Muldental -  Daniela Krien

Muldental (eBook)

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2020 | 1. Auflage
240 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61001-7 (ISBN)
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Jeder Umbruch fordert Opfer. Auch eine friedliche Revolution. Daniela Krien erzählt von Menschen, deren Leben an einem Kontrapunkt der Geschichte ins Wanken gerieten. Sie erzählt von Orientierungslosigkeit und tiefer Verzweiflung. Doch diese Romanminiaturen gehen über das Schicksal des Einzelnen hinaus; sie zeichnen ein Bild des Menschen von heute. Ein Buch über das Trotzdem-den-Kopf-über-Wasser-Halten, über das Trotzdem-Weitermachen, über das Es-trotzdem-Schaffen.

Daniela Krien, geboren 1975 in Neu-Kaliß, studierte Kulturwissenschaften und Kommunikations- und Medienwissenschaften in Leipzig. Seit 2010 ist sie freie Autorin. Ihre Romane ?Die Liebe im Ernstfall? und ?Der Brand? standen monatelang auf der Bestsellerliste und wurden in viele Sprachen übersetzt. Daniela Krien lebt mit ihren zwei Töchtern in Leipzig.

Daniela Krien, geboren 1975 in Neu-Kaliß, studierte Kulturwissenschaften und Kommunikations- und Medienwissenschaften in Leipzig. Seit 2010 ist sie freie Autorin. Ihre Romane ›Die Liebe im Ernstfall‹ und ›Der Brand‹ standen monatelang auf der Bestsellerliste und wurden in viele Sprachen übersetzt. Daniela Krien lebt mit ihren zwei Töchtern in Leipzig.

Muldental


Das Mühlenhaus steht schon lange am Rand der breiten Aue, fast zweihundert Jahre. Wenn Hans Novacek in den Vorraum trat, schaute er stets nach links. Dieser Blick war verlässlich. Dort, hinter einer Tür, wo sich früher einmal die Mahlstube eines Müllers befunden hatte, lagert auf breiten Regalen die Keramikkunst Hans Novaceks. Sie stammt aus einer Zeit, als die Leute von weither kamen, um sie zu sehen. Manches Stück schaffte es sogar über die Grenze bis in den Westen. Doch die meisten Arbeiten sind immer noch da, und die Tür hat verschlossen zu sein.

In die ebenerdige Küche dringt kaum Licht von außen. Auf dem breiten Fenstersims reihen sich große, kunstvoll bemalte Keramikgefäße, Spinnennetze hängen in den Ecken, und ein modrig feuchter Geruch beherrscht den Raum selbst im Sommer. Im Jahr der letzten großen Flut ging das Wasser der Mulde bis zum ersten Obergeschoss. Doch das Haus hat schon viele Fluten überstanden.

 

»Marie! Marie!«

Marie schaut in Richtung der Rufe; sie steigt von der Leiter und wischt sich die Hände an der Schürze ab. Ohne Eile geht sie ins Haus, durchquert die Küche bis zu dem gewölbten Durchgang, das Zimmer dahinter liegt eine Stufe höher.

»Was machst du da draußen?«, fragt Hans.

»Ich pflücke Kirschen.«

»Noch bin ich nicht tot, Marie, noch nicht!«

»Das weiß ich.«

»Schieb mich in die Küche rüber, mir ist kalt.«

»Es sind über zwanzig Grad hier drinnen. Wärmer wird es nicht«, sagt sie.

Ihr Gesicht bleibt ausdruckslos. Sie blickt zur Wanduhr, dann aus dem Fenster. Davor nichts als dichtes Gebüsch. Es ist bald Mittag und trotzdem dunkel im Zimmer.

»Mach Licht, Marie!«

Hans legt die Hände auf die Räder des Rollstuhls und schiebt sich langsam vorwärts.

»Gibt es bald Essen?«, fragt er.

»In einer Stunde. Erst mach ich den Eimer mit Kirschen voll.« Ihr Blick schweift einmal ringsum. Auch hier stehen die Fenstersimse voller Vasen, Krüge und Skulpturen. Spinnen haben dazwischen ihre Netze gewebt, Fliegen sich darin verfangen und gequält, bis sie nicht mehr zappelten.

»Hier staubt keiner ab, hier soll alles bleiben, wie es ist.«

Jedes Mal, wenn sie Hans an den Platz vorm Kamin fährt, von wo aus er fernsieht oder Zeitung liest oder sie durch einen eigens für ihn geschaffenen Durchbruch in der Wand, der auch als Durchreiche dient, bei der Küchenarbeit überwacht, spricht er dieselben Worte. Und jedes Mal antwortet sie ihm: »Nein. Hier staubt keiner ab.«

Schweigend nimmt sie eine Wolldecke aus einer Kommode und legt sie ihm über die Beine.

