Leuchtende Tage (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2019 | 2. Auflage
480 Seiten
dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
978-3-423-43547-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Leuchtende Tage -  Astrid Ruppert
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Wie wird man die Frau, die man sein will? In einer Sommernacht 1906 verlässt die eigenwillige Lisette Winter heimlich ihr Elternhaus: Ihre Liebe gehört dem Modezeichnen und dem Schneidergesellen Emile. Gemeinsam widmen sie sich im Rheingau der Reform-Mode. Doch dann bricht der Krieg aus und bringt neue Herausforderungen ... 100 Jahre später begibt sich Urenkelin Maya auf Spurensuche und entfaltet nach und nach die bewegende Geschichte der Frauen ihrer Familie.

Astrid Ruppert studierte Literaturwissenschaft und arbeitete mehrere Jahre als Fernsehredakteurin, bevor sie freie Autorin wurde. Neben ihren Romanen schreibt sie auch regelmäßig erfolgreiche Drehbücher.

Astrid Ruppert studierte Literaturwissenschaft und arbeitete mehrere Jahre als Fernsehredakteurin, bevor sie freie Autorin wurde. Neben ihren Romanen schreibt sie auch regelmäßig erfolgreiche Drehbücher.

2006


Wir waren Einzelgängerinnen. Zusammen ergaben wir kein Ganzes, was man Familie hätte nennen können. Vielleicht nannte ich uns deshalb so gerne die »Winterfrauen«. Das gab uns einen Zusammenhalt, eine Klammer, die wir sonst eigentlich nicht hatten. Andere Familien, das waren Nester, Geflechte, Gemeinschaften, das waren Mütter und Väter, Geschwister, Cousins, Onkel, Tanten und Großeltern, mit unterschiedlichsten Gemeinsamkeiten. Schmale Lippen oder spitze Nasen, ein musikalisches Talent, eine bestimmte Art zu lachen oder sich ans Ohrläppchen zu fassen. Meine Freundinnen aus großen Familien stöhnten, wenn sie ständig zu Familienfeiern eingeladen wurden und deshalb nicht zu den coolen Partys gehen konnten, weil die Tante Geburtstag hatte oder der Großcousin heiratete. Ich liebte ihre Geschichten von betrunkenen Onkeln, von Großmüttern, die zum hundertsten Mal die gleichen Anekdoten aus ihrer Jugend erzählten, und von Kindern, die unter den Tischen heimlich die Schnapsgläser leerten, wenn die Erwachsenen es schon nicht mehr mitbekamen. Ich beneidete sie um ihre Familien und wäre immer so viel lieber dorthin gegangen als zu den coolen Partys, bei denen ich mich meistens uncool fühlte.

Wir drei Winterfrauen, das waren ich, meine Mutter Paula, die immer unterwegs war oder davon träumte, unterwegs zu sein, und meine Großmutter Charlