Der Text meines Herzens (eBook)

Das Leben der Rahel Varnhagen

(Autor)

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2019 | 1. Auflage
316 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-688-11847-2 (ISBN)

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Der Text meines Herzens -  Carola Stern
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Rahel Levin-Varnhagen gehört zu den bedeutendsten Frauen des frühen 19. Jahrhunderts. Noch heute lesen Menschen ihre Briefe. Noch heute bezaubern die Erinnerungen an Rahels legendären Salon, in dem Frauen und Männer, Adelige und Bürger, Militärs, Intellektuelle, Politiker und Künstler wie Ebenbürtige miteinander umgegangen sind. Sie verkehrte mit den großen Geistern ihrer Zeit, mit Goethe und Hegel, dem Fürsten de Ligne und Leopold von Ranke; sie war die Freundin des Preußenprinzen Louis Ferdinand, der Gebrüder Humboldt und Heinrich Heines.

Carola Stern lebte bis 1951 als Lehrerin in der DDR. In den fünfziger Jahren studierte sie an der Freien Universität und arbeitete als wissenschaftliche Assistentin am Institut für politische Wissenschaft in West-Berlin. 1960 bis 1970 Leiterin des Politischen Lektorats im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Daneben journalistische Tätigkeit für Zeitungen und Rundfunkanstalten. 1970 bis 1985 Redakteurin und Kommentatorin in der Hauptabteilung Politik des Westdeutschen Rundfunks. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. 1970 Jacob-Kaiser-Preis, 1972 Carl-von-Ossietzky-Medaille für ihre Tätigkeit bei amnesty international, 1988 Wilhelm-Heinse-Medaille. Ab 1987 Vizepräsidentin, ab 1995 Ehrenpräsidentin des deutschen P.E.N.-Zentrums. Carola Stern starb 2006 in Berlin.Zahlreiche Buchveröffentlichungen, darunter eine Ulbricht-Biographie, ein Essayband über Menschenrechte und die Autobiographien «In den Netzen der Erinnerung» und «Doppelleben». Bei Rowohlt erschienen die Biographien über Dorothea Schlegel, «Ich möchte mir Flügel wünschen» (1991), und über Rahel Varnhagen, «Der Text meines Herzens» (1994); bei Rowohlt ? Berlin «Isadora Duncan und Sergej Jessenin. Der Dichter und die Tänzerin» (1996), «Die Sache, die man Liebe nennt. Das Leben der Fritzi Massary» (1998) und «Männer lieben anders. Helene Weigel und Bertolt Brecht» (2000).Im Jahr 2004 wurde Thomas Schadts Film «Carola Stern - Doppelleben» ausgestrahlt.

Carola Stern lebte bis 1951 als Lehrerin in der DDR. In den fünfziger Jahren studierte sie an der Freien Universität und arbeitete als wissenschaftliche Assistentin am Institut für politische Wissenschaft in West-Berlin. 1960 bis 1970 Leiterin des Politischen Lektorats im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Daneben journalistische Tätigkeit für Zeitungen und Rundfunkanstalten. 1970 bis 1985 Redakteurin und Kommentatorin in der Hauptabteilung Politik des Westdeutschen Rundfunks. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. 1970 Jacob-Kaiser-Preis, 1972 Carl-von-Ossietzky-Medaille für ihre Tätigkeit bei amnesty international, 1988 Wilhelm-Heinse-Medaille. Ab 1987 Vizepräsidentin, ab 1995 Ehrenpräsidentin des deutschen P.E.N.-Zentrums. Carola Stern starb 2006 in Berlin. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, darunter eine Ulbricht-Biographie, ein Essayband über Menschenrechte und die Autobiographien «In den Netzen der Erinnerung» und «Doppelleben». Bei Rowohlt erschienen die Biographien über Dorothea Schlegel, «Ich möchte mir Flügel wünschen» (1991), und über Rahel Varnhagen, «Der Text meines Herzens» (1994); bei Rowohlt ∙ Berlin «Isadora Duncan und Sergej Jessenin. Der Dichter und die Tänzerin» (1996), «Die Sache, die man Liebe nennt. Das Leben der Fritzi Massary» (1998) und «Männer lieben anders. Helene Weigel und Bertolt Brecht» (2000). Im Jahr 2004 wurde Thomas Schadts Film «Carola Stern - Doppelleben» ausgestrahlt.