In dem Zimmer darüber war die Familie des Müllers gestorben, Vater, Mutter und die beiden Töchter, zwölf und vierzehn Jahre alt. Zuerst erschoss der Müller die Kinder, dann die Frau und schließlich sich selbst, aber das ist schon lange her, 1945, kurz bevor die Russen kamen. Den Parteiausweis des Müllers und die restlichen Insignien seiner kümmerlichen Macht fand man geordnet auf dem Esstisch.

Solange er denken kann, wohnt Hans in diesem Haus. Er meint, mit etwa vier das Denken begonnen zu haben.

»Was macht der Junge in der Werkstatt drüben?«, fragt er.

»Das weißt du genau.«

»Kommt auch mal was Gescheites dabei heraus?«

»Die Leute mögen seine Sachen.«

»Die Leute haben keine Ahnung.«

»Letzte Woche auf dem Mittelaltermarkt hat er guten Umsatz gemacht.«

»Ich sag’s doch. Seit der Wende sind die Leute noch dümmer geworden, als sie vorher schon waren. Mittelaltermarkt – so ein Quatsch.«

Marie verlässt den Raum. Sie atmet laut aus, dann steigt sie erneut auf die Leiter, um Kirschen zu pflücken. Schweißperlen treten auf ihre Stirn.

Es ist ein heißer Tag.

*

Auch an dem Tag im Jahr 1983, als die zwei Männer zum ersten Mal gekommen waren, hatte Marie Kirschen gepflückt und geschwitzt. Ihr üppiges blondes Haar hatte sie mit einem Tuch zurückgebunden.

»Guten Tag, Frau Novacek«, sagten die Männer, »haben Sie einen Moment für uns?«

Sie sahen zu ihr hinauf, dann schauten sie sich aufmerksam um und warteten. Marie war die Leiter heruntergekommen, hatte sich Hände und Stirn an einem Handtuch abgewischt.

Noch bevor sie fragen konnte, sagte einer der Männer: »Keine Sorge, wir beanspruchen Ihre Zeit nicht lange. Wir wollen nur eine Kleinigkeit mit Ihnen besprechen.«

Am Ufer des Bachs blühten Lilien. Auf alten Baumstümpfen thronten die Skulpturen ihres Mannes, der an diesem Tag in die Stadt gefahren war. Sie saßen am Gartentisch und tranken Kaffee aus dem Westen.

»Viele Leute gehen bei Ihnen ein und aus«, sagte der eine bedeutungsvoll.

»Wir wüssten gern, welche«, fügte der andere hinzu.

Sie ließ Zucker in die Tasse rieseln und schaute unbewegt.

»Ihr Mann ist krank. Wir wissen das. Er braucht Medikamente, nicht wahr?«

In einer Schale lagen frische Kirschen; sie steckte sich eine nach der anderen in den Mund und spuckte die Kerne in die Wiese. Sie hatte das Gefühl, als umschwirrten Insekten sie in Scharen. Ein stechender Schmerz an ihrem rechten Fuß ließ sie zusammenzucken. Sie sah, dass er voller Ameisen war. Hastig streif‌te sie sie mit dem linken ab.

»Sie sind eine vernünftige Frau, Frau Novacek«, sagte einer der Männer. »Ihre Eltern gehören zu unseren Besten. Gute Genossen, alle beide. Sie sorgen sich um Sie.«

Gelb, weiß und orange blühten die Lilien. Ihr Duft wehte zu ihnen herüber und vermischte sich mit dem scharfen Qualm von Zigaretten. Marie krümmte ihre Zehen und ließ wieder locker. Tat es noch einmal und noch einmal. Fand einen Rhythmus, der sie kurzzeitig beruhigte.

»Ihr Mann hat es in der letzten Zeit ein wenig übertrieben. Die Künstler Strutz und Malinke hatten Republikflucht geplant. Ihr Mann half ihnen, Sie brauchen das nicht zu leugnen. Nun, wie Sie sicher wissen, konnten wir das verhindern.«

Sie spuckte einen Kirschkern auf den Tisch und aß weiter.

»Wie alt ist Ihr Sohn? Zehn?«

Sie nickte.

»Guter Schüler, will sicher mal studieren.«

Sie zuckte mit den Schultern.

