Das Haus der vergessenen Kinder (eBook)

Roman

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
640 Seiten
Blanvalet (Verlag)
978-3-641-22944-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Haus der vergessenen Kinder -  Clara Frey
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Sie waren Feinde - bis sie sich verliebten. Doch ihre Liebe könnte nicht nur sie das Leben kosten.
Frankreich 1940. Als Antoine Mardieu in die Vichy-Regierung berufen und in den kleinen Ort Izieu versetzt wird, weiß er noch nicht, dass dies sein Leben grundlegend verändern wird. Denn dort lernt er Marguérite kennen, die im Kinderheim von Izieu arbeitet, und verliebt sich Hals über Kopf in sie. Als er erfährt, dass sie eine aus Deutschland geflohene Jüdin ist, muss er seine bisherigen Ideale überdenken. Er erkennt, wie sehr er sich von seinen Vorgesetzten hat blenden lassen - doch kommt sein Sinneswandel noch rechtzeitig?
Gegenwart. Bei einem Segelkurs am Bodensee begegnen sich die Lehrerin Valerie und der französische Historiker Rick, der dort die Wahrheit über seinen verschollenen Großvater herausfinden will. Obwohl Valerie in festen Händen ist, verlieben die beiden sich leidenschaftlich ineinander. Es scheint jedoch eine Verbindung zwischen ihren beiden Familien zu geben, die den beiden Liebenden Jahrzehnte später zum Verhängnis werden könnte ...

Geboren in Augsburg, studierte Clara Frey in Würzburg und München Germanistik, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaften. Schon als Kind lief sie stets mit einem Stift und einem Notizheft durchs Leben und notierte alles, was ihr wichtig erschien. Neben dem Schreiben gehören das Kochen und das Reisen zu ihren großen Leidenschaften. Clara Frey lebt mit ihrer Familie und diversen Haustieren in der Nähe des Bodensees und in der Provence.

Lélinaz, Frankreich, April 1944

Noch lag ein zarter Schleier über der von Morgendunst verhüllten Landschaft der Bugey. Während in den Flussauen der jungen Rhône der Nebel dicht und zäh alles unter sich verbarg, begann sich ein Stück weiter oben, in den Kalkfelsen des über zweitausend Meter hohen Gebirgszugs der Chartreuse, der Vorhang bereits zu lüften. Dort, wo sich die Sonne bereits über die Hügel erhob, vermochten ihre wärmenden Strahlen die Feuchtigkeit der Nacht aufzulösen. Schon bald war alles in friedliches Morgenlicht gehüllt. Der Ruf der Hähne mischte sich mit vereinzeltem Hundegebell und dem Brüllen der Kühe, die gemolken werden wollten. Vogelgezwitscher erfüllte die Frühlingsluft, in den Dörfern Brégnier-Cordon und Izieu sowie den Höfen und Weilern rundherum begannen die Menschen, ihren täglichen Pflichten nachzugehen. Aus dem Kinderheim des Weilers Lélinaz hörte man den hellen Klang von Kinderstimmen.

»Mina, Claudine! Beeilt euch! Was seid ihr nur für Schlafmützen. Gleich gibt’s Frühstück.«

Léa Feldblum sah, wie sich unter den Bettdecken des Stockbettes im hinteren Teil des Schlafsaals etwas zu regen begann. Wenig später schaute der verstrubbelte Kopf der achtjährigen Mina Halaunbrenner aus dem oberen der beiden Betten.

»Aber heute sind doch Ferien«, protestierte die Kleine reichlich verschlafen. »Ich will noch nicht aufstehen!«

»Die Sonne scheint und wartet nur darauf, dass ihr sie begrüßt!«

Léa Feldblum begleitete ihre Worte mit einem gutmütigen Lachen. Gleichzeitig zog sie mit einem kräftigen Ruck an der Bettdecke, sodass Mina gar nichts anderes übrig blieb, als endlich aufzustehen. Ihre fünfjährige Schwester saß bereits in ihrem Nachthemd auf der Bettkannte und rieb sich verschlafen die Augen. Die anderen Mitbewohnerinnen des Schlafsaals waren längst angezogen und befanden sich draußen an dem steinernen Brunnen bei der Morgentoilette. Aus dem geöffneten Fenster hörte man ihr Kichern und munteres Plaudern. Léa nahm sich die Zeit und setzte sich neben Claudine auf den Bettrand. Deren nackte Füßchen baumelten einen Fingerbreit über dem Boden, während sie teilnahmslos einen unbestimmten Punkt im Raum fixierte. An den verquollenen Augen erkannte Léa, dass die Kleine auch in dieser Nacht wieder geweint hatte.

