Kein Freund außer den Bergen (eBook)

Nachrichten aus dem Niemandsland
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2020 | 1. Auflage
448 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-25408-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kein Freund außer den Bergen -  Behrouz Boochani,  Omid Tofighian
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»Die zornige Stimme der Internierten« - Süddeutsche Zeitung
Der kurdisch-iranische Journalist Behrouz Boochani wurde Anfang 2013 auf der berüchtigten Abschiebeinsel Manus Island in einem von Australien betriebenen Auffanglager als staatenloser Flüchtling interniert. Bald wurde er als Sprecher der unter unfassbaren Zuständen festgehaltenen »Boatpeople« erneut zur Zielscheibe von Repression und Erniedrigung. Die bewegende Geschichte seiner Flucht und seiner über sechs Jahre andauernden Inhaftierung hat er über Monate hinweg als Kurznachrichtengewitter an seinen Übersetzer geschrieben. Satz für Satz. Auf einem Handy.
»Woher bin ich gekommen? Aus dem Land der Flüsse, dem Land der Wasserfälle, dem Land der uralten Gesänge, dem Land der Berge [...]. Die Leute rannten in die Berge, um den Kriegsflugzeugen zu entkommen, und sie fanden Asyl in ihren Walnusswäldern [...]. Haben Kurden noch irgendwelche anderen Freunde, außer den Bergen?«

Behrouz Boochani, geboren 1983, ist ein kurdisch-iranischer Journalist, Autor und Filmemacher. Bis zu seiner Flucht vor der Verfolgung durch die iranischen Sicherheitsbehörden im Jahr 2012 war er in Teheran Chefredakteur eines liberalen Magazins für Politik und Kultur. Als politischer Gefangener der australischen Regierung war er fast sieben Jahre lang in Papua-Neuguinea inhaftiert. Trotz der teils massiven Einschränkungen erscheinen seine Texte regelmäßig in zahlreichen Zeitungen und Nachrichtenportalen, darunter The Guardian, Huffington Post, Financial Times und Sydney Morning Herald. Für seinen Satz für Satz auf einem Mobiltelefon geschriebenen, autobiografischen Roman »No Friend But The Mountains« erhielt er Anfang 2019 den wichtigsten Australischen Literaturpreis. Außerdem ist er Preisträger zahlreicher Menschenrechts-, Journalismus- und Aktivismuspreise, u.a. des »Anna-Politkowskaja-Awards for Journalism 2018«. Keinen dieser Preise konnte er bislang persönlich in Empfang nehmen. Auf Druck internationaler Organisationen und mit Hilfe zahlreicher Unterstützer kam er im November 2019 endlich frei und lebt seitdem als geduldeter politischer Flüchtling in Neuseeland.

1

Unter Mondlicht / Die Farbe der Beklemmung


Unter Mondlicht /
Die Route unbekannt /
Der Himmel die Farbe größter Beklemmung.

Zwei Lastwagen mit verängstigten, unruhigen Menschen auf dem gewundenen Weg durch ein Felslabyrinth. Sie fahren in vollem Tempo, rundum Dschungel, aus dem Auspuff ein furchterregendes Fauchen. Die Seiten der Fahrzeuge sind mit schwarzem Tuch verhüllt, das Einzige, was wir sehen, sind die Sterne über uns. Frauen und Männer sitzen dicht gedrängt, ihre Kinder auf dem Schoß … Wir blicken hinauf zum Himmel, die Farbe größter Beklemmung. Von Zeit zu Zeit verändert jemand ein klein wenig seine Position auf der hölzernen Ladefläche, damit das Blut in den müden Muskeln wieder fließt. Wir sind erschöpft vom Sitzen, aber trotzdem müssen wir unsere Kräfte schonen, für den Rest der Reise.

Sechs Stunden lang habe ich gesessen, ohne mich zu rühren, mit dem Rücken an die Holzwand der Pritsche gelehnt, einem alten Trottel zugehört, der sich über die Schleuser beschwerte, ein steter Strom Schimpfwörter aus seinem zahnlosen Mund. Drei Monate sind wir hungrig und elend durch Indonesien geirrt, doch immerhin hat es uns dies hier beschert, die Straße durch den Dschungel, an deren Ende der Ozean liegt.

In einer Ecke der Pritsche, gleich an der Luke, ist eine improvisierte Trennwand aus Tuch errichtet; ein Sichtschutz, damit die Kinder in leere Wasserflaschen pinkeln können. Keiner achtet darauf, wenn ein paar hochmütige Männer hinter den Schirm gehen und die Flaschen mit Urin über Bord werfen. Keine von den Frauen rührt sich. Bestimmt müssen auch sie austreten, aber vielleicht gefällt ihnen die Vorstellung nicht, hinter dem Tuch ihre Blase zu entleeren.

