Die Wahrheit über Metting (eBook)

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
368 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00489-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Wahrheit über Metting -  Tom Liehr
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Niedersachsen, Ende der 70er Jahre: In der Kleinstadt Metting liegt das Pflegeheim Horizont, in dem Tomás aufwächst, weshalb er lange glaubt, dass die meisten Menschen auf der Welt alt oder krank oder beides sind. Toms Papa ist heimlich homosexuell, Toms Mama hält sich an Orangenlikör. Als die für ihre 82 Jahre noch ziemlich attraktive Marieluise ins Heim zieht, erlebt Tom seine erste große Liebe. Die lebenslustige Frau weckt in ihm den Spaß am Lesen und die Begeisterung für Geschichten. Auch 30 Jahre später hat er sie nicht vergessen. Tom hat keinen Kontakt nach Hause, und erfährt nun, dass das heruntergekommene Heim vor dem Aus steht. Jemand muss die Liquidation vorbereiten, Bewohner gibt es nicht mehr - die letzten sind Toms Eltern ...

Tom Liehr wurde in Berlin geboren. Seine erste Veröffentlichung war eine Wandzeitung, die er in der siebten Klasse anfertigte, mit dem Namen «Rauhfaser quer». Schon in jungen Jahren schrieb er als freier Journalist für das P.M-Magazin. Doch der eigentliche Startschuss seiner Autorenlaufbahn war 1990 der «Playboy-Literaturwettbewerb» (später «Gratwanderpreis»), bei dem er mit zwei eingesandten Geschichten die Plätze eins und drei belegte. Seitdem hat Tom Liehr elf Romane (unter anderem «Leichtmatrosen», «Nachttankstelle» und «Landeier») und zahlreiche Short Storys veröffentlicht. Daneben hat er als DJ und Rundfunkproduzent gearbeitet und führt seit vielen Jahren ein Unternehmen für Softwareentwicklung. Tom Liehr lebt mit seiner Familie in Berlin.

Tom Liehr wurde in Berlin geboren. Seine erste Veröffentlichung war eine Wandzeitung, die er in der siebten Klasse anfertigte, mit dem Namen «Rauhfaser quer». Schon in jungen Jahren schrieb er als freier Journalist für das P.M-Magazin. Doch der eigentliche Startschuss seiner Autorenlaufbahn war 1990 der «Playboy-Literaturwettbewerb» (später «Gratwanderpreis»), bei dem er mit zwei eingesandten Geschichten die Plätze eins und drei belegte. Seitdem hat Tom Liehr elf Romane (unter anderem «Leichtmatrosen», «Nachttankstelle» und «Landeier») und zahlreiche Short Storys veröffentlicht. Daneben hat er als DJ und Rundfunkproduzent gearbeitet und führt seit vielen Jahren ein Unternehmen für Softwareentwicklung. Tom Liehr lebt mit seiner Familie in Berlin.

2.


Bevor die Räume, in denen wir lebten, in eine Dienstwohnung umgewandelt worden waren, hatten sie als Aufenthalts- und Versorgungsbereich fungiert. Und da das Gebäude nur unterhalb der Räume unterkellert war, die zum Bewohnerbereich gehörten, also auf der Längsachse des Kreuzes lagen, fehlten uns private Abstell- und Hobbyräume. Dafür gab es ein großes Bad, eine noch größere Küche und drei riesige Zimmer, von denen eines formal mir gehörte. Aber tatsächlich nutzte Papa ungefähr ein Drittel davon für seine Modelleisenbahnanlage. Ein Dreizehnjähriger brauchte schließlich keine dreißig Quadratmeter für sich allein. Das meinten jedenfalls meine Eltern.

Die dreigeschossige Fleischmann-H0-Modellbahn war sein Ein und Alles. Sie stank nach Metall, Öl, Lötzinn, Plastikkleber, Elektrizität und diesem Zeug, das man für die Dampfgeneratoren der Loks brauchte. Wenn mein Vater seine Arbeit im Heim getan hatte, polterte er ohne anzuklopfen in mein Zimmer. Er zog den alten Bürodrehstuhl, den er zu diesem Zweck abgezweigt hatte, knatternd aus der Ecke, schob sich eine abgenutzte Schirmmütze in die Haare, damit sie ihn beim Basteln nicht störten, und fing an, zu löten, zu verdrahten, zu verkleben und zu reinigen. Er war geschickt mit den Händen. Im sozialen Bereich war er dafür ein Tollpatsch. Ob ich anwesend war oder nicht, interessierte ihn kaum. Vielleicht versuchte er aber auch, dadurch, dass er mich beim Hereinkommen ignorierte, mir meine Privatsphäre auf etwas originelle Weise zu lassen. Jedenfalls tat er so, als gäbe es zwischen seinem und meinem Bereich nicht nur ein hüfthohes Pressspanregal, sondern eine raumhohe Trennwand. Das misslang allerdings gründlich. Ich kam mir vor, als wäre ich unsichtbar oder wenigstens von geringer Opazität. Ich fühlte mich in meinem großen und aufgrund der Nordseitenlage der Wohnung recht dunklen Zimmer sowieso nicht wohl. Ich wäre gerne in ein winzig kleines Zimmer umgezogen, solange es nur mir und mir allein gehört hätte. Aber außer bei der Modellbahn war mein Vater nicht dazu bereit, Hand anzulegen, weshalb an eine Trennwand im Eigenbau nicht zu denken war.