»Komm, ich helfe dir beim Anziehen«, schlug die Betreuerin vor und reichte Claudine einen der Wollstrümpfe, die sorgfältig, wie die anderen Kleidungsstücke auch, über dem Gitterende des Feldbettes hingen. Die beiden Mädchen hatten erst wenige Tage zuvor erfahren, dass ihr Vater und ihr ältester Bruder in einem deutschen Konzentrationslager ums Leben gekommen waren. Seitdem war ihr Heimweh nach der Mutter, der Schwester Monique und ihrem Bruder Alexandre noch unerträglicher geworden. Während Mina sich äußerlich nichts anmerken ließ, weinte Claudine viel und zog sich immer mehr in sich zurück. Léa, die sich gemeinsam mit ihrer Kollegin Marguérite um die kleineren der jüdischen Kinder in dem Waisenhaus kümmerte, versuchte, sie abzulenken. »Möchtest du nach dem Frühstück vielleicht die Ferkel sehen? Monsieur Perticoz meinte, dass ihr sie heute besuchen dürft. Julien und Marguérite werden euch begleiten.«

Die Aussicht auf einen Besuch im Stall des Nachbarbauern gemeinsam mit Marguérite hob Claudines Stimmung. Ihre verweinten Augen leuchteten sogar ein wenig, als sie endlich damit begann, sich anzuziehen. Sie liebte die Betreuerin, die immer gut gelaunt war, so viele lustige Geschichten und Lieder kannte und außerdem ihre Muttersprache sprach. Mit ihr konnten selbst traurige Tage schön sein. Und Julien, der Knecht der Perticoz, war auch ganz nett. Manchmal ließ er sie auf seinem Rücken reiten und machte Späße, die die Kinder zum Lachen brachten.

»Wo ist Marguérite? Warum ist sie nicht hier?«, erkundigte sich Claudine, die es plötzlich nicht mehr erwarten konnte, endlich den Tag zu beginnen.

»Sie wird gleich kommen«, versicherte Léa. »Sie hatte gestern frei und war unten im Dorf.«

»Bestimmt hat sie sich wieder mit Antoine getroffen«, erwiderte die Kleine kichernd. »Die beiden sind, glaub ich, verliebt! Marguérite wird immer ganz rot, wenn sie ihn ansieht. Das hab ich gesehen!«

Mina, die bereits fertig war mit dem Ankleiden, drängte ihre Schwester, sich zu beeilen. Auch ihr lag eine Frage auf der Seele.

»Und was ist mit Madame Zlatin?«, erkundigte sie sich schüchtern. »Sie hat versprochen, sich nach Mama und Alexandre zu erkundigen. Vielleicht bringt sie sie ja mit!«

»Sie kommt sicher heute oder morgen zurück«, meinte Léa freundlich. »Bestimmt hat sie auch gute Nachrichten für euch. Und nun geht runter in den Frühstücksraum. Paul hat frisches Brot gebacken.«

Mina nahm ihre Schwester an die Hand und machte sich auf den Weg, während Léa ihnen nachdenklich folgte. Sie hoffte, dass ihre Worte der Wahrheit entsprachen und Heimleiterin Sabine Zlatin gute Neuigkeiten mitbrachte. Sie waren nicht mehr sicher, seitdem die Deutschen nun auch in dieser Region alles kontrollierten. Ein Anflug von Wehmut überfiel Léa, als sie sich vorstellte, dass sich ihre Gemeinschaft nun bald wieder auflösen würde. In den Monaten, die sie hier mit den Kindern verbracht hatte, hatte sie sich an diesen Ort gewöhnt und auch sicher gefühlt. Der Weiler lag einsam im Hinterland von Chambéry, nicht allzu weit von der schweizerischen Grenze entfernt. Ob es wohl möglich war, noch einmal einen solch sicheren Platz zu finden?

Die Menschen, die in der Gegend lebten, hatten ihre Gruppe gut aufgenommen und auf vielerlei Weise unterstützt. Sie hatten nicht danach gefragt, woher sie kamen, obwohl es ihnen nicht verborgen geblieben sein konnte, dass sie Flüchtlinge waren, die sich vor der Gestapo und der Vichy-Regierung versteckten. Dass sie alle noch am Leben waren, hatten sie dem Einsatz und Geschick des Ehepaars Zlatin zu verdanken, das sich trotz aller Widrigkeiten nicht davon abhalten ließ, ihnen zu helfen.