Viele Frauen halten ihre Kinder im Arm, in Gedanken bei dem gefährlichen Weg übers Meer. Die Kinder hüpfen auf den Schößen, erschrecken bei jedem Schlagloch und den Buckeln der Straße. Selbst die ganz jungen spüren die Gefahr. Man hört es am Tonfall ihrer Schreie.

Das Dröhnen des Lastwagens /
Das Diktat des Auspuffs /
Furcht und Beklemmung /
Der Fahrer befiehlt uns: Bleibt sitzen.

Ein dünner Mann mit dunklem, wettergegerbtem Gesicht steht nahe der Luke, gebietet regelmäßig mit Gesten Schweigen. Doch die Luft auf der Ladefläche ist erfüllt vom Weinen der Kinder, den Lauten der Übung, die sie trösten wollen, von dem furchteinflößenden Dröhnen des Auspuffs, wie ein Schrei.

Der Schatten der Furcht über uns schärft unsere Sinne. Manchmal ragen Äste so weit über die Straße, dass sie den Himmel verdecken, dann ist er wieder zu sehen; es wechselt schnell bei unserem Tempo. Ich kann nicht genau sagen, welche Route wir nehmen, aber ich nehme an, dass das Boot, das uns nach Australien bringen soll, an einer entlegenen Ecke der indonesischen Südküste liegen wird, irgendwo bei Jakarta.

In den drei Monaten, die ich in der Kalibata City von Jakarta und auf der Insel Kendari war, hörte ich immer wieder von untergegangenen Booten. Aber man denkt immer, diese Art Unglück stößt nur den anderen zu – nicht leicht, sich vorzustellen, dass man selbst dem Tod ins Auge blicken muss.

Den eigenen Tod stellt man sich anders als den anderer Leute vor. Ich kann ihn mir überhaupt nicht vorstellen. Kann es sein, dass diese zwei Lastwagen auf ihrer rasenden Fahrt Richtung Ozean Kuriere des Todes sind?

Nein /

Nicht solange Kinder an Bord sind /

Unmöglich /

Wir sollen im Meer ertrinken? /

Mein Tod wird anders, da bin ich mir sicher /

Die Umstände werden friedlicher sein.

Andere Boote kommen mir in den Sinn, die in letzter Zeit am Grunde des Meeres gelandet sind.

Meine Furcht wird größer /

Gab es denn auf diesen Booten nicht auch kleine Kinder? /

Waren die, die ertranken, nicht genau wie ich?

Augenblicke wie diese wecken eine Art metaphysischer Kraft in uns und vertreiben aus unseren Gedanken den Tod. Nein, das darf nicht sein, dass ich dermaßen schnell vor dem Tod kapituliere. Es ist mir vorbestimmt, in ferner Zukunft zu sterben, und nicht durch Ertrinken oder ein Schicksal ähnlicher Art. Ein ganz bestimmter Tod ist mir vorbestimmt, und ich wähle ihn selbst. Ich komme zu dem Schluss, dass mein Tod eine Sache des Willens sein muss – ich nehme es mir vor, schreibe es tief in meine Seele ein.

Der Tod muss eine Sache des Willens sein.

Nein, ich will nicht sterben /

So leicht gebe ich mein Leben nicht her /

Der Tod ist unausweichlich, das wissen wir /

Einfach nur ein Bestandteil des Lebens /

Aber ich will vor dem Tod nicht kapitulieren /

Schon gar nicht so weit fort von zuhaus /

Ich will nicht dort draußen sterben, umgeben von Wasser /

Und nichts als Wasser.

Ich hatte mir immer vorgestellt, dass ich an dem Ort sterben würde, an dem ich geboren war, an dem ich aufgewachsen war und mein ganzes bisheriges Leben verbracht hatte. Unmöglich, sich vorzustellen, dass man Tausende von Kilometern entfernt von da stirbt, wo man seine Wurzeln hat. Was für ein schrecklicher, elender Tod, die schiere Ungerechtigkeit; eine Ungerechtigkeit, die mir die reine Willkür scheint. Natürlich will ich mir da nicht vorstellen, dass es mir so ergeht.

Ein junger Mann und seine Freundin Azadeh1 fahren im vorderen Wagen. Bei ihnen sitzt unser gemeinsamer Bekannter, der Junge mit den blauen Augen. Alle drei quält der Gedanke an das Leben, das sie im Iran zurücklassen mussten. Als die Lastwagen uns von unserem Quartier abholen kamen, warfen die beiden Männer ihr Gepäck wie Soldaten hinten auf die Ladefläche und kletterten auf die Pritsche. In den drei Monaten, die wir in Indonesien verbracht haben, waren sie uns anderen Flüchtlingen immer einen Schritt voraus gewesen. Ob es darum ging, ein Hotelzimmer zu finden, etwas zu essen oder um die Fahrt zum Flughafen, immer erwies sich dieser Eifer ironischerweise als Nachteil. Einmal, als wir nach Kendari fliegen mussten, fuhren sie schon vor allen anderen zum Flughafen. Doch bei ihrer Ankunft konfiszierten die dortigen Beamten ihre Pässe, und sie konnten nicht mit nach Kendari; tagelang mussten sie durch die Straßen von Jakarta irren, in den Sträßchen und Gassen um Essen betteln.

