Das Gewicht der Zeit -  Jeremy Tiang

Das Gewicht der Zeit (eBook)

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
304 Seiten
Residenz Verlag
978-3-7017-4632-3 (ISBN)
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'Das Gewicht der Zeit' erzählt eindringlich vom Widerstand einer jungen Frau und von der zerrissenen Geschichte Singapurs. Malaysia in den Fünfzigerjahren: Der Ausnahmezustand wird verhängt, die Regierung fürchtet ein Übergreifen des Kommunismus aus China. Die junge Siew Li verlässt ihre Familie, um im Dschungel für die Freiheit zu kämpfen. Ihre Kinder werden aufwachsen, ohne von ihr zu wissen, ihr Mann wird alleine alt. Als sich jedoch die Londoner Journalistin Revathi auf die Spuren der damaligen Verbrechen begibt, wird daraus eine Suche nach der verschwundenen Siew Li, und Revathi taucht tief ein in die verdrängte Geschichte Malaysias und Singapurs. Von den 50er Jahren bis in die Gegenwart spannt sich Jeremy Tiangs berührender Roman einer Familie, deren Leben von politischer Willkür erschüttert und von der Suche nach der Wahrheit geleitet wird.

Jeremy Tiang, geboren in Singapur, lebt als Autor und Übersetzer in Brooklyn in NY. Er hat zahlreiche Theaterstücke und den Kurzgeschichtenband 'It never rains on National Day' (2015) verfasst sowie Romane und Theaterstücke aus dem Chinesischen übersetzt. Er ist Herausgeber des Pathlight Magazine und Gründer des Übersetzerkollektivs Cedilla & Co. Mit seinem ersten Roman 'Das Gewicht der Zeit' ('State of Emergency') stand Jeremy Tiang auf der Shortlist des Epigram Books Fiction Prize und wurde mit dem Singapore Literature Prize 2018 ausgezeichnet.

Jeremy Tiang, geboren in Singapur, lebt als Autor und Übersetzer in Brooklyn in NY. Er hat zahlreiche Theaterstücke und den Kurzgeschichtenband "It never rains on National Day" (2015) verfasst sowie Romane und Theaterstücke aus dem Chinesischen übersetzt. Er ist Herausgeber des Pathlight Magazine und Gründer des Übersetzerkollektivs Cedilla & Co. Mit seinem ersten Roman "Das Gewicht der Zeit" ("State of Emergency") stand Jeremy Tiang auf der Shortlist des Epigram Books Fiction Prize und wurde mit dem Singapore Literature Prize 2018 ausgezeichnet.

Als sie frisch verheiratet waren, lächelten Siew Li und Jason auf die Frage von Bekannten, wie sie sich kennengelernt hätten, stets und erzählten unverbindlich, das wäre vor vielen Jahren auf einer Schulveranstaltung gewesen. Das sei tatsächlich ein glücklicher Zufall gewesen, da sie aus einer chinesischsprachigen Familie stamme und er praktisch einsprachig mit Queen’s English aufgewachsen sei, sie also aus unterschiedlichen Welten kämen, und hätte es nicht dieses eine zufällige Treffen gegeben, wären sie einander wahrscheinlich nie im Leben begegnet. Das wäre jammerschade gewesen, sagte Jason dann immer, und seine Hand lag besitzergreifend auf der seiner Frau. Nach der Geburt der Kinder überlegten sie gemächlich, wie viel sie ihnen erzählen sollten. Die Geschichte würde sich von selbst ergeben, es eilte nicht.

Später, als alles vorbei war, hatte Siew Li viel Zeit, über diese Begegnung nachzudenken. Wie sehr ihr Leben doch von winzigen Zufällen entschieden wurde, so selbstbestimmt es auch wirkte. Wäre sie an diesem Tag woanders gestanden, hätte Jason sie nicht gesehen. Wäre sie früher heimgegangen, wie ihre Mutter angeordnet hatte, hätte Lina nie mit ihr geredet. Und was wäre dann aus ihrem Leben geworden? Die Partei erklärte, die Gesellschaft müsse sich von ihren Ketten befreien, die Versklavung des Menschen durch den Menschen werde unzweifelhaft ein Ende haben. In ihrem Innersten begriff sie allerdings nicht, wie sich die Partei da so sicher sein konnte, wenn doch so vieles vom Zufall abhing.

