Edinburgh (eBook)

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2020 | 1. Auflage
304 Seiten
Albino Verlag
978-3-86300-297-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Edinburgh -  Alexander Chee
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Fee ist zwölf Jahre alt, schüchtern und singt im Knabenchor einer Kleinstadt in Maine. Als es während eines Sommercamps zu sexuellen Übergriffen durch den Chorleiter kommt, schweigt er aus Scham - selbst dann noch, als sein bester Freund das nächste Opfer zu werden droht. Der Chorleiter wird schließlich verhaftet, doch Fee kann sich sein Schweigen nicht verzeihen. Jahre später, inzwischen Schwimmlehrer an einem Internat, wird er erneut mit den schmerzhaften Erlebnissen seiner Vergangenheit konfrontiert. 'Edinburgh' erzählt ergreifend von der Suche nach Selbstbestimmung im Schatten traumatischer Erfahrungen. Zugleich ist der Roman eine einfühlsame Coming-of-Age-Geschichte, anspielungsreich, voller mythologischer Verweise - verfasst in einer poetischen Sprache, die einen gleichsam hypnotischen Sog entwickelt.

Alexander Chee ist Autor der Romane 'Edinburgh' und 'The Queen of the Night'. Seine Essays und Literaturkritiken erschienen unter anderem in The New Republic, The Los Angeles Times und Slate. 'Wie man einen autobiografischen Roman schreibt' ist seine erste Essaysammlung. Alexander Chee unterrichtet Creative Writing am Dartmouth College und lebt in New York.

Alexander Chee ist Autor der Romane "Edinburgh" und "The Queen of the Night". Seine Essays und Literaturkritiken erschienen unter anderem in The New Republic, The Los Angeles Times und Slate. "Wie man einen autobiografischen Roman schreibt" ist seine erste Essaysammlung. Alexander Chee unterrichtet Creative Writing am Dartmouth College und lebt in New York.

LEUCHTKÄFERLIEDER


PHI


1

Im Jahr meines zwölften Geburtstags, an einem Nachmittag Ende November, habe ich ein Vorsingen für den Pine-State-Knabenchor. Auf eigenen Wunsch, soweit ich mich erinnere. Im Probenraum einer steingrauen Kathedrale, irgendwo nicht weit vom Longfellow Square in Portland, Maine, singe ich die Tonleitern nach, die mir ein bebrillter, eulenhafter Mann vorklimpert, rosige Finger, die über schwarze und weiße Tasten huschen.

Sehr schön, sagt er, deine Stimme. Beachtlicher Stimmumfang.

Auf dem Klemmbrett neben ihm eine Liste mit Namen, einige mit kleinen Häkchen versehen. Nachmittagslicht fällt durch die bunten Bleiglasfenster mit Bibelszenen, die ich nicht identifizieren kann, weil ich im Gottesdienst zu unaufmerksam bin. Das Licht projiziert ihre strahlenden Farben auf die nackte Wand mir gegenüber.

Wenn ich singe, fühle ich mich genau wie diese Wand jetzt. Darum bin ich hier.

Was kennst du denn für Lieder, fragt er. Er schaut mich über den Brillenrand an, als wollte ich ihm davonlaufen.

Weihnachtslieder, sage ich.

Er schlägt ein Notenheft auf und reicht es mir.

Ich singe Stille Nacht, heilige Nacht. Herbei, o ihr Gläubigen. Guter König Wenzeslaus. Hört der Engel helle Lieder. Das ist mein Lieblingslied, sage ich, als ich fertig bin. Ich habe meine Stimme noch nie allein mit Klavier gehört. Die anschließende Stille, wenn ich mit dem Singen aufhöre, fühlt sich ebenfalls neu an.

Und Rhythmusgefühl, sagt er.

In Naturwissenschaften haben wir gelernt, dass wir die Luft beim Atmen in Kohlenstoff verwandeln, nicht ganz, aber fast wie Rauch. Wir sind wie Feuer. Nur langsamer. Ich atme tief ein und warte. Voller Ungeduld.

Jungs wie dich brauchen wir hier, sagt er endlich und setzt ein Häkchen hinter meinen Namen.

Ich gehe mit der Notenmappe für die erste Probe unter dem Arm, den Platz im Chor habe ich sofort bekommen. Im Auto nach Hause kann ich es kaum erwarten. Ich denke an den seltsam weichen Händedruck des Chorleiters. Ich heiße Eric, hatte er gesagt. Im Chor gibt es noch einen Eric. Ich bin Big Eric, er Little Eric.

Hast du mir zugehört, höre ich meine Mutter sagen, während sie uns durch den Feierabendverkehr über die Brücke zwischen Portland und Cape Elizabeth fährt.