Die Männer wechselten sich ab. Ihre Gesichter ähnelten einander; beide rauchten Cabinet, beide rührten die Kirschen nicht an, beide tranken den Kaffee schwarz, aber mit Zucker.

»Multiple Sklerose ist eine schlimme Krankheit. Ihr Mann könnte von uns bessere Medikamente bekommen. Dann würde es vielleicht auch im Bett wieder besser gehen.«

Sie hob den Blick und sah ihnen abwechselnd in die Augen.

»Was?«, fragte sie. Ganz still saß sie nun. So still, dass ein Pfauenauge sich auf ihrem bloßen Knie niederließ und mit den Flügeln wippte.

»Na aber! Schauen Sie nicht so erstaunt. Georg Breitmann hat uns von seinem Verhältnis mit Ihnen erzählt. Ihr Mann wäre wohl nicht sehr erfreut darüber. Wenn er erführe, dass Sie sich von seinem Freund hin und wieder vögeln lassen, was würde er wohl sagen?«

Sie spürte ihren Herzschlag im Hals.

»Na, Frau Novacek, so schlimm ist das alles nun auch wieder nicht. Einmal pro Monat Bericht darüber, wer hier war und über was gesprochen wurde, und alles wird gut.«

Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr schwindelig wurde.

»Da hat der Breitmann nicht übertrieben. Sie sind wirklich eine schöne Frau, und Ihre erotischen Qualitäten, meine Herren, wenn das stimmt, was Breitmann über den vorletzten Donnerstag in Dresden berichtet hat. Donnerwetter.«

Maries Atem ging jetzt schnell, und die Männer nickten sich zu.

»So, Frau Novacek. Nun ist’s genug mit dem Theater. Sie tun ja grad so, als würden wir Sie mit Dingen konfrontieren, von denen Sie gar nichts wissen. Dabei haben Sie das alles nur sich selbst zuzuschreiben.«

Und während der Rechte sprach, zog der Linke einen Umschlag aus der Tasche.

»Sie unterschreiben dieses Papier, und wir erwarten einmal pro Monat Ihren Bericht.«

 

Drei Mal kamen sie. Beim dritten Mal saß Marie zusammengesunken vor ihnen. Seit ihrem letzten Besuch hatte sie in den Nächten kaum mehr als zwei Stunden am Stück geschlafen. Das Sprechen fiel ihr schwer. Sie antwortete einsilbig und leise, und als einer der Männer dicht an sie herankam, so dicht, dass sein nikotinschwerer Atem direkt in ihre Nase stieg, drehte sie sich angewidert weg. Er hatte seine Hände auf die Armlehnen ihres Stuhls gestützt. Fast berührten sich ihre Gesichter.

»Das ist Ihre letzte Chance, Frau Novacek. Ab jetzt reden wir nicht mehr. Ab jetzt handeln wir. Und glauben Sie uns, das wird kein Vergnügen für Sie sein.«

*

Aus dem Kopf des Weingottes, der rechts neben der Eingangstür hängt, wächst Gestrüpp. Eine der drei Katzen versucht vergeblich, nach einer Hummel zu schlagen. Marie auf ihrer Leiter ächzt.

Drüben im Anbau der Werkstatt stoppt der Sohn das Rührwerk. Nun drückt er den mit Wasser vermischten Grubenton durch ein Sieb, gießt ihn in ein Setzbecken und pumpt ihn anschließend durch eine Reihe Entwässerungskammern. Beinahe klar muss das Wasser sein, das unten heraustropft. Marie kennt jeden Arbeitsschritt.

»Brauchst du Hilfe, Mutter?«, schreit er durch die geöffnete Tür über die Wiese.

»Nein!«, ruft sie zurück.

Was wäre sie ohne den Sohn? Wäre sie überhaupt noch, ohne den Sohn?

Jetzt schiebt er gleich die entwässerten Filterkuchen in den Tonwolf. Er dreht die Kurbel, eine Schlange aus Ton windet sich aus der Öffnung der Maschine und fällt in einen darunterstehenden Kübel. Manchmal holt er sie dazu....

Erscheint lt. Verlag 26.2.2020
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bestseller • DDR • Ernstfall • Erzählung • Leipzig • Mauerfall • Ostdeutschland • Prostitution • Schicksal • Selbstmord • Sozialismus • Stasi • tragisch • unveröffentlicht • Wende
ISBN-10 3-257-61001-7 / 3257610017
ISBN-13 978-3-257-61001-7 / 9783257610017
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