Fallobst (eBook)

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2019 | 1. Auflage
600 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75668-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Fallobst -  Hans Magnus Enzensberger
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»Fallobst, das in verschiedenen großen und kleinen Körben aufgesammelt wurde«, nennt Hans Magnus Enzensberger seine Beobachtungen, Notate, Kurzessays, Erinnerungen, Dialoge, Gedichte und Glossen. Mit spitzer Zunge, unumwunden und streitbar konfrontiert er uns mit Zeitgeist und mainstream. Doch kommen auch Würdigungen nicht zu kurz: von vertrauten und geliebten Menschen, von Brüdern und Schwestern im Geiste. Die deutsche Sprache, deren Tiefsinn und Abgründen der Autor mit lexikalischen Feinbohrungen auf den Grund geht, erfährt ihr Recht. Und nicht zuletzt die Natur in ihren so wundersamen wie kapriziösen Erscheinungen.



<p>Hans Magnus Enzensberger wurde am 11. November 1929 in Kaufbeuren geboren und starb am 24. November 2022 in M&uuml;nchen. Als Lyriker, Essayist, Biograph, Herausgeber und &Uuml;bersetzer war er einer der einflussreichsten und weltweit bekanntesten deutschen Intellektuellen.</p>

Um einander


Eine Münchner Ausstellung, die »Blumenkinder« heißt und Fotos von Stefan Moses aus den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts zeigt. Die Hippies kamen aus den Vereinigten Staaten von Amerika, besonders aus San Francisco und New York, und breiteten sich rasch auch in Europa aus. Flower-Power, 1965 von Alan Ginsberg erfunden, und Make love not war! Das waren ihre beliebtesten Slogans.

Ein merkwürdiger und widersprüchlicher Eindruck! Auf der einen Seite wie eine Zeitmaschine. Rührend und lächerlich zugleich, wie sich eine internationale Jugend als oppositionell und subversiv inszenierte. Auch maskierte sich die »Bewegung« gern als Revolution. Frieden, psychedelische Musik, ein Schuß fernöstlicher Esoterik und ein gelegentlicher LSD-Trip gehörten unbedingt dazu.

Wie fern und wie harmlos das alles, mit heutigen Augen betrachtet, wirkt!

Wer aber nach dem Besuch der Ausstellung durch die Münchner Innenstadt geht und einen Blick auf die Frisuren, die Schuhe und die Kostümierung der Passanten wirft, dem fällt auf, daß die Hippies auf paradoxe Weise gesiegt haben. Ohne es zu wissen, ähnelt der Habitus vieler Heutiger dem ihrer verflossenen Vorgänger. (Die einzigen Unterschiede liegen im Medienverhalten, weil die elektronischen Geräte damals noch nicht als unentbehrliche Prothesen galten, und darin, daß das Rauchen, ob Tabak oder Cannabis, aus dem öffentlichen Raum längst verbannt worden ist.)

Fest steht, daß die Modeindustrie im Lauf von sechzig Jahren die naiven Vorstellungen der Blumenkinder ausgeweidet und aufgezehrt hat. Der Kapitalismus ist unerbittlich; er frißt und verdaut auch die Ideen derer, die sich für seine Gegner halten.

Ein so unglücklicher wie genialer Schriftsteller wie Giacomo Leopardi hätte nie eine Schrift wie den Zibaldone zum Druck gegeben. Eine so wirre und geschwätzige Prosa zu publizieren wäre ihm als seiner unwürdig erschienen.

Der Titel ist hintersinnig. Denn er bedeutet in der Sprache der Emilia nichts anderes als ein Gericht, das aus Resten zusammengewürfelt wird: ein Mischmasch, ein Durcheinander. Leopardi hat ihn gewählt, um das Provisorische seiner Notizen aus den Jahren 1817 bis 1832 zu betonen. Er kann nur selbstironisch gemeint sein.

Die akademischen Gralshüter der italienischen Nationalliteratur haben das nicht kapiert.

