Tschudi (eBook)

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2020 | 1. Auflage
320 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00488-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Tschudi -  Mariam Kühsel-Hussaini
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1896. Berlin. Die Nationalgalerie Deutschlands erwirbt und zeigt als erstes Museum der Welt die Pariser Moderne: Manet, Monet, Renoir, Rodin. Ein Mann unternimmt das Wagnis, Hugo von Tschudi. Gegen den deutschen Kaiser, gegen die konservativen Fraktionen in der Gesellschaft, gegen alles, was ihn aufhalten will. Ein Augenblick nur, doch die ganze Welt liegt vor einem ausgebreitet und Berlin wird die Welt. Vom Stadtschloss aus blickt Wilhelm II. voll Hass auf diesen neuen Direktor der Nationalgalerie, auf die bunten Flecken der neuen Bilder der Impressionisten und auf die Franzosen, Hass, der noch wachsen wird, befeuert vom Lieblingsmaler des Kaisers, Anton von Werner. Um die Ecke am Pariser Platz wohnt Max Liebermann, der zu Tschudi hält. Der große Künstler Berlins, Menzel, schattiert sein eigenes Universum scheinbar jenseits der Kunstfronten und ist doch ihr heimliches Geheimnis. Großindustrielle, Geldgeber, Politiker, Schnürsenkelverkäufer - Tschudi immer inmitten, Tschudi, der sehr groß gewachsene Mann mit der Wolfskrankheit, die sich immer weiter in sein Gesicht beißt, läuft unaufhaltbar und unübersehbar durch die Straßen, die Salons und das Geflüster einer erwachenden Stadt und seine dunklen Augen brennen aus der für ihn angefertigten Gesichtsmaske hervor, die fortan gestreichelt wird von einer spanischen Adligen. Eine wahre Geschichte, jeden Traum wert, jede Farbe und jedes Licht . . .

Mariam Kühsel-Hussaini wurde 1987 in Kabul geboren. Sie wuchs in Deutschland auf. 2010 erschien ihr vielbeachtetes Debüt «Gott im Reiskorn»; es folgten die Romane «Abfahrt» (2011) und «Attentat auf Adam»  2012). Mariam Kühsel-Hussaini lebt in Berlin.

Mariam Kühsel-Hussaini wurde 1987 in Kabul geboren. Sie wuchs in Deutschland auf. 2010 erschien ihr vielbeachtetes Debüt «Gott im Reiskorn»; es folgten die Romane «Abfahrt» (2011) und «Attentat auf Adam»  2012). Mariam Kühsel-Hussaini lebt in Berlin.

2


Tschudi wartete.

Wartete in seinem Büro.

Er saß da, noch immer im Mantel.

Menschen, immer mehr Menschen, strömten ins Gebäude.

Ganz weich und langsam lösten sich watteweiße Schneeflocken vom nahen Himmel, der wie mit einem einzigen Pinselhieb hellblassgrau angestrichen puckerte.

Tschudi war gereizt. Die Stille, die er darstellen konnte, die machte das ganz einfach nicht sichtbar, diese Aggression, dieses Drücken gegen alles.

Er hatte kein Verständnis mehr für die Sprüche, die er in der ganzen Stadt vernahm. Die Geistlosigkeiten, die sich durch alles fraßen, hier, in dieser grandiosen, nicht immer grandios handelnden Stadt.

Er mochte Berlin.

Berlin war nicht ganz bei sich, ein wenig unwürdig und brillant. Berlin schwankte regelrecht wie ein Tausendmaster, eine unangenehme und wundervolle Stadt.

Allein, er war nicht mehr bereit höflich zu sein. Zu erklären. Sich zu rechtfertigen. Hervorheben zu müssen, worum es doch geht. Um dieses neue Gefühl, das alles Bisherige noch weiter ins Unendliche holen würde, alle zu Beteiligten macht, zu Beteiligten einer einzigen Kunst, der Kunst selbst. Davon abgesehen, Diplomat war ohnehin immer nur sein Vater gewesen, er selbst nie. «Papa», hatte er gefragt als Junge, «nimmst du mich das nächste Mal mit dir, ja?»

Johann Jakob von Tschudi betrachtete seinen Sohn lächelnd, der neben dem Sessel am Kamin saß, zu Füßen des Vaters, dem rechtzeitig zu Weihnachten nach Jakobshof heimgekehrten Forschungsreisenden und Darwinleser.

