Das Geschenk des Lebens -  Sarah Leipciger

Das Geschenk des Lebens (eBook)

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2020 | 1. Auflage
384 Seiten
Arche Literatur Verlag AG
978-3-03790-122-9 (ISBN)
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Paris, 1899: Die Leiche einer jungen Frau wird aus der Seine gezogen. Ihr Gesichtsausdruck ist so rätselhaft und friedlich, dass man eine Totenmaske anfertigt, deren Lächeln bald die ganze Stadt kennt. Sarah Leipciger gibt dieser wahren Geschichte neues Leben und lässt die Unbekannte erzählen: von ihrer Kindheit in der Provinz, ihrer ersten eigenen Arbeit in der Großstadt und von einer enttäuschten Liebe. Die Spuren der jungen Frau reichen bis nach Norwegen in das Jahr 1959, wo ein Vater seinen kleinen Sohn an einen reißenden Fluss verliert und Jahre später jene Puppe entwickelt, an der man heute die Mund-zu-Mund-Beatmung lernt. Die Spur führt auch nach Kanada in die Gegenwart, wo Anouk nach einer Lungentransplantation den ersten freien Atemzug nimmt. Dieses Buch ist eine großartige Feier des Lebens!

Sarah Leipciger ist Kanadierin und lebt zurzeit mit ihrer Familie in London, wo sie Inhaftierte im kreativen Schreiben unterrichtet. Sie verfasste Kurzprosa, die es auf die Shortlist für den Asham Award, den Fish Prize und den Bridport Prize schaffte. ?Das Geschenk des Lebens? ist ihr zweiter Roman.

Sarah Leipciger ist Kanadierin und lebt zurzeit mit ihrer Familie in London, wo sie Inhaftierte im kreativen Schreiben unterrichtet. Sie verfasste Kurzprosa, die es auf die Shortlist für den Asham Award, den Fish Prize und den Bridport Prize schaffte. ›Das Geschenk des Lebens‹ ist ihr zweiter Roman.

1


L’Inconnue


Vor Paris


Vor meinem Tod hatte ich anderthalb Jahre in Paris gelebt, als Gesellschafterin bei Madame Cornélie Debord, einer alten Freundin meiner Großmutter. Der Brief, in dem mich Madame Debord aufforderte, bei ihr in Paris zu leben, erreichte mich zu einer Zeit, als das Leben in meiner Heimat Clermont-Ferrand zunehmend einförmig geworden war und ich mich verloren und einsam fühlte.

Meine Geburt brachte meine Mutter ins Grab. Damals, um 1880, schockierte so etwas in Clermont-Ferrand niemanden. Entsetzlich fand man den Tod einer Gebärenden im Kindsbett allerdings dennoch. Er ging mit Blut, Schweiß und Erschöpfung einher und trat entweder während der Wehen ein oder einige Tage später, infolge unstillbarer Blutungen oder Infektionen. Auf ihrem Sterbebett wurde meine Mutter von drei Frauen begleitet: ihrer älteren Schwester Huguette, der Hebamme und meiner Großmutter väterlicherseits. Tante Huguette machte mich zeit meines Lebens für den Verlust ihrer kleinen Schwester verantwortlich, doch meine Großmutter hielt dagegen. Dieser Konflikt, den ich schon mit meinem ersten Atemzug heraufbeschworen hatte, sollte elf Jahre andauern und erst mit dem letzten Atemzug meiner Großmutter enden.

Bereits von klein auf kannte ich Einzelheiten über meine Geburt, die ich wohl besser nicht erfahren hätte. Beispielsweise erzählte mir Tante Huguette, die grünen Augen meiner Mutter seien nach zwei Tagen ergebnisloser Wehen schwarz und stumpf geworden wie die einer Taube. Angeblich schwitzte und schiss und kotzte und blutete sie, bis ihr Körper nichts mehr hergab. Am Ende habe mich die Hebamme an den Füßen herausgezogen, ich kam also mit dem Hintern zuerst auf die Welt und riss ihr dabei die Blüte bis zur Rosette auf.

Tante Huguette sagte, als der Schmerz am größten gewesen sei, habe meine Mutter sie angefleht, uns beide zu töten, sie und mich. Diese Behauptung meiner Tante nahm ich für bare Münze und glaubte sie fast mein ganzes Leben lang.