Ein Problem war, dass mich sein Spielzeug kein bisschen interessierte. Ich fand es unfassbar langweilig, im Kreis fahrenden Zügen zuzuschauen, die sonst keinen Zweck erfüllten. Das eigentliche Problem bestand darin, dass ich mir meiner Ruhe niemals sicher sein konnte. Ich musste jederzeit mit ihm rechnen, während ich mich eigentlich auf die Hausaufgaben konzentrieren, etwas mit Fischertechnik konstruieren oder ein Bild malen wollte. Wenn mein alter Herr irgendwann ab dem späten Nachmittag erwartungsfroh lächelnd hereinkam, den schnarrenden Stuhl aus der Ecke zog und dann den Roten Elch oder das Krokodil fahren ließ – viele Lokomotiven waren nach Tieren benannt –, fühlte ich mich wie der Eindringling. Ich hockte währenddessen im Schneidersitz auf meiner französischen Liege und lernte für die Schule, bis genug Zeit verstrichen war, um das durch seine Anwesenheit noch ungemütlichere Zimmer verlassen zu können, ohne dass er das als direkte Reaktion auf sein Kommen verstanden hätte, was ihn, wie ich annahm, unglücklich gemacht hätte. Manchmal war er so selbstvergessen, so intensiv beim Spielen, dass er anfing, Geräusche zu machen. Er ließ seine Loks tuten, seine kleinen Viking-Autos brummen und er ahmte Unfallgeräusche nach, wenn es zu einer Entgleisung kam. Ich hüstelte dann, um Ruhe einzufordern, woraufhin er sofort still wurde – für eine Weile, bis es dann wieder losging. Manchmal kam mir Josefa zur Hilfe, meine griechische Landschildkröte, die in ihrer Kiste rumorte. Wenn Papa das hörte, hörte er ebenfalls auf mit seinen Geräuschen.

Josefa hatte ich von Herr Kacmarek übernommen, einem sehr dicken, sehr kranken und sehr einsamen Mann, der keine zwei Wochen nach dem Einzug ins Heim gestorben war. Er hatte es tatsächlich geschafft, ein Haustier ins Horizont zu schmuggeln. Eine einmalige Tat bisher. Solche Mitbewohner waren bei uns streng verboten. Mama hatte das beigebraun gepanzerte und halbverhungerte Tier in einem Pappkarton hinter seinen Hemden im schmalen Kleiderschrank entdeckt, und weil Herr Kacmarek keine Verwandten hatte und es in Metting kein Tierheim gab, bot sie mir an, die Testudo hermanni zu übernehmen. Ich fand das Vieh nicht besonders interessant, aber es war anspruchslos und tagaktiv, störte also auch nicht großartig. Manchmal beobachtete ich die Schildkröte, die ich nach der Ehefrau von Herrn Kacmarek benannt hatte, von der ein goldgerahmtes Schwarzweißfoto auf seinem Nachttischchen gestanden hatte. Josefa war auf beneidenswerte Weise mit sich zufrieden. Aber manchmal, wenn ich ihr ein Salatblatt hinhielt, schien sie mich aufmerksam zu betrachten, während sie langsam und genüsslich vor sich hin mümmelte. Und gelegentlich kam es mir sogar vor, als würde mich das Tier – während ihm ein großes Stück Salat seitlich aus dem Maul hing – tatsächlich anlächeln.

Was meinen Vater anging, so war er einfach kein großer Redner. Ich war mir sicher, dass er mich auf seine Weise sehr liebte. Es gelang ihm nur nicht, das auszudrücken und zu kanalisieren. Möglicherweise wartete er ja darauf, dass ich mich neben ihn hockte, ebenfalls eine Schirmmütze aufsetzte und beherzt nach dem Lötkolben griff, um den Wackelkontakt an der Stromschiene zu reparieren, und ich hatte tatsächlich schon darüber nachgedacht, genau das zu tun. Aber die blöde Eisenbahn interessierte mich so unfassbar wenig, dass ich nicht riskieren wollte, fortan dazu verdonnert zu sein, an Nachmittagen und Wochenenden im Kreis fahrenden Zügen, winzigen blinkenden Glühlämpchen, klickenden Weichen, Modellhäuschen aus dem Hause Faller und ebenso bewegungslosen Modellautos beim Nichtstun zuzusehen. Mein Vater wollte jedenfalls nicht mit mir reden, so viel war klar, und stundenlang stumm neben ihm sitzen, das wollte wiederum ich nicht. Also floh ich. Möglicherweise war Papa insgeheim erleichtert, wenn ich mich davonschlich.