Gegen Ende ihres Lebens schrieb sie diese Gedanken für ihre beiden Kinder in unzusammenhängenden Briefen auf, manchmal auf Papier, manchmal nur im Kopf. Der Anfang lautete immer gleich: Hoffentlich seid ihr gesund, hoffentlich seid ihr in Sicherheit, hoffentlich hat man euch nicht beigebracht, mich zu hassen. Und wenn doch, so versucht mich trotzdem zu verstehen. Ich habe Entscheidungen getroffen, die richtig schienen, auch wenn es sich damals nicht angefühlt hat, als müssten Entscheidungen getroffen werden, sondern als gäbe es nur einen einzigen Weg. Ich schreibe auf Chinesisch. Wenn ihr diese Worte jemals seht, könnt ihr sie überhaupt verstehen?

Kurz vor dem fünfzehnten Geburtstag der Zwillinge, den sie nicht erleben würde, erzählte sie ihnen erneut von ihrem ersten Gespräch mit Lina. Falls sie ihre Briefe erhielten, hatten sie schon davon gehört, doch jetzt sollten sie darüber nachdenken, wo sie selbst heute standen und wo ihre Mutter damals im selben Alter gestanden hatte. Vielleicht half ihnen das zu verstehen. Oder vielleicht auch nicht, was eventuell sogar besser war. Hoffentlich ging es den beiden so gut, dass sie die Welt nie durch Siew Lis Augen sehen mussten.

Mit vierzehn war Siew Li alt genug, um sich über die mütterliche Anordnung, früh heimzukommen, hinwegzusetzen, und so streifte sie allein durch die Happy World, als Lina auf sie zukam. Lina war eines der älteren Mädchen an ihrer Schule, größer und beliebter, als Siew Li es je sein würde. Einmal war sie auf der Toilette gewesen, als Lina hereinkam, und obwohl ein enormes Gedränge herrschte, bildeten die Mädchen sofort stillschweigend eine Gasse, damit Lina an den Spiegel herankonnte. Sie tat es, ohne die anderen eines Blickes zu würdigen.

»He, du, ich will mit dir reden«, sagte Lina statt einer Begrüßung. Siew Li war immer noch so jung, dass es ein bedeutsames Erlebnis war, wenn eines der älteren Mädchen ihr Aufmerksamkeit schenkte, doch sie beschloss, auf cool zu machen, nickte daher zustimmend, ohne besonders ehrfürchtig dreinzusehen.

»Müsstest du nicht schon im Bett sein?«

»Ich bin kein kleines Kind mehr«, murrte Siew Li.

»War ein Scherz, sei nicht so empfindlich.« Lina biss von einem lok-lok ab, einem Spieß mit frittierten Gemüsestückchen.

Siew Li war unsicher, ob ein Lachen angebracht war, daher schwieg sie.

Lina grinste. »He, wenn du nichts anderes vorhast, komm mit zur Geisterbahn. Ich lade dich ein.«

Siew Li zögerte und Lina drehte sich unvermittelt um. »Buh!« Siew Li machte einen Satz. »Es sei denn, du hast Schiss.«

»Nein. Ich meine, ich komme mit.« Allein durch den Vergnügungspark zu streifen, ist eher deprimierend, zu zweit macht es mehr Spaß, dachte sie. Aber war Lina nicht auch allein unterwegs?

»Meine Freundinnen haben mich stehen lassen«, sagte Lina nebenbei, steckte sich das letzte Stück lok-lok in den Mund und warf den Bambusspieß in einen Abfallkorb. »Blöde Ziegen. Haben gesagt, sie gehen schlafen, treffen aber bestimmt heimlich ihre Verehrer. He, bist du bereit?«

Die Leute, die vor der Geisterbahn anstanden, sahen überhaupt nicht ängstlich drein. Es waren größtenteils Pärchen, die die Intimität der Dunkelheit suchten. Ein kleiner Schauder durchfuhr Siew Li, als ihnen der dickliche Kartenabreißer apathisch die kleinen Papierstreifen abnahm und sie ins Dunkel verwies. Die Mädchen kauerten sich in den ihnen zugeteilten Wagen, die Knie unter den Sicherheitsbügel geklemmt. Zwischen den Wagen war so viel Abstand, dass sie vor sich niemanden sehen konnten; von gespenstischer Stille umgeben, hockten sie im Dunkeln und warteten auf das Anfahren.

»Mach dir nicht in die Hose«, sagte Lina fröhlich, als sie sich ratternd in Bewegung setzten. Ein kurzer, ruckeliger Anstieg, dann ging es so schnell hinab, dass beide Mädchen nach Luft schnappten. Auf halbem Weg hing plötzlich vor ihnen eine obszön baumelnde Leiche, Lina kreischte vor Entzücken, was das Zeug hielt. Sie rasten auf das grausige Grinsen zu, bis die Figur im letzten Moment blitzartig verschwand.

»Du weißt ja, dass wir noch Leute fürs Organisationskomitee brauchen«, sagte Lina bei der nächsten Geraden. »Ich habe deinen Namen gar nicht auf dem Anmeldezettel gesehen. Warum?«

Siew Li starrte sie an. »Ja, ich weiß, wie du heißt«, sagte Lina, die offenbar Gedanken lesen konnte.

»Meinst du, bloß weil wir noch nie miteinander geredet haben, kenne ich deinen Namen nicht? Ständig erzählen mir alle von diesem Mädchen aus der Achten, dass sie sehr klug ist, bei Klassenarbeiten stets die Beste, aber immer für sich bleibt. Und da habe ich mich gefragt, warum so eine nicht mithilft, die Dinge zu verändern. So jemand brauchen wir in der Bewegung.«

Siew Li nickte, doch ehe sie etwas sagen konnte, krabbelten die Finger eines abgehackten Arms über ihre Schulter und Spinnweben klebten ihr im Gesicht. »Denk drüber nach«, erklang Linas ruhige Stimme, und sie stürzten erneut hinab in die samtige Dunkelheit, die sie geräuschlos verschluckte.

In ihrem ersten Lebensabschnitt ging es für Siew Li immer nur bergauf. Zwar war sie während des Krieges geboren worden – ein nicht allzu guter Start –, und ihre frühesten Erinnerungen waren beklemmend. Ihre Mutter mochte später nicht darüber reden, deshalb musste sie die Puzzleteile selbst zusammenfügen: Als man die Flugzeuge kommen hörte, rannte ein Mann, wahrscheinlich ihr Vater, mit ihr auf dem Rücken in die Kautschukplantage hinein und kam erst wieder heraus, als keine Bomben mehr fielen; Nachbarn gerieten sich wegen der Lebensmittelrationen in die Haare; mit der Zeit bekamen alle eingefallene Wangen und den o-beinigen Gang der Unterernährten. Als die Besatzung endete, war sie vier, deshalb konnte sie die Erinnerungsschnipsel nicht richtig einsortieren, sie hatte nur das schwammige Gefühl, dass damals alles schrecklich gewesen war und anschließend immer besser wurde, nicht nur, was konkrete Details betraf, sondern auch eine gewisse Leichtigkeit kehrte wieder, als hätten alle die ganze Zeit über die Luft angehalten und könnten nun wieder nach Herzenslust atmen.

Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass ihr Vater nicht heimkommen würde. Eines Tages war er mit den Japanern weggegangen, und selbst als das einkehrte, was wahrscheinlich die Normalität war, tauchte er nicht wieder auf. Ihre Mutter weinte bloß, wenn sie Fragen stellte, gab ihr einmal sogar eine Ohrfeige, was ihr hinterher leidtat. Siew Li lernte, keine Fragen zu stellen.

Sicher war nur, dass einzig die Partei Widerstand geleistet hatte. Als sie später Fotos davon sah, wie die Briten gefangengenommen worden waren, eine ungeordnete Reihe blasser Männer und Frauen, die ostwärts ins Kriegsgefangenenlager Changi marschieren mussten, war sie erstaunt, wie schwächlich diese Menschen aussahen, bestimmt hatten sie sich kaum gewehrt. Die Ma Gong, die Kommunisten, hingegen operierten verstohlen im Schutz des Dschungels. Niemand wusste, wie viele es waren, nur dass sie die Einzigen waren, die der Feind immer noch fürchtete. Und nach der Kapitulation, in den drei Wochen, die es dauerte, bis die Briten zurückkehrten, waren sie diejenigen, die für Ordnung sorgten. Danach blieben die Briten noch lange, taten, als hätte es die letzten paar Jahre nicht gegeben oder als wären sie...

Erscheint lt. Verlag 23.3.2020
Übersetzer Susann Urban
Verlagsort Salzburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Familiengeschichte • Gerechtigkeit • Guerilla • Liebesgeschichte • Malaysia • Singapur • Widerstand
ISBN-10 3-7017-4632-X / 370174632X
ISBN-13 978-3-7017-4632-3 / 9783701746323
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