Mein Vater, ein Bäckergeselle bei den Compagnons, befand sich bei meiner Geburt auf der Walz, irgendwo in Nantes, kehrte aber nach dem Tod meiner Mutter für eine Woche nach Hause zurück, um mich zu sehen und sie zu betrauern. Die Compagnons, eine Zunft von Meistern, eine Handwerkerinnung – Bäcker, Schuhmacher, Stuckateure und Schlosser – mit geheimen Ritualen und Initiationsriten, hatten strenge Regeln, die es ihm nicht erlaubten, länger zu bleiben. Er hatte seine fünfjährige Gesellenzeit durch Frankreich angetreten, während der er im gesamten Land umherziehen musste, und sah mich erst wieder, als ich schon fast zwei Jahre alt war. Weil er keine Amme bezahlen konnte, gab man mir die ersten Monate Ziegenmilch oder Brei, den ich durch einen durchlöcherten Korken saugte. Ich wurde von einer liebenden Großmutter und einer missgünstigen Tante großgezogen.

 

In diesen letzten Sekunden auf dem Lastkahn liefen einzelne Szenen aus meinem Leben vor meinem geistigen Auge ab. Sie waren stark verdichtet. Sie widersetzten sich der Zeit.

Da war ich, vier Jahre alt, in einem Bettchen in einer viel zu dunklen Kammer. Die schattigen Ecken ließen das Zimmer noch enger wirken. Ich rief und rief nach Tante Huguette: Komm, komm. Der köstliche Duft von Eintopf mit Wild, von Brot.

Da war ich, sechs Jahre alt. Mein Vater blieb einen ganzen Monat zu Hause. Wir beide ganz für uns, gemeinsam bei der Arbeit, wir zauberten in einer Keramikschüssel. Die Waagschalen voller Mehlstaub, das geschmeidige Schaben eines handwarmen Holzlöffels am Schüsselrand, dann das Kneten auf dem mit Öl eingeriebenen Küchentisch. Mein Vater zupfte ein wenig Teig aus der Mischung und zeigte mir, wie man ihn zieht, ohne dass er reißt, mindestens so lang wie mein Unterarm solle er sich ziehen lassen, erst dann sei er richtig durchgeknetet. Kurz gehen lassen, sagte er, danach zusammenstoßen, damit das Brot so richtig köstlich schmeckt. Im Zimmer alles weiß, die ganze Welt weiß wie Mehl.

Da war ich, sieben Jahre alt, nahm den Weg durch den Wald hinter unserer Stadt, mein wirres Haar in den Zweigen verheddert, stieg hinauf zu der Lichtung mit Blick über die Häuser von Clermont, die Kathedrale lavaschwarz in ihrer Mitte, Notre-Dame de l’Assomption, stieg hinauf zu der Stelle, wo ich – jenseits der mich beengenden Hügel – von einem Ort träumen konnte, an dem die sengenden Blicke meiner Tante mich nicht mehr zu verletzen vermochten. Dort oben saß ich, mit dem Rücken an den Stamm einer Linde gelehnt, und pflückte meiner toten Mutter Sträuße aus Myrte und Steinbrech.

Da war ich, zwölf Jahre alt, im ersten der beiden (und einzigen) glücklichen Jahre, die mein Vater bei uns in Clermont-Ferrand verbrachte, bis auch er starb, weniger als drei Jahre nach dem Tod meiner Großmutter. Lungenentzündung. Wasser in der Lunge. Da war ich, wartend auf das Ende seiner Frühschicht in der Backstube, ein stickiges Backsteingebäude hinter einem der großen Hotels. Da war ich, wie ich ihm und seinen beiden Gesellen bei der Arbeit zusah. Sie trugen Schürzen, die langen Röcken glichen, und ihre Gesichter waren nass von der erbarmungslosen Hitze der drei Öfen, die nebeneinander an einer Wand standen. Darüber stapelweise Holzscheite. Vor der anderen Wand unzählige Bleche und Kupferpfannen, mit Tüchern bedeckte Weidenkörbe, Kasernen für die Heerscharen heißer Baguettes. Gestelle voller Backwerkzeuge, Kupfer- und Stahlsiebe, Löffel, Trichter, Reibeisen und Spachtel. Alle hingen an Nägeln, fein säuberlich aufgereiht. Da war mein Vater mit einem langen Schießer, er wendete das Brot im Ofen. Und ich. Auf einem umgestülpten Eimer saß ich neben einem Hahn, der aus der Wand ragte, und benetzte meinen Finger mit dem tropf, tropf, tropfenden Wasser aus seinem Schnabel. Einer der anderen Gesellen stieß auf einem Holztisch unter Regalen voller weißer Mehlsäcke einen bereits gegangenen Teigballen zusammen. Sein Rücken und Nacken glänzten, und als er mich über die Schulter hinweg ansah, hielt er meinen Blick, während er mit den Händen den Teig knetete. Er zwinkerte mir zu. Hastig verschränkte ich die Arme vor meinen Brüsten und blickte zu meinem Vater hinüber, der sich über den Ofen beugte.