Jetzt sind sie wieder ganz vorn, schnell wie der Blitz, an der Spitze des Rudels, die Nase im scharfen Wind. Mit dröhnendem Auspuff suchen sich die beiden Lastwagen ihren Weg zum Ozean. Ich weiß, der Junge mit den blauen Augen trägt eine Furcht in seinem Herzen, noch aus der Zeit in Kurdistan. In Kalibata City, in der Zeit, die wir dort in der Hochhaussiedlung zubringen mussten, saßen wir abends auf den winzigen Balkonen, rauchten und redeten über unsere Vorstellungen von der bevorstehenden Reise. Er gestand uns, dass er sich vor dem Meer fürchtete; der reißende Fluss Seimare in der Provinz Ilam2 hatte seinen älteren Bruder verschlungen.

… An einem heißen Sommertag seiner Kindheit begleitet der Junge mit den blauen Augen seinen älteren Bruder zu den Fischnetzen, die sie am Abend zuvor im tiefsten Teil des Flusses ausgelegt haben. Sein Bruder taucht tief hinab; wie ein schwerer Stein, den man ins Wasser wirft, sinkt sein Leib in die Tiefe. Eine unerwartete Welle bekommt ihn zu fassen, und Augenblicke später ist nur noch seine Hand zu sehen, dem Jungen mit den blauen Augen hilfesuchend entgegengestreckt. Der Junge mit den blauen Augen ist noch klein, er schafft es nicht, die Hand seines Bruders zu ergreifen. Er kann nur weinen; er weint und weint, stundenlang, hofft, dass sein Bruder wieder auftaucht. Aber er ist fort. Zwei Tage später holen sie vom Fluss seinen Leichnam zurück, beschwören ihn nach alter Sitte mit einer Trommel, der Dohol. Der Klang der Dohol bewegt den Fluss dazu, den Toten freizugeben – eine musikalische Beziehung zwischen Tod und Natur …

Auf der ganzen Reise schleppt der Junge mit den blauen Augen diese erdrückende Erinnerung mit sich umher. Er hat schreckliche Angst vor dem Wasser. Trotzdem ist er am heutigen Tag dabei, als es in rasender Fahrt dem Ozean entgegengeht, zu einer Überfahrt von erschreckenden Dimensionen. Eine ominöse Fahrt im Schatten dieses alten, entsetzlichen Schreckens …

Die Lastwagen hasten voran durch den dichten Dschungel, zerreißen die Stille der Nacht. Alle sitzen schon seit Stunden auf der hölzernen Pritsche, die Erschöpfung steht auf jedem Gesicht. Ein oder zwei Leute mussten sich übergeben; sie haben alles, was sie zu sich genommen hatten, in Plastikbehälter gespuckt.

In einer anderen Ecke der Ladefläche sitzt ein Paar aus Sri Lanka mit seinem Kind, ein Säugling noch. Die meisten sind Iraner, Kurden, Irakis, und man sieht ihnen an, wie fasziniert sie davon sind, dass auch eine sri-lankische Familie mitfährt. Die Frau ist außerordentlich schön, mit dunklen Augen. Sie hält ihr Baby im Arm, von Zeit zu Zeit stillt sie es. Ihr Partner sorgt für sie; er macht es ihnen so bequem, wie er kann. Sie soll wissen, dass er da ist, ihre Stütze. Auf der ganzen Fahrt müht sich der Mann, ihr Mut zu machen, massiert ihr die Schultern, hält sie fest, wenn der Lastwagen seine Sprünge über die holprige Straße macht. Aber man merkt, dass die Sorge der Frau ganz ihrem kleinen Kind gilt.

Das Bild dort in der Ecke /

Ist Liebe /

Wunderbar und rein.

Aber sie ist bleich, einmal...

Erscheint lt. Verlag 9.3.2020
Übersetzer Manfred Allié, Gabriele Kempf-Allié
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel No Friend but the Mountains:Writing From Manus Prison
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Asyl • Australien • Briefe aus dem Gefängnis • eBooks • Flucht • Flüchtlingspolitik • Flüchtlingsschicksal • Gefängnis • Internierungslager • Menschenrechte • Unrecht • Vertreibung • Wahre Geschichten
ISBN-10 3-641-25408-6 / 3641254086
ISBN-13 978-3-641-25408-7 / 9783641254087
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