An die hundert Kinder hatte das Waisenhaus von Izieu im Laufe der letzten Monate gesehen. Die meisten von ihnen waren nur kurze Zeit geblieben, bevor die Zlatins sie anderswo in Sicherheit gebracht hatten. Léa hatte es nie bereut, als sie sich damals gemeinsam mit Marguérite dazu entschlossen hatte, Sabine und Miron zu helfen. Obwohl sie täglich Gefahr liefen, entdeckt oder verraten zu werden, war ihnen niemals der Gedanke gekommen, die Kinder alleinzulassen. Für die meisten waren sie die einzigen Bezugspersonen, nachdem man sie von ihren Eltern getrennt hatte. Viele hatten Schreckliches durchgemacht und brauchten die Hinwendung und Fürsorge mehr noch als Essen und Trinken. Doch nun waren die Deutschen in die von den Italienern besetzte Zone eingedrungen, sodass die Kinder hier nicht länger sicher waren. Aus diesem Grund warteten sie alle sehnlichst auf Sabine Zlatin, die nach Montpellier gereist war, um über die Flüchtlingsorganisation neue Zufluchtsorte zu finden. Léa war sicher, dass ihr das gelingen würde.

Im Speisesaal herrschte ein munteres Durcheinander, während sich die gut vierzig Kinder zwischen vier und siebzehn Jahren versammelten. Der Tumult nahm noch zu, als Léon Reifmann mit zwei Jugendlichen eintraf, die er für die Ferien aus dem Collège in Belley abgeholt hatte. Léas Herz schlug ein wenig schneller, als sie den jungen Mann eintreten sah. Seine Schwester mit ihrem Sohn Claude und seine Eltern begleiteten ihn. Miron Zlatin begrüßte die Neuankömmlinge herzlich. Léon hatte viel zu erzählen, denn er hatte einige Wochen zuvor über Nacht untertauchen müssen, nachdem bekannt geworden war, dass die Deutschen verstärkt junge Männer als Zwangsarbeiter rekrutierten. In seinem Gepäck hatte er Briefe und Ansichtskarten für einige der Kinder.

»Machst du auch bei unserem Theaterstück mit?«, bestürmte ihn der zwölfjährige Jacques Benguigui. »Wir brauchen noch ein paar gute Ideen für das Osterstück.«

Auch sein Freund Barouk-Raoul Bentitou war ein begeisterter Schauspieler. Gemeinsam mit dem Betreuer hatten sie schon mehrfach Stücke einstudiert.

»Warum nicht?« Léon lachte. »Habt ihr denn schon eine Idee?«

»Wir spielen Drachentöter und Prinzessin«, sprudelte es aus Raoul hervor.

»Ich frage gleich mal Philippe, ob er uns den Film von Tarzan noch mal mit der Laterna magica zeigt«, stimmte Joseph Goldberg begeistert mit ein.

Der Koch der Kolonie, so nannte man das Anwesen auch, hatte den Kindern mit dem selbst gebauten Projektor schon oft eine Freude bereitet, indem er ihre auf Papierstreifen gefertigten Zeichnungen auf eine Leinwand projizierte. Die Stimmung wurde immer ausgelassener. Sowohl die Kinder als auch die Erwachsenen freuten sich auf die bevorstehenden Ostertage ohne Verpflichtungen. Um endlich wieder etwas Ruhe in den Saal zu bekommen, klatschte Miron Zlatin in die Hände und forderte die Kinder auf, sich zum Frühstück an die Tische zu setzen. Der Geruch von frisch gebackenem Brot durchzog den Raum. Auf den Tischen standen Gläser mit selbst gemachter Marmelade und Frischkäse von Bauer Perticoz. In den Keramikkannen befand sich heiße Ovomaltine. Während sich die Kinder auf Kommando ans Essen machten, ging die Tür auf, und ein Junge von vielleicht fünfzehn Jahren trat ein.

»François«, wurde er überrascht von dem Kinderheimleiter begrüßt. »Hat dir Monsieur Bourdon etwa doch freigegeben?«

»Ja, Monsieur«, antwortete François verlegen. Sein eigentlicher Name war Fritz Loebmann. Doch den hatte er wie viele deutsche Kinder, die in diesen gefährlichen Zeiten im Ausland untertauchen mussten, abgelegt. Sein Französisch hatte allerdings einen...

Erscheint lt. Verlag 17.5.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 2. Weltkrieg • Bodensee • Charlotte Roth • Deutsche Autorin • Die Kinder von Izieu • eBooks • Familiensaga • Frankreich • Historische Romane • Holocaust • Kinder von Beauvallon • kleine geschenke für frauen • Kriegsverbrechen • Liebesromane • Linda Winterberg • Roman auf zwei Zeitebenen • Taschenbuchneuerscheinungen 2021 • tragische Liebe • Wahre Begebenheit • Weltkrieg • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-641-22944-8 / 3641229448
ISBN-13 978-3-641-22944-3 / 9783641229443
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