So habe ich den Titel und den Stand: Fremde


Breslau, Teplitz und die Jägerstraße in Berlin

Es hat nie eine Epoche gegeben,

wo überall und auf allen Punkten

die alte und die neue Zeit

in so schneidenden Kontrast

getreten sind.

Wilhelm von Humboldt

Dieser Haltern ist meschugge. Der Wagen hat noch nicht einmal die Stadtgrenze erreicht, da fängt er schon zu plappern an und brabbelt, quasselt, schwadroniert in einem fort. Hat Haltern Neuigkeiten zu berichten? Weiß er etwas, was die Damen interessiert? Nein. Er käut nur alten Klatsch wieder, redet von nichtssagenden Personen und glossiert die langweiligen Geschichten mit trivialen Redensarten. «Die Bestrafung folgt dem Laster», das ist so einer seiner dummen Sprüche. Oh, dies Geseires, « dieses aber und abermal gespreche»!

Unbegreiflich, wie die Mutter das erträgt. Läßt sie sich beeindrucken von diesem Mann? Amüsiert sie gar, was er da schwätzt?

Diese Salbaderei, Maulfertigkeit und Zungendrescherei! Angestrengt blickt Rahel aus dem Fenster, tut so, als sei sie ganz von dem gefesselt, was da draußen vor sich geht, bemüht sich, nicht mehr hinzuhören. Doch das duldet Haltern nicht: «Hören Sie zu, sie mögen zu hören, Rahel hören Sie zu.»

Vier lange Tage muß Rahel diesen Herrn ertragen. Morgen wird sie den ganzen Tag die Augen schließen und so tun, als schlafe sie.

Die Reisegesellschaft besteht aus vier Personen: der Witwe Chaie Levin, ihren beiden Töchtern Rahel und Rose und dem obligatorischen, von der Mutter bestimmten männlichen Begleiter Joseph Haltern, einem jüdischen Gelehrten, der in einem Kontor beschäftigt ist und nebenbei aus dem Deutschen ins Hebräische übersetzt.

Die Berliner Damen fahren auf Besuch zu ihren Breslauer Verwandten, dem «Onkel» Liepmann Meyer, in Wahrheit gar kein Onkel, sondern ein Vetter der beiden Mädchen oder, um es ganz genau zu sagen, der älteste Sohn der ältesten Schwester ihres Vaters.

Da dieser, Levin Markus, und sein Neffe gleichaltrige Jugendfreunde gewesen waren, hatte Meyer nach dem Tod des Vaters eine Art Vormundschaft für die Levinschen Kinder übernommen und Liepmann, Rahels Bruder, als kaufmännischen Lehrling zu sich geholt.

Sicherlich reisen die Herrschaften in der viersitzigen Familienkutsche der Levins, steigen unterwegs in den besten Poststationen ab und können sich Annehmlichkeiten leisten, die andere sich versagen müssen. Auch ist für sie das Reisen nicht so außergewöhnlich und selten wie für die meisten ihrer Zeitgenossen. Doch bleibt es anstrengend, ja strapaziös.

Ein Straßennetz, vergleichbar dem französischen, gepflasterte «chausseés» gibt es im Preußen des ausgehenden 18. Jahrhunderts nicht. Die Kutsche rumpelt auf unbefestigten unebenen Wegen über Wurzel und Geäst hinweg, durchquert Sandkuhlen, plumpst in mit Schlamm gefüllte Löcher und schüttelt die Insassen kräftig durch. Für zwei preußische Meilen, etwa vierzehn Kilometer, braucht der Wagen gut drei Stunden.