Nach Leopardis Tod im Jahr 1837 sind die 4526 Seiten des Manuskripts bei seinem einzigen Herzensfreund Antonio Ranieri gelandet, der sie fünfzig Jahre lang in einem Koffer aufbewahrte, den er schließlich seinen beiden Dienstmädchen vererbte. Erst als Ranieri das Zeitliche gesegnet hatte, gelang es den Philologen, sich Zugang zu der Handschrift zu verschaffen und sie in der Nationalbibliothek von Neapel einzusargen. Seitdem hat sich eine ganze Industrie darüber hergemacht, sie kommentiert, ediert und zum Klassiker erklärt.

Daraus kann man nur schließen, daß Leopardis Unglück ihn bis ins Grab verfolgt hat. Hätte er nur einen Papierkorb zur Hand gehabt, so wäre ihm der zweifelhafte Ruhm erspart geblieben, mit seiner einzigen schwachen Schrift zu triumphieren.

Zu den unergründlichsten Märchen der Brüder Grimm gehört Die kluge Else. »Die hat Zwirn im Kopf«, sagt ihr Vater, und die Mutter: »Die sieht den Wind auf den Gassen laufen und hört die Fliegen husten.«

Das kommt daher, daß die Else immer darüber nachdenkt, welche Folgen ihr Tun und Lassen haben könnte, und darüber ins Grübeln kommt.

Ein Politiker, der eine solche Abschätzung seines Handelns vornähme, wäre gelähmt. Je mehr kostspielige Berater er heranzöge, desto gewichtiger wären seine Bedenken; denn jede Entscheidung könnte unendlich viele schlimme Folgen nach sich ziehen. Das trifft vor allem auf die Einführung neuer Techniken zu; denn die Erkenntnisse der Wissenschaft sind hemmungslos und ihre Konsequenzen unberechenbar. Einer macht sich mit der Spaltung des Atoms oder mit der Keimbahn des Menschen zu schaffen, und die Klagen der Spezies nehmen, wie die der klugen Else, kein Ende.

»Da erschrak sie, ward irre, ob sie auch wirklich die kluge Else wäre, und sprach ›bin ich's, oder bin ich's nicht?‹ Und stand eine Zeitlang zweifelhaft: Endlich dachte sie, ›ich will nach Haus gehen und fragen, ob ich's bin oder ob ich's nicht bin, die werden's ja wissen.« Aber die andern wußten es auch nicht.

Schade, daß ein so nützliches Wort wie der Schranz oder der Schranze nicht mehr im Schwange ist.

Hermann Paul führt den Ursprung des Wortes auf das mittelhochdeutsche schranz zurück, das soviel wie »riß« bedeutet und auf einen Menschen hinweist, der in geschlitzten Kleidern geht und deshalb ein Stutzer oder ein Geck ist.

Im Grimmschen Wörterbuch gibt es einen Eintrag, der heute so triftig ist wie vor zweihundert Jahren: »eine verächtliche bezeichnung eines höheren hofbedienten mit hervorhebung des kriechenden und schmeichelnden. das wort ist seit dem 16. jahrh. gebräuchlich […]: ›wie wir auch jtzt in herrenhöfen sehen, […] das die hofeschranzen und finanzer, wenn sie nur sehen, was den fürsten und herrn gefällt, und hoffnung da ist, etwas zu erschnappen, thun und reden sie getrost, was sie dünkt, es gefalle.‹«

So hat Martin Luther sich ausgedrückt. Heute heißen die Schranzen und die Ohrenbläser Berater, Journalisten, die Gespräche im Hintergrund führen, Spezialisten für Öffentlichkeitsarbeit, Event-Manager, Lobbyisten und überhaupt »Sprecher« für jene, die sich selber nicht äußern wollen, können oder dürfen. Scharen von hochbezahlten Schranzen, für die sich immer ein Etat findet und die sich vor den Futtertrögen versammeln, solange sie hoffen dürfen, »etwas zu erschnappen«.

