damit hatte Herr Regelmann die Möglichkeit, sie auch zu lesen, denn das konnte er noch, wenn man sie ihm hinhielt.

Auch beim Umblättern wäre Willi wieder gefragt. Damit Herr Regelmann bestimmen konnte, wie nah er die Zeitung brauchte, schraubte Fried noch an jedes Bein ein Rädchen, das sich in einer Aufhängung drehte und so und so und dahin und dorthin geschubst oder gezogen werden konnte. Willi war fasziniert von diesem besonderen Gestell.

„Jetzt könnet ihr ein Patent anmelden, Fried“. Mine war ebenso begeistert wie Willi und wie Herr Regelmann.

„Ein Patent?“

„Mhm, ja, also komm mal her, setz dich auf meinen Schoß, dann erklär ich dir das ...“

Patent, patent. Der Papafried war patent. Was für ein Glück hatte Willi, so einem patenten Papa helfen zu dürfen. Er liebte diese Nachmittage der geschäftigen Zweisamkeit und freute sich während der elendig langen Tagesstunden darauf. Aber auch die Tageszeit lernte er zu meistern. Er streifte umher im Haus, im Garten. Eines Tages entdeckte er dort, wo die Haselsträucher von unten her holzig wurden, zwischen ihren Blättern etwas, das seine Aufmerksamkeit magisch anzog. Einen Blick aus zwei grün-grauen Augen. Zwei Augen, die einen betrachten so wie man sie, das ist immer wieder etwas Aufregendes, etwas, das zu Herzen geht, das gegen verschlossene Türen in uns stößt und sie auftut.

Willis Neugier konnte nur befriedigt werden, indem er die Haselzweige wegbog und sich zum Maschendrahtzaun durcharbeitete, der den Regelmann’schen Garten vom Nachbargrundstück abgrenzte. Dort hockte zwischen noch mehr Gestrüpp ein kleines Mädchen mit einem goldbraunen Lockenkopf. Tausende von Haarkringelchen flimmerten und glänzten in einem Sonnenstrahlenbündel, das sich auf sie ergoss.

„Bist du denn der Willi?“, fragte das Mädchen sehr vernünftig.

„Ja, und wie heißt du?“

„Helene, aber meine Familie ruft mich Heli, obwohl ich das nicht so gerne mag. Was meinst du, kannst du mir mal helfen, hier das Loch größer zu machen, dann könnten wir zusammen spielen, dort bei dir oder hier bei mir, wie du willst.“

Willi staunte, was sie bereits geschafft hatte. Eine brüchige Stelle im Maschendraht hatte sie zum Ausgangspunkt gewählt für eine gezielte Befreiungsaktion. Sie hatte die Maschen aufgebogen, eine nach der anderen, aber das entstandene Loch war kaum groß genug, einen Kinderkopf hindurchzustecken und befand sich noch direkt am Boden.

Willi kniete sich ins weiche Unkraut und begann Helene zu unterstützen. Kurze Zeit später schob sie sich durch die entstandene Öffnung hindurch zu Willi und da kniete sie vor ihm und lächelte ihn an.

Als sie nebeneinanderstanden, stellte Willi fest, dass sie ihn ein winziges bisschen überragte.

„Wie alt bist du?“

„Ich bin sechs, aber ich werde bald sieben sein. Und du?“

„Ich bin schon fünf.“

„Gut“, nickte sie, so als ob es eine Bedeutung hätte.

In diesem Augenblick ertönte ein Ruf aus der Ferne: „Heeeli, kommst du bitte sofort hierher, wir müssen jetzt gehen.“

„Wohnst du denn gar nicht da nebenan? Wohin musst du denn gehen? Kommst du bald wieder?“

Willi schoss seine Fragen ab auf das gekrümmte Hinterteil seiner neuen, seiner ersten wirklichen Freundin, voll Angst, er könne sie, kaum gewonnen, schon wieder verloren haben.

„Ja, ich muss. Hier wohnen meine Großeltern. Aber ich komme wieder. Bald.“

Schon war sie weg, wie eine Elfe aus dem Märchen.

Von da an hatten Willis Tage einen neuen Programmpunkt: Sobald er sich aus dem Dunstkreis der Erwachsenen stehlen oder mit ihrer Erlaubnis und der Aufforderung „geh spielen“ in den Garten begeben konnte, bahnte er sich einen Weg zum Loch im Maschendraht. Bald musste er sich mit einem Stock den Weg freischaffen, weil die Brombeerhecken schlangengleiche Stängel trieben, und mancher Kratzer blieb dabei auf seinen Händen, Armen und sogar in seinem Gesicht zurück. Dann stellte er sich an den Zaun zum Nachbargarten und starrte hinüber zum Nachbarhaus, merkte kaum, dass es dunkel wurde um ihn her, manchmal erlösten ihn erst Mines ängstliche Rufe aus einer traumähnlichen Erstarrung.

Eines Tages erschien sie wieder. Heli! Da krabbelte er das erste Mal hinüber in den Nachbargarten. Sie spielten mit Helenes Ball, ihren Puppen. Beim nächsten Mal brachte Willi seinen Reifen mit und sie wagten sich auf den Hof des Nachbarhauses, spielten zwischen der Teppichstange und unter den Wäscheseilen. Irgendwann einmal kam ein großes Mädchen dazu, das genau die gleichen Haare hatte wie Helene. Auch sie begrüßte ihn: „Bist du der Willi?“

Sie lächelte ihn an und schenkte ihm ein Stück Schokolade. Als sie wieder im Haus verschwand, erklärte Helene ihm, dass das ihre Mutter gewesen sei.

Da wollte er Schluss machen mit dem Versteckspiel. Beim Abendessen, als sich die ganze erweiterte Regelmannfamilie um den Tisch versammelt hatte, erzählte er von seiner Eroberung und merkte lange nicht, dass alle Erwachsenen ihn anstarrten, Messer und Gabel zur Seite legten und aufhörten zu kauen. Er sah nicht, dass sie einander Blicke zuwarfen, und erst als Frau Regelmann hervorstieß: „Da muss man was unternehmen“, bemerkte er die Spannung im Raum.

Beim Gutenachtkuss, den Mine ihm immer nach dem Beten gab, fing sie an, ihm zu erklären, dass er das nicht dürfe, nicht mit „diesem Kind“ von „dieser Frau“ spielen, weil das...

Erscheint lt. Verlag 19.12.2019
Reihe/Serie Lindemanns
Lindemanns Bibliothek
Verlagsort Bretten
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Karlsruhe • Kino • kireg
ISBN-10 3-96308-033-7 / 3963080337
ISBN-13 978-3-96308-033-3 / 9783963080333
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