Aufheiternde landschaftliche Schönheiten kann Mademoiselle Levin nicht entdecken. Die Gegend ist eintönig, flach und sandig. Meilenweit dürftige Ackerflächen und mit einzelnen Kopfweiden bestandene Wiesen. Hier und da Schonungen und Gehölz, ein Stückchen Kiefern- oder Buchenwald. Die Dörfer liegen wie verlassen da. Die Bewohner arbeiten auf den Feldern, um die Ernte einzubringen. Vom letzten Gehöft eines Örtchens bellen ihnen ein paar struppige Köter hinterher.

Das Wetter meint es gut, es ist bedeckt, leicht regnerisch. So hält man’s in dem engen Kasten besser aus als bei sommerlicher Schwüle. Ein leichter Wind durchfährt die Schafgarbenbüsche am Wegesrand und bläst Körner gelben Sandes in die Fensterritzen des Levinschen Reisewagens. Alles wäre zu ertragen, wenn nicht dieser Haltern …

«dieses nah sitzen, dieses Gestinke nach Schweiß … diese ewige Rotz nase, dieses bepatsche aller Lebensmittel … und sein Nießen in beyde Hände und die Spuke einreiben, und sein gar nicht Schlafen, und seine Nähe und dieses Krum sitzen, und dieses ordinair!» Mama, schwört die Tochter, «so reis ich nicht zurück …»

Der Weg durch Schlesien folgt der Oder: Glogau, Steinaus, Liegnitz, weit öffnet sich die Ebene hier. Vor den Dörfern, die mit ihren strohbedeckten Häusern und weiß gestrichenen Türen und Fensterrahmen wohlhabender wirken als die in der Mark, stehen hohe Pfosten, an die Tafeln mit den Ortsnamen angeschlagen sind. Erst seit ein paar Jahrzehnten gehört die ehemals habsburgische Provinz zu Preußen, erobert in den Schlesischen Kriegen.

Endlich, am vierten Reisetag, nähert sich der Wagen seinem Ziel. Etwa eineinhalb Meilen vor der Stadt kommt ihm eine Equipage entgegen. Ihr entsteigt die «Tante» Meyer mit dem Lehrling aus Berlin. Die Levins sind glücklich, ihren Liepmann zu umarmen. Und Rahel wird endlich diesen Haltern los.

Hätte sie gewußt, daß Goethe, den sie vergöttert, vor vier Jahren sehnlichst gewünscht hatte, aus diesem «lärmenden, schmutzigen, stinkenden Breslau» bald erlöst zu werden, vielleicht hätte Rahel die Stadt kritischer betrachtet. Aber da sie ganz unvoreingenommen ist, gefällt ihr, was sie sieht: hübsche Häuser und Gebäudefronten, gepflegte Gärten, Plätze, viel mehr Equipagen als etwa in Berlin und die Menschen «zum Vergnügen gestimmt». Aus Kirchen und Klöstern strömen Wohlgerüche und Musik, dazu Mönche, Nonnen, Priester in merkwürdigen Kostümen, wie sie Rahel nie gesehen hat: Der Katholizismus ist in Preußens Hauptstadt so kaum zu besichtigen.

Breslau gilt als die Handelsmetropole an der Oder, denn hier vereinen sich die Verkehrswege von der Ostsee, aus Österreich und Italien mit jenen, die von Westeuropa nach Galizien, Polen, Rußland führen. Besonders der Handel mit Tuch und Leinwand blüht.

Zu den wohlhabenden Kaufleuten und Bankiers der Stadt gehört auch Liepmann Meyer. Als Königlicher Hoffaktor liefert er Getreide an das preußische Heer und Silber für die Münze in Berlin. Auf den städtischen Listen der jüdischen Generalprivilegierten steht der Name Meyer obenan. Aufgrund seiner hohen Ämter im Gemeindeleben gehört der «Onkel» zu den führenden Köpfen der schlesischen Judenheit und besitzt in Breslau eine eigene Synagoge. Der Siebzigjährige gilt als reich und mächtig, er muß eine allseits anerkannte, bedeutende Persönlichkeit gewesen sein.