«Dort ist alles anders», hatte er leise begonnen und seine tief unter den dunklen Brauen lagernden Augen strahlten um die Wette. «Ich schlief unter freiem Himmel, wenn es das Wetter erlaubte, sogar oft im Regen. Denn die Herbergen für die Reisenden, die waren übelriechend und ich suchte dem zu entgehen. Zu Essen bekamen wir selten, zu viele Offiziere unserer Welt haben die Menschen dort schon betrogen oder sie misshandelt. Ihr Ausdruck besteht aus zwei Wahrheiten, Manam canchu – Wir haben nichts da – oder Ari canchu – Wir haben zu Essen – und entweder man hat Glück oder Unglück, je nachdem, wohin die Route mich führte. Besonders die Leute in den Hochgebirgen östlich von Cordillera sind schwierig zu knacken.»

«Was ist das?», Hugo deutete im Reisetagebuch des Vaters auf eine Frucht.

«Der Rote Stechapfel», sagte Johann Jakob. «Er wächst an Berghängen, sie nennen ihn Huacacachu, sie bereiten daraus ein narkotisches Getränk, die Tonga, aber sie ist fürchterlich in ihrer Wirkung. Ein Indianer, der mir dort begegnete, wollte sich mit den Geistern seiner Vorfahren in Verbindung setzen und bot mir die Gelegenheit, dabei zuzusehen. Es war ein grässlicher Anblick. Ich kann ihn nicht vergessen. Werde ihn nie vergessen. Er trank davon und schon bald darauf verfiel der Mann einer Art Hirnbrüten und er wurde ganz stumpf und sein Blick verlor den Glanz und starrte nur noch auf den Boden.»

Hugo lauschte.

«Sein Mund, der war fest verschlossen und die Nasenflügel weit aufgesperrt. Die Drosselvenen an seinem Hals, sie schwollen an, fingerdick, langsam keuchend hob sich seine Brust, starr hingen seine Arme vom Leib herab. Seine Augen füllten sich mit Tränen, die Lippen zuckten, seine Extremitäten machten automatische Zuckbewegungen und die Adern an seinem Kopf klopften regelrecht!»

«Wie lange?»

«Vielleicht eine Viertelstunde ging das so und wurde heftiger. Seine Augen waren schließlich hochrot und rollten wild in ihren Höhlen und dicker Schaum drang aus seinem geöffneten Munde. Klebriger Schweiß erfasste ihn überall, er wurde geschüttelt innerlich. Murmeln und Geschrei wechselten in ihm. Es war … wie eine … Verwandlung.»

«Hast du ihn danach noch einmal gesehen, Papa?»

«Ja, einige Stunden später. Ich sah auch wie sie ihn nach dem Anfall wuschen und betteten und wie er dann allen seine Eindrücke der Toten erzählte, aber er schien allzu matt und schwach. Christliche Missionare zerstören dort die Seele der Menschen, denn Zauberer oder Ekstase werden von ihnen unterdrückt und immer öfter heimlich und ohne die Aufsicht von Medizinmännern gesucht. Es war grauenhaft und es war auch geheimnisvoll. In ihm verbanden sich die Flammen der Existenz und des Todes.»

«Huacacachu-u-u-u-u-u-u», hauchte Hugo, ausgestreckt auf dem kostbaren Teppich der Eltern …

… nun war er Direktor der Berliner Nationalgalerie geworden und hatte sich sein eigenes Feuer gelegt. Lieblich erschienen ihm die Abenteuer des Vaters neben dem, was hier und jetzt bevorstand.

Endlich erhob er sich, öffnete den Mantel und zum Vorschein kam ein verlockend sitzender Cut, Schwarz wie die Zukunft.

Auf, sagte er sich, auf ins Verderben und dabei schmunzelte er verflucht überlegen und sein wohlgewachsener Gang war schwer und ausgeruht und gnadenlos.

Er wollte jetzt nur noch bei seinen Bildern sein, im Augenblick ihrer Offenbarung. Er wollte spüren, was sie auslösen.

Und verließ sein Büro.

 

Erst einmal nahm er gar nichts wahr.

Er stand im ersten Corneliussaal im Mittelgeschoss.

Blickte hoch, der Wintermittag floss milchig in den Saal, links und rechts oben zwei Loggia-Augen, an den über zehn Meter hohen Wänden, Peter von Cornelius.

Peter von Cornelius überall.

So war es gedacht, so liebte es der Kaiser, so gehörte es sich.

Die deutsche Großromantik in ihrer ganzen Verkörperung ganz fest rein in die Herzkammern des Hauses.

Seine Kartons, all die Vorarbeiten zu Fresken, all die mythologischen Szenen, sie waren ja nicht übel. Doch sie waren so unerträglich durchgezeichnet, so entzeichnet, so in sich gefangen und da gab es keinen Mittelpunkt, keinen Ausdruck, es war bloße Darstellung.

Schlicht gekleidetes Publikum umstand in kleineren Gruppen den Saal, einzelne Leute hier und da, die eigentlich aufwallende Traube der Menschen aber, die pochte aus dem zweiten Corneliussaal zu Tschudi.

Und wie sie pochte.