Und da war ich, dreizehn Jahre alt, auf einer Bank im Jardin Lecoq, mit ihr, von der ich glaubte, dass ich sie für immer lieben würde: Emmanuelle. Ich hatte ihr ein Éclair aus der Backstube versprochen, doch unser Betteln war nicht erhört worden, und mein Vater hatte uns mit leeren Händen weggeschickt; das war mir peinlich. Also sagte ich ihr, sie solle auf der Bank auf mich warten. Da war ich, wie ich zwischen Kastanienbäumen einen leeren Marktplatz überquerte. Ich schlich durch die kleine Gasse hinter der orthodoxen Kirche und freute mich, dass ich sie gefunden hatte, die Alte, die kleine viereckige Bergamotte-Bonbons in Papiertüten verkaufte. Jedes Jahr zog sie sich während der kalten Monate in ihren Unterschlupf zurück und ward nicht mehr gesehen, bis der Duft von Lavendel und Thymian unsere Straßen erfüllte, bis die Hügel sich mit Wildblüten lila, blau und weiß färbten. Und da war sie, auf einem Stuhl neben ihrem kleinen Klapptisch voller brauner Tütchen mit der köstlichen Süßigkeit. Sie schlief. Es war nicht das erste Mal, dass ich sie bestahl.

Und so saßen wir nebeneinander, Emmanuelle und ich, naschten die gestohlenen Bonbons, lutschten jedes einzelne zitronige, bernsteinfarbene Quadrat, Zerkauen war nicht erlaubt, bis nur noch ein klebriges Pünktchen auf unserer Zunge übrig blieb.

Und da war ich, vierzehn Jahre alt, über meinen Vater gebeugt, in seinem Bett, das er nicht mehr lebend verlassen würde. Tante Huguette war da oder vielleicht auch nicht. Sie ging ein und aus, und die meiste Zeit über ignorierten wir einander; ich tat, als würde ich nicht hören, wie sie dem Pfarrer sagte, das Kind – ich – sei eine Last, die sie zu tragen verdammt sei. Es war im Morgengrauen, mitten im Winter, und ich stand zitternd da, in Nachthemd und Schultertuch. Erst ein paar Stunden war er tot, doch schon seit Tagen nicht mehr anwesend, versunken im Delirium, ertrinkend im eigenen Körper, hatte er nach meiner Mutter gerufen.

Nach dem Tod wollten sich seine Augen nicht schließen, deshalb beschwerte ich die Lider mit zwei Münzen. Ich saß an Papas Seite und betrachtete sorgfältig sein Gesicht, jede Pore, jedes Haar, jede Falte wollte ich mir für immer einprägen, denn ich wusste, dass er bald weg wäre, nur so lange in der Gruft bliebe, bis der Boden weich genug für eine Erdbestattung wäre. Das Bild von seinem Gesicht würde nur noch in meiner Erinnerung existieren. Seine Wangen und Augenhöhlen waren eingefallen; wie kam es nur, dass seine Züge im Leben so voll gewirkt hatten, denn jetzt, nur Stunden nach seinem Tod, war davon nichts mehr zu sehen. Viele Zähne hatte er bereits verloren. Ich umschloss seine Wangen und hielt sie fest. Ein lang gezogenes Jiepen kam aus seinem Hinterteil, es klang, als würde etwas aus ihm entweichen.

Später wusch ich ihn, seinen ganzen Körper, außer den Stellen, die er stets vor mir verborgen hatte, dann bedeckte ich ihn bis zu den Schultern mit einem gestärkten weißen Tuch. An seinen Handknöcheln, den starken Armen und an den Innenseiten seiner Handgelenke glänzten die weißen Narben Dutzender Verbrennungen, Zeugnisse seiner Zunft.

Und da war ich, neunzehn Jahre alt. Tante Huguette stand im Salon, Madame Debords Brief in den Händen. Immer sauber und adrett, Tante Huguette. Wie aus dem Ei gepellt.

»Sie schreibt, ihr gegenwärtiges Mädchen werde heiraten. Sie braucht so schnell wie möglich ein neues.« Ihre Augen huschten über die Zeilen. »Sobald sie deine Zusage erhalten hat, wird sie das...

Erscheint lt. Verlag 21.8.2020
Übersetzer Andrea O'Brien
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Atmen • Frankreich • Hoffnung • Junge Frau • Kanada • Krankheit • Lächeln • Leiche • Liebe • Luft • Lungentransplantation • Maske • Mund-zu-Mund-Beatmung • Norwegen • Paris • Seine • Totenmaske • Wahre GEschichte • Wasser • Widerbelebung
ISBN-10 3-03790-122-5 / 3037901225
ISBN-13 978-3-03790-122-9 / 9783037901229
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