In seinem Haus trifft die dreiundzwanzigjährige Rahel Levin im August des Jahres 1794 auf eine ihr bis dahin unbekannte Welt. Sie reagiert teils neugierig-interessiert und amüsiert, fühlt ihren Sinn fürs Komische angesprochen, doch überwiegen Abwehr und Erschrecken. Die aufgeklärte junge Frau kommt zum erstenmal mit dem strenggläubigen Judentum in näheren Kontakt.

Allerdings, dieser Begriff fällt in ihren Äußerungen nicht. Sei es, daß dies bei Levins nun mal so üblich ist, ohne daß sie selber wissen, wie es dazu kam, sei es, daß sie sich von Strenggläubigen auch begrifflich unterschieden wissen möchten – Rahel nennt die Juden, denen sie hier begegnet, «Böhmen», ihr Aussehen, ihr Verhalten « böhmisch ». Das mag abgeleitet sein von dem hebräischen běhema, was soviel wie Tier bedeutet oder Ochse und im übertragenen Sinne unzivilisiert, Dummkopf oder Narr.

Mögen dem «Onkel» die jüdischen Religionsgesetze ungleich mehr bedeuten als den Verwandten aus Berlin – daran stört sich Rahel nicht. Sie wundert sich auch nicht darüber, daß ihr Bruder dreimal wöchentlich früh um sechs Uhr in «die Schul», zum Talmud- und zum Tora-Studium in des «Onkels» Synagoge muß. Sie nimmt Anstoß an der Lebensart. Nichts im Haus läßt etwas von dem modernen Lebenszuschnitt des Berliner jüdischen Bürgertums erkennen. Weibliche Familienmitglieder sehen auffallend «böhmisch» aus; ihr Benehmen wirkt unfrei und gezwungen. Eine Anverwandte versteckt ihr Haar unter einer Bänderhaube «so flandusisch, groß und klatschik», wie man es in Berlin vergeblich suchen, wohl aber «in der Böhmen Gasse» anderer Städte finden würde. Zwar läßt der Kopfschmuck schon ein Teil des Haares frei, aber welche junge Frau in Rahels Umgebung hält sich denn überhaupt noch an dies altmodische jüdische Gebot, die Haare zu verbergen!

Und dann die Unterbringung! Zusammen mit der Mutter sieht sich Rahel eingesperrt in ein zum Hof hinaus gelegenes einfenstriges Kabuff, in das jedes Wort im Hause dringt, und aus dem darunter liegenden Stall hört sie das Equipagenpferd so stampfen und rumoren, als wolle es das Haus einreißen. Flöhe, ja, die gibt’s zuhauf, ein Piano forte fehlt im Haus.

Rührend sind die Gastgeber besorgt, es ihren Gästen recht zu machen. Sie sind bereit, für Rahel ein geräumiges Zimmer nach vorne heraus zu räumen. Sie bemühen sich, obgleich vergeblich, ein Klavier zu leihen, weil der Cousine so viel daran liegt. Die «Tante» kündigt an, mit ihren Gästen in die Berge fahren zu wollen. Der «Onkel» verspricht die Teilnahme an einem traditionellen jüdischen Hochzeitsfest.

Die Fürsorge der Breslauer Verwandten steht im krassen Gegensatz zum Hochmut Rahel Levins. Bald nach ihrer Ankunft sucht sie sich einen ruhigen Platz im Haus, um ihren Brüdern und jüdischen Freundinnen nach Berlin zu schreiben. Und was sie denen zu berichten weiß, das klingt so, als habe es sie aus einer Berliner Opernloge in einen orientalischen Basar verschlagen. Um zu verhindern, daß ihr Brief irgend jemand von den Meyers in die Hände fällt, behält sie ihn so lange in der Tasche, bis Feu, der aus Berlin mit angereiste Diener, ihn direkt zur Post besorgen kann. Doppelt vorsichtig hat sie die Schilderung der...

Erscheint lt. Verlag 16.4.2019
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Briefe • Emanzipation der Frau • Rahel Levin-Varnhagen
ISBN-10 3-688-11847-2 / 3688118472
ISBN-13 978-3-688-11847-2 / 9783688118472
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