Ach, Virginia (eBook)

Roman
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2020 | 1. Auflage
240 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32137-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ach, Virginia -  Michael Kumpfmüller
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Was vom Leben übrig blieb - ein großer Roman über Virginia Woolf. Wie kaum eine Frau ihrer Zeit steht Virginia Woolf für das Ringen um Eigenständigkeit, um Raum für sich, um eine unverkennbare Stimme. Ihr Leben war überreich an allem - auch an Düsternissen. Michael Kumpfmüller hat einen sprachmächtigen, kühnen Roman über die letzten zehn Tage ihres Lebens geschrieben. Im März 1941 gerät die berühmte Schriftstellerin in ihre letzte große Krise: Sie hat soeben ein neues Buch beendet, über das kleine Cottage im Süden Englands, das sie mit ihrem Mann Leonard bewohnt, fliegen deutsche Bomber. Sie führt das Leben einer Gefangenen, die nicht weiß, wie und wohin sie ausbrechen soll - und am Ende entscheidet sie sich für den Fluss. Diese letzten Tage Virginia Woolfs beschwört Michael Kumpfmüller in seinem neuen Roman eindrücklich herauf. Er zeichnet das Bild einer Person, die in Auflösung begriffen scheint und sich auf die Reise in den Innenraum macht, der eine Welt voller Schrecken und eben auch Wunder ist. »Ach, Virginia« ist ein literarisches Porträt auf kleinstem Raum, aber es ist noch mehr - ein leidenschaftliches Plädoyer für das Leben, ein Versuch der Annäherung, an dessen Ende die Erkenntnis steht, dass man nicht alles billigen muss, was man nachvollziehen kann.

Michael Kumpfmüller, geboren 1961 in München, lebt als freier Autor in Berlin. Im Jahr 2000 erschien mit dem gefeierten Roman »Hampels Fluchten« seine erste literarische Veröffentlichung, 2003 sein zweiter Roman »Durst« und 2008 »Nachricht an alle«, für den er vor dem Erscheinen mit dem Döblin-Preis ausgezeichnet wurde. »Die Herrlichkeit des Lebens« wurde 2011 zum Bestseller und von der literarischen Kritik hochgelobt. Mittlerweile ist der Roman in 27 Sprachen übersetzt und 2024 unter der Regie von Georg Maas und Judith Kaufmann verfilmt worden. Zuletzt erschienen bei Kiepenheuer & Witsch die Romane »Tage mit Ora« (2018), »Ach, Virginia« (2020) und »Mischa und der Meister« (2022).

Michael Kumpfmüller, geboren 1961 in München, lebt als freier Autor in Berlin. Im Jahr 2000 erschien mit dem gefeierten Roman »Hampels Fluchten« seine erste literarische Veröffentlichung, 2003 sein zweiter Roman »Durst« und 2008 »Nachricht an alle«, für den er vor dem Erscheinen mit dem Döblin-Preis ausgezeichnet wurde. Bei seiner Veröffentlichung im Jahr 2011 wurde der Roman »Die Herrlichkeit des Lebens« zum Bestseller und von der literarischen Kritik hochgelobt. Mittlerweile ist er in 24 Sprachen übersetzt worden. Zuletzt erschienen seine Romane »Die Erziehung des Mannes« (2016), »Tage mit Ora« (2018) und »Ach, Virginia« (2020).

Zorn


1


[INTERKONTINENTALFLUG]

Es dauert eine Weile, bis sie alles zusammenhat: ihre Sprache, den Ton, der für sie wichtiger als jede Geschichte ist, obwohl sie natürlich auch Geschichten hat, dazu irgendwann das Quäntchen Glück, das man braucht, wenn man nach oben kommen will, und das will sie.

Sie hat den einen oder anderen Schrecken hinter sich, aber jetzt, mit Anfang dreißig, scheint dergleichen hinter ihr zu liegen – mit ihrem ersten Roman ist sie sofort da. Er wird in den Zeitungen wohlwollend und mit einem Hauch Begeisterung besprochen, diese halbwegs junge Frau ist ein Talent, von ihr wird zu hören sein, jedenfalls nimmt man das allgemein an, sie selbst fürs Erste vielleicht am wenigsten.

Als Mensch gilt sie als kompliziert. Ihr Humor ist eher kalt, sie hat eine spitze, flinke Zunge und liebt es, Leute bis auf die Knochen auszuziehen, wobei ihr beinahe jedes Mittel recht ist, und tatsächlich ist sie in Gesellschaft überaus amüsant.

Ihr Fluch sind die Männer. Bis in ihre späten Zwanziger sieht es so aus, als würde sie auf ein Leben als Nonne zusteuern, doch dann heiratet sie Knall auf Fall einen Mann, der sich wie sie als Schriftsteller versucht und Jude ist, aber warum nicht, am Ende werden sie sich an die dreißig Jahre ertragen.

Virginia und Leonard.