Auch das Abschreiben hat mehr als eine Bedeutung. In der Schule gibt es meistens eine Freundin oder einen Freund, der einem hilft, eine Lösung im Mathematikunterricht zu finden oder bei einer Prüfung zu mogeln. In der Literatur und in vielen Wissenschaften ist das Abschreiben verpönt und gilt als Plagiat. Die Kopiermaschine und der Scanner haben sich hingegen überall durchgesetzt.

Nur bei den Kunsthistorikern herrschen andere Sitten. Dort geht es um die sogenannte Zuschreibung. Bei ihren Gutachten und Expertisen stehen nicht nur Ruhm und Reputation auf dem Spiel, sondern es geht auch um viel Geld auf dem zum Irrsinn neigenden Markt, je nachdem, ob sie ein Werk einem Künstler zu- oder abschreiben. Kein Wunder, daß dabei, wie bei dem berühmten Rembrandt-Projekt oder bei Leonardo da Vincis Salvator mundi, mit mehrstelligen Millionensummen hantiert wird und daß der Zwist der Kenner kein Ende nimmt.

»Die meisten Sätze und Fragen, welche über philosophische Dinge geschrieben worden sind, sind nicht falsch, sondern unsinnig. Wir können daher Fragen dieser Art nicht beantworten.« (Tractatus 4.003)

Es gibt kein Buch in der Geschichte, das ebenso bekannt, um nicht zu sagen so populär und berüchtigt wäre wie Wittgensteins Logisch-philosophische Abhandlung. Einige seiner Sätze sind geradezu sprichwörtlich geworden: »Die Welt ist alles, was der Fall ist« oder: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen«. Und dies, obwohl es auf der Welt keinen Leser gibt, der den Tractatus ganz verstanden hätte. Selbst Bertrand Russell, ein berühmter mathematischer Logiker und enger Freund, Kollege und Lehrer Wittgensteins, mußte zunächst das Handtuch werfen. Zuerst hielt er Wittgenstein für verrückt; 1919 war er von dem ersten Exemplar der hundertseitigen Abhandlung, die er zu sehen bekam, begeistert; er mußte aber einräumen, daß ihm viele Stellen unverständlich blieben. Wenn das schon bei einem Gelehrten wie Russell so ist, wie soll man sich dann erklären, daß die Öffentlichkeit Wittgenstein zu einem ihrer Hausheiligen erhoben hat, obwohl selbst die kühnsten Deuter gestehen, daß sie keine Ahnung haben, was die folgenden Sätze bedeuten:

»›~p‹ ist wahr, wenn ›p‹ falsch ist. Also in dem...

Erscheint lt. Verlag 11.11.2019
Illustrationen Bernd Bexte
Zusatzinfo Mit farbigen Abbildungen
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Anekdoten • Aphorismen • Autobiografie • Beobachtungen • Bildende Kunst • Dialoge • Erinnerungen • Experten • Experten-Revue • Gedichte • Geschichte • Gesellschaft • Gesellschaftskritik • Glossen • Historisches • Intellektueller • Jubiläum • Klassiker • Kultur • Kunst • Kurzessays • Lebensführung • Lebenslehre • Literatur • Literaturgeschichte • Literaturhistorie • Mathematik • Medien • Musik • Natur • Naturwissenschaft • neues Buch • Notate • Notizen • Philosophie • Philosophiegeschichte • Politik • Psychiatrie • Psychologie • Recht • Religion • Religionskritik • Schriftsteller • Sprache • Sprachkritik • ST 5190 • ST5190 • suhrkamp taschenbuch 5190 • Technik • Theologie • überlebenskünstler • Wirtschaft • Wirtschaftstheorie • Wissenschaft • Zeitgeist • Zivilisation • Zivilisationskritik
ISBN-10 3-518-75668-0 / 3518756680
ISBN-13 978-3-518-75668-3 / 9783518756683
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