Nein, sage ich. Hatte ich nicht.

In Korea, erzählt mir mein Großvater, als wir wieder zu Hause sind, kennt jeder alle Lieder. Und manchmal singen dann alle los, wie im Musical. Sein Korea ist ein Land der Weisheit und der glücklichen Familien, und ich frage mich, warum er dann hier ist, in Maine.

Tags darauf trifft sich bei uns der Koreanisch-Amerikanische Freundschaftsverein von Maine zu einer Kimchiparty. Cape Elizabeth ist eine Kleinstadt, die immer noch zur Hälfte aus Bauernhöfen besteht, und unser Grundstück liegt am Stadtrand, mehrere Hektar mit Blick auf das angrenzende Marschland. Dreizehn Familien kommen zu uns und stellen den Hof mit ihren Autos zu. Die dunkelhaarigen Kinder kommen angerannt und rufen nach mir. A-phi-as, A-phi-as, skandieren sie. Die Eltern teilen sich auf, die Mütter in die Küche meiner Großmutter, die Väter in die Garage. Die Mütter schneiden in der Küche Kohl, verarbeiten Paprika und Fisch zu Hack. Die Väter holen sich je ein Bier und eine Schaufel und ziehen los, um das Loch auszuheben, in dem die riesigen Kimchifässer stehen werden.

Mein Großvater und meine Großmutter wohnen in der früheren Scheune, die für sie ausgebaut wurde und durch eine überdachte Passage, die meinem Vater auch als Brennholzlager dient, mit dem Wohnhaus verbunden ist. Hier halte ich mich versteckt. Meine Großeltern sind vor ein paar Jahren aus Korea hergezogen. Es gab da ein paar Turbulenzen, sagt mein Vater, wenn man ihn drauf anspricht. Er hat das Haus eigenhändig für sie umgebaut, zusammen mit den Männern, mit denen er jetzt das Loch ausheben wird. Meine Mutter braucht ihre eigene Küche, hatte mein Vater zu meiner lachenden Mutter gesagt, Nein, im Ernst.

Korea hat große Probleme, würde mein Großvater sagen. Und gelegentlich hinzufügen, Maine, Maine ist okay. Viele Dicke hier. Aber okay. Meine Großmutter sagt nur, Die Enkelkinder brauchen mich.

Vor den anderen Kindern fürchte ich mich ein bisschen. Ich kann kein Koreanisch, mein Vater wollte das nicht, und oft verstehe ich sie kaum. Findest du lustig, Rundauge, fragen sie meinen Bruder, meine Schwester und mich, wenn sie mir wieder einen Streich gespielt haben. Mein Bruder Ted und meine Schwester Sam, beide jünger als ich, finden sie lustig. Als sie mit meinem Monopolyspiel beschäftigt sind, schleiche ich mich zur Hintertür hinaus, dorthin, wo die Männer graben.

Schaut mal, sagt mein Großvater lachend, Fuchs ist hier. Und hebt mich hoch. Ich bin erstaunt, wie stark er ist, dann setzt er mich wieder ab. Fuchs gräbt Loch, schaut mal.

Die Männer ringsum unterhalten sich weiter auf Koreanisch, einschließlich meines Vaters, und ich begreife, dass sie ihn überhaupt nicht gehört haben. Englisch perlt an ihren Ohren ab. Ich setze mich auf den Boden, schaue ihnen zu und warte auf das Loch.

***

Ich lerne Peter bei meiner ersten Probe kennen. Die anderen Jungs und ich haben vorher nicht miteinander geredet, doch unsere Stimmen fügen sich ineinander, als wäre nichts selbstverständlicher. In der Kapelle, die uns als Probenraum dient, sitzen wir zwanzig Jungs auf Metallstühlen, die hell mitklirren, während wir uns durch die erste Hälfte dieses Abends im frühen Dezember singen. Ein paar Jungs kenne ich vom Sehen, aus der Stadt, die meisten nicht. Der neben mir dreht sich beim Singen immer wieder zu mir und schneidet lustige Grimassen, sein weißblondes Haar eine flammende Kerze.

Die Jungs hier sind fast ausnahmslos blond. Will sagen, die einzige Ausnahme bin ich.

Jungs, sagt Big Eric, der Chorleiter. Begrüßt bitte unsere Neuzugänge. Aphias Zhe, Peter O’Hanlon. Als sein Name fällt, dreht sich mein blonder Sitznachbar zu mir um und sagt, Du bist auch neu?

Bist du Chinese?, fragt ein anderer.