Gibt es etwas, das sie nicht haben, außer dieser stark überschätzten Sache mit der Kopulation?

Sie sind das Traumpaar ihrer Zeit und Gegend.

In den ersten Jahren müssen sie scharf rechnen, aber sie besitzen Häuser auf dem Land, bewohnen erst das eine und anschließend das andere, haben natürlich auch eine Wohnung in London, arbeiten, empfangen Heerscharen von Gästen.

Mit der Gründung des eigenen Verlages kommt das Geld. Man wechselt mehrfach das Stadtviertel und gewöhnt sich an den Komfort, hat Telefon und elektrisches Licht, dazu natürlich Personal, jemanden, der kocht und die Zimmer in Ordnung hält; bei Gelegenheit schafft man das erste Automobil an, das Leben ist bunt und schnell, und es dürfte nicht wenige geben, die sie darum beneiden. Sie haben haufenweise Freunde, mit denen sich die abgelegensten Themen besprechen lassen, und verkehren in den angesehensten Häusern der Hauptstadt, wo es von feinen Leuten wimmelt, die zwar keineswegs durchweg interessant sind, doch dafür hat man anschließend den Spaß, nach Strich und Faden über sie herzuziehen, auf dem Nachhauseweg durch die nächtlichen Straßen von Richmond oder gleich vor Ort, mittendrin im Gewühl, was mit einiger Regelmäßigkeit zu hübschen kleinen Skandalen führt, mit denen sich das ewige Mädchen einen respektablen Ruf als Intrigantin erwirbt.

Mit jedem Buch, das sie veröffentlicht, wird sie berühmter. Es fällt viel Licht auf sie, da kann man als Außenstehender leicht übersehen, dass in ihr drin, sagen wir: in ihrer Seele, einige sehr alte und auch neue Dunkelheiten herrschen, für ein paar Tage oder meinetwegen Wochen, wenn die Kritiken noch nicht raus sind oder nicht ausfallen, wie sie erhofft hat, und sie tagelang nur zittert.

Doch insgesamt hält sich ihr Unglück über zwei Jahrzehnte in Grenzen. Man liegt vorübergehend flach und hat üble Gedanken, bevor man sich tapfer wieder hochrappelt und in das nächste, noch größere, noch buntere Karussell steigt, das das Leben als Berühmtheit ist.

Die Jahre vergehen wie im Flug; es ist dauernd etwas los. Es kommt zu vorübergehenden Annäherungen an Kollegen und wackeligen Liebschaften mit Frauen, und dazwischen regelmäßig Abschiede, Rückzüge in den Innenraum, die paralympische Zweisamkeit mit dem Mann.

In den kalten Jahreszeiten bleibt das Paar überwiegend in der Stadt, aber später, im Mai, setzt es in bester Reiselaune über den Kanal und besichtigt die Nachbarländer: das Deutschland vor und mit Hitler, Italien vor und mit Mussolini, dazu Irland, Frankreich und die Niederlande, das schöne Griechenland nicht zu vergessen.

Mit dem Beginn des Krieges werden die Verhältnisse erheblich komplizierter, die inneren nicht weniger als die äußeren; was schöne Gewohnheit gewesen ist, steht plötzlich infrage, morgen schon kann es mit allem vorbei sein, und ehe man sichs versieht, hat sich ihre Welt doch reichlich verdüstert und verengt.

Da ist es auch kein Trost, dass sich die deutschen Soldaten vorläufig andernorts austoben, denn leider läuft die Katastrophe in atemberaubender Geschwindigkeit ab, zudem befehligt dieser Herr Hitler eine imposante Luftwaffe, und im Mai 1940 machen die Teufel Ernst und lassen die ersten Bomben unter anderem auf London fallen.

Anfangs scheint der Schaden gering, man kann sich mit eigenen Augen überzeugen, dass es vorläufig nur andere trifft, bloß eines Tages trifft es einen selbst. Die Wohnung am Mecklenburgh Square wird von heute auf morgen zur Ruine, man muss, was an Dingen unversehrt ist, aufs Land schaffen, wo es aber nur bedingt sicherer ist, die deutschen Flugzeuge überfliegen regelmäßig ihr kleines Sommerhaus. Sie rechnen jederzeit mit dem Ende, das Invasion und Besatzung heißt, haben zunehmend Mühe mit der Lebensmittelbeschaffung und natürlich längst kein festes Personal mehr; eine Frau aus dem Dorf kümmert sich stundenweise um den Haushalt, aber davon abgesehen hat man nur noch sich, und wahrscheinlich ist das ja für kein Paar der Welt auf die Dauer zuträglich.

Wäre das Leben ein Interkontinentalflug, befände sie sich eindeutig in der Sinkphase. Der Großteil der Reise liegt hinter ihr, man nähert sich der Landebahn, streift über verstreute Siedlungen, Felder, Wiesen, bevor die Maschine mit einem ziemlichen Rums auf dem Boden der neuen Tatsachen aufsetzt. Die Erde hat einen zurück, man rollt, das ist noch einmal ein Fitzelchen Bewegung, aber dann ist man definitiv unten, und der Rest – man muss es leider sagen – ist Passage, Abwicklung, im Grunde ohne Bedeutung.