Wo zwischen den – welch Überraschung – noch weiteren Peter Cornelius die Neuankömmlinge hingen.

Das waren keine Erzählungen mehr, es waren Effekte, Unerschrockenheiten, Farbattacken, inmitten einer Ordnung, die doch jeder bis zu diesem Tage für unantastbar gehalten hatte.

Alle drängten sich enger zusammen, als er da plötzlich aufkreuzte, dieser Direktor.

Hugo von Tschudi schritt wie durch sein Labyrinth des Pan. Was er geschaffen hatte, war nicht gut, nicht böse, es war Atem.

Er sah zum Monet, mit den verkrusteten Wolken und dem Wasser, das weder Blau noch Grün noch Wasser war und doch mehr Wasser war, als alles was Tschudi bislang gesehen hatte.

«Pssst!», flüsterte jemand. «Sagt ick doch, F-r-a-n-z-o-s-n, wenn ick’s dir doch sage!»

Er schaute zu Degas und seinen Frauen, die quer über das ganze Format lagen, maßlos schön und gelangweilt, obgleich man kaum etwas von ihnen sah und unentschlossen scheinbar über ihr ganzes Dasein.

Er sah zum Rodin, dem Männerkopf des Jules Dalou, wie Rodin selbst, Bildhauer und dessen gotisches Antlitz hier wahrhaftig herausgeholt und zwar nicht sinnbildlich, nicht verhalten, verschlossen – sondern intelligent, laut, genial, hastig, besessen, greifbar, rücksichtslos vollkommen, grenzenlos unkompliziert.

Tschudi verlor die Kontrolle über sein Herz, es fing silberne Blüten beim Anblick seiner Beute, nach außen wahrnehmbar als hinreißend unbewegliche Kühle eines Adligen, nach innen war sein Körper heiss wie die Hölle.

Wie klar war dieser Raum. Wuchtig schoss er in die Höhe. Wie von Sinnen. Und unerklärlich wunderbar.

Er fixierte den Rodin, ging auf ihn zu.

Drei Frauen, deren Kleider geschmackvoller, länger, schmaler, enger waren, jedenfalls als üblich in Berlin, ließen ihn, Tschudi, nicht aus den Augen.

Ihre warmen, leicht dunklen Lider verfolgten ihn.

Sogar musterten sie seine geschmeidigen Bewegungen mit ihren unversteckt tosenden Augen. Ja, da war er, der Orkan in der Pupille, von dem Verlaine geschrieben hatte.

Tschudi musste kurz lächeln. Die parfümierte, aufdringliche Gegenwart dieser Damen hatte ihm, zugegeben, gefallen.

Alles drehte sich. Die Wände kämpften noch ein wenig, aber sie waren machtlos.

Manch ein Orange war so grell, so nackt, dass viele verdutzten.

Schließlich, Manet.

Der Klarsteller unter den Malern.

Dschungelartige Gewächse – ein Blick – fesselnd und abgeneigt, bedrohlich, unbeherrscht.

Sie, wie sie da saß, mitten im Bild, es war die Art wie sie ihre verstörenden Linsen ins Nichts bohrte, wie ihr stummes seelenkrankes Gesicht weich schrie, sie war es, sie war das Bild.

Tschudi trat noch näher heran, neigte den Kopf, das große Werk wie ein nervöses Fenster vor sich, die Leute im Rücken, auch die vom ersten Saal waren alle gekommen, wie in Trance, gelblich ernst, Tschudis steinernen Kolossrücken abwartend und die fremden Flecken anstarrend.

Sie ist es, dachte er. Sie ist es.

Seine Zunge schmeckte die köstlichsten Früchte, allein beim Anblick solcher Malerei.

Ein rasches Frauengiftrot über ihrer makellosen Wange, eine leblose Hand, nach welcher er, der Bärtige neben ihr, der Geduldige, der Erschrockene, vor ihr Bangende doch so zart verlangte und die er nie mehr berühren wird.

Tschudi vergaß sein Dasein in diesen Minuten. Die Leinwand saugte es zu sich.

«Treibhaus», las jemand jemandem vor.

Sein Blick fiel auf ihren Schoß, da lag ein Seidenschirm.

Die Farbe,...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2020
Zusatzinfo Mit 1 s/w Foto
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1900 • Babylon Berlin • Berlin • Bildende Kunst • Biografie • Degas • Deutsche Zeitgeschichte • Hugo von Tschudi • Impressionismus • Kaiserzeit • Krankheit • Kunstgeschichte • Kunsthistoriker • Liebe • Liebermann • Lupus vulgaris • Malerei • Manet • Max Liebermann • Monet • Neue Nationalgalerie • Rodin • Roman • schweizer Adel • Wilhelm II.
ISBN-10 3-644-00488-9 / 3644004889
ISBN-13 978-3-644-00488-7 / 9783644004887
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