Nein, sage ich. Koreaner. Halb. Das auszusprechen ist immer, als würde ich der Länge nach in zwei Hälften geteilt. Wie eine Kuh, für ein Fleischdiagramm.

Ich bin halb Inder, sagt Peter im Gegenzug.

Die Probe geht weiter. Danach stehen wir am Bordstein und warten darauf, dass unsere Eltern uns abholen. Willst du auch was, sagt Peter und hält mir eine Dose Kautabak hin.

Nein, aber vielen Dank, sage ich. Er rülpst rote Spucke auf die Straße.

Komm doch mal vorbei, zum Radfahren, sagt er.

Okay, sage ich.

Er läuft, und ich fühle die Luft von ihm über mich hinstreichen, wo immer wir sind. Und wo immer ich bin, erreichen mich seine Geräusche vielleicht nicht als einzige, aber als erste: Sie drängeln sich vor alles andere. Meine Mutter nennt ihn flachsblond, und so nennt man solches Haar wohl, so licht, so hell, so strahlend, als wäre Sonnenlicht nur eine blasse Erinnerung daran.

Was willst du von ihm, frage ich mich. In ihm herumlaufen und nie wieder herauskommen, antworte ich. Er soll mein Haus sein. Nachfolgend eine Liste aus meinem Schulheft:

Mag Kautabak und raucht

Rauskriegen: Was ist New Model Army, Gang of Four, D.O. A.

Peter, Peter, Feuerfresser, küsst die Mädchen, wärmt sie besser

Hasst seine Schwester, liebt meine

Will nicht nach Hause, nie: Wieso?

Ich habe mir beigebracht, im Gehen zu lesen, um mehr Zeit dafür zu haben. Mein Vater will nicht, dass ich Koreanisch lerne, Englisch und nur Englisch, sagt er, und so laufe ich wochenlang durch die Schulflure und lese im Webster’s Dictionary. Die anderen Kinder ziehen als bunte, leise lärmende Farbschlieren an mir vorbei. Wenn ich lese, höre ich nichts von dem, was sie zu mir sagen. Ich höre nur die Stimme in meinem Kopf, die mir aus dem Buch vorliest, tiefer als meine eigene. Die Stimme lässt neue Wege, neue Welten anklingen, noch während sie mich unerbittlich vorantreibt, weiter zum nächsten Wort. Defect, Defection, Defective. Define. Definition. Definitive. Ich blättere vor, zur nächsten Seite. Demon.

Und was wird das, wenn’s fertig ist, fragt Zach, als er sich mittags in der Schulkantine zu mir setzt. Er ist ebenfalls Chormitglied und in meiner Klasse, ein Lacrossespieler mit dem Gang eines Hirsches. Er ist zwar in meiner Klasse, aber ein Jahr älter, weil er das Jahr wiederholt, und ich verstehe nicht, was er an mir findet.

Ist für einen Vokabeltest, lüge ich.

Flachs ist, wie sich herausstellt, eine Pflanzenfaser, aus der Leinen gemacht wird. Durchscheinend, lichtdurchlässig, gerade noch so. Flachs, Flachskopf. Peter.

Als fünf Monate später der Frühling kommt, bin ich Stimmführer der ersten Soprane. Wie mir Big Eric eingangs erklärt hat, soll ich die anderen mit meiner Stimme führen. Jetzt geht bei den Proben sein Blick ständig zu mir, während meiner auf ihn gerichtet ist. Ich singe und folge Big Erics Hand, wie sie in der Luft auf- und abschwingt, das stumme Schlagzeug zu unserem Gesang. Wann immer sich unsere Blicke zu treffen drohen, fixiere ich stattdessen einen der Lichtpunkte auf seinem goldenen Brillengestell. Ich glaube nicht, dass er sich dadurch täuschen lässt. Mir ist immer, als könne er mir bis in die Kehle hinunterschauen, bis knapp unter den Punkt, wo meine Stimme beginnt, dorthin, wo, wie er sagt, der Atem wohnt.

Wenn meine Stimme beim Aufwärmen den Tonleitern folgt und sich unsere Stimmen wie ein Muskelstrang um den knöchernen Klavierklang legen, fühle ich mich größer. Als würde der Raum den Stimmen gehören, die ihn ausfüllen, wie meine Kehle meiner Stimme gehört. Die Spitzentöne sind mir und Peter vorbehalten. Die anderen Jungs...

Erscheint lt. Verlag 31.1.2020
Übersetzer Nicola Heine, Timm Stafe
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Coming-of-age • Ferienlager • gay • Homosexualität • Knabenchor • Schwul • Sexueller Missbrauch • USA
ISBN-10 3-86300-297-0 / 3863002970
ISBN-13 978-3-86300-297-8 / 9783863002978
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