Meine Eltern waren beide nicht sehr gesellige Leute, aber jeder auf seine Art. Während mein Vater ganz allgemein ein Problem mit Menschen hatte, musste man das Interesse meiner Mutter irgendwie herausfordern, aber das gelang nur wenigen. In ihrer Freizeit ergänzten sie einander auf diese Weise geradezu perfekt. Nach dem gemeinsamen Abendbrot – Brote, Käse, Wurst, Apfelsaft – saßen sie schweigend nebeneinander vor dem Fernseher, am Samstagabend zusammen mit mir. Am Wochenende trank mein Vater dazu ein, zwei Flaschen Bier, meine Mutter jedoch verbrauchte zusätzlich zwischen Freitagnachmittag und Sonntagabend eine Halbliterflasche Orangenlikör der Marke Sonnenstich, die sie manchmal ab dem Sonntagnachmittag mit polnischem Wodka streckte. Außerdem war ihr am Wochenende das Rauchen in der Wohnung gestattet – meine Mutter war zu dieser Zeit eine hingebungsvolle Raucherin. Sie verbrauchte an Samstagen und Sonntagen jeweils drei Schachteln, rauchte sogar beim Kochen, in der Badewanne (Samstage waren Badetage, wir teilten uns das Wasser, und ich musste als Letzter hinein, durfte aber eine Handbreit Heißwasser dazulassen) und auf der Toilette. Man konnte jederzeit erschnuppern, wo in der Wohnung sie sich gerade befand, und bei gutem Licht war es an der unterschiedlichen Trübheit der Raumluft zu erkennen. Unter der Woche schaffte sie es, weitgehend auf Zigaretten zu verzichten. Wenn der Drang allzu stark wurde, verzog sie sich in die kleine Kapelle hinten auf dem Grundstück, um rasch eine HB zu inhalieren. Auf diese Weise waren beide Refugien, über die ich auf dem Grundstück verfügte, immerzu akut bedroht. Denn entweder kam mein Vater einfach in mein Zimmer, um mit seiner Eisenbahn zu spielen, oder meine Mutter schob mit der Schulter die Kapellentür auf, während sie schon dabei war, hastig die Fluppe anzustecken. Ich hatte nirgendwo meine Ruhe, und ich war fast dreizehn, also in einem Alter, in dem man begann, eine gewisse Privatsphäre zu schätzen, umso mehr, seit Marieluise Benedickt zu den Bewohnern des Horizonts gehörte und mir ziemlich viel Aufmerksamkeit schenkte.

Wenn ich an Marieluise dachte, überkam mich ein wohliges Gefühl, gepaart mit einem sehr seltsamen Kribbeln im Hüftbereich. Meine erste Erektion hatte ich natürlich schon Jahre zuvor gehabt, aber jetzt entdeckte ich, was es damit genau auf sich hatte – und wie man sie wieder loswurde, verbunden mit einer verblüffend angenehmen Körperwahrnehmung, aber auch einem durchaus irritierenden Flüssigkeitsabgang, der mich beim ersten Mal maßlos erschreckte. Ein von Marieluise – allerdings nicht zu diesem Zweck – überlassener Roman klärte mich halbwegs über die Hintergründe auf, und ab da wichste ich wie ein Weltmeister, unterbrochen lediglich von zwei sehr schmerzhaften Vorhautentzündungen, die mit heftigen Schwellungen einhergingen. Allerdings musste ich die Nächte abwarten, weil zu allen anderen Zeiten mit spontanen Besuchen zu rechnen war. Ich verbrauchte ziemlich viel Klopapier in dieser Phase.

Mama und Papa gingen mit den Bewohnern des Horizonts aufmerksam und liebenswürdig um, aber außerhalb des Heimes schienen sie sich kaum für Menschen (und auch nicht besonders füreinander) zu interessieren. Sie fuhren alle zwei Wochen am Sonntagabend auf ihren Klapprädern ins einzige Wirtshaus von Metting-Hasenhügel, um dort Königsberger Klopse zu essen und dazu einen Krug Mettingbräu zu trinken, was ihr gesamtes gesellschaftliches Engagement zusammenfasste, denn...

Erscheint lt. Verlag 13.10.2020
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alter • Altersheim • Altwerden • Einzelkind • Eltern • Geschichtenerzählen • Humor • Joachim Meyerhoff • Kindheit • Kleinstadt • Lebenstraum • Liebe • Provinz • Seniorenheim
ISBN-10 3-644-00489-7 / 3644004897
ISBN-13 978-3-644-00489-4 / 9783644004894
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