Sie ist seit Kurzem neunundfünfzig, und tatsächlich könnten die bloße Zahl und das dazugehörige Gesicht sie in Depressionen stürzen. Aber das ist es nicht. Auch der neue Roman, den sie kürzlich beendet hat, ist es nicht, wenngleich auch der Roman eine Rolle spielt, ihre wachsende Rast- und Kraftlosigkeit. In einem Wort: Es geht ihr so schlecht wie seit Jahren nicht. Das Landleben, das lange das Beste war, ist zur lästigen Routine geworden, ihr fehlen die Leute, die Streits, irgendeine Form von Anregung, mit der sich etwas anfangen ließe; und stattdessen sitzt sie unter den von deutschen Fliegern bevölkerten Himmeln von East Sussex und langweilt sich im wahrsten Sinn des Wortes zu Tode.

Man braucht keine Menschen mehr, wenn man über fünfzig ist, hat sie mit Anfang vierzig geglaubt, aber das stellt sich als folgenschwerer Irrtum heraus. Sie verhungert ohne Gesellschaft, sie hadert mit ihrem verblassenden Ruhm und dass sich kaum jemand für sie interessiert. Seit Wochen liegt sie mehr oder weniger untätig im Haus, bedrängt von allen möglichen Stimmen; in den Nächten findet sie kaum Schlaf und tigert durch ihr Zimmer, auf der Suche nach einem Licht, etwas, das sie da herausholt, eine Lektüre, die sie aufweckt, ein Plan für ein neues Buch, aber es fällt ihr beim besten Willen nichts ein, nur dass es so nicht weitergeht.

Sie mag nicht mehr.

Das ist das Mindeste, was man zu ihrem Zustand sagen muss, sie hat Angst, verrückt zu werden, und will dieses Leben schnellstmöglich hinter sich lassen.

Dazu müsste sie natürlich etwas tun. Einfach aufstehen und gehen, denkt sie, und wahrscheinlich ist das ja die einzige Idee, die sie je gehabt hat, dass man eines Tages aufsteht und geht, egal, was da um einen herum ist, so da etwas ist, und danach sieht es leider nicht aus.

[DIENSTAG, 18. MÄRZ]

Der Anfang vom Ende ist, dass sie ihrem Mann schreibt. Sie hat es wieder und wieder aufgeschoben, aber nun ist der Zeitpunkt da.

Sie sitzt wie in den guten Jahren in ihrer Schreibhöhle im Garten, wo sie ein Gutteil ihres Werks geschrieben hat, zwei Handvoll Romane, Briefe, ihre Tagebücher, ab und zu eine Rezension oder was sonst sie an ihrem Schreibtisch getan hat: fluchen vor allem, warten, dass die Wörter, Sätze kommen, und dann abtauchen, weit weg in ihre fein ziselierten Innenwelten, während draußen immerzu der Garten gewesen ist und Leonard in diesem Garten, die wundersamen Blumen, Bäume, der Teich, kleines Getier; in der nahen Ferne die geliebte Landschaft der Downs.

Wie in den Sekunden vor dem Einschlafen zieht all das an ihr vorüber, bevor sie in verzweifelter Hast zu schreiben beginnt, seltsam beschwingt, fast, als würde ihr gefallen, was sie da schreibt, der neue Schwung, mit dem sie es tut, weil ja alles unumstößlich wahr ist, hier, in ihrem letzten Brief, wie sie glauben muss, der ohne jeden Schnörkel ist und eines Adressaten kaum bedarf.

»Liebster, ich bin mir sicher, dass ich wieder wahnsinnig werde: Ich habe das Gefühl, dass wir nicht noch eine dieser schrecklichen Zeiten durchmachen können. Und dieses Mal werde ich nicht wieder gesund werden. Ich fange an, Stimmen zu hören, und kann mich nicht konzentrieren. Also tue ich, was das Beste zu sein scheint. Du hast mir das größtmögliche Glück geschenkt. Du warst in jeder Hinsicht alles, was jemand mir sein konnte. Ich glaube nicht, dass zwei Menschen glücklicher hätten sein können, bis diese schreckliche Krankheit kam. Ich kann nicht länger dagegen ankämpfen, ich weiß, dass ich Dein Leben ruiniere, dass Du ohne mich arbeiten könntest. Und das wirst...

Erscheint lt. Verlag 13.2.2020
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abschiedsbrief • Biografischer Roman • Die Herrlichkeit des Lebens • Die Wellen • ein zimmer für sich allein • England • Feminismus • Mrs. Dalloway • Selbstmord • Virginia Woolf
ISBN-10 3-462-32137-4 / 3462321374
ISBN-13 978-3-462-32137-1 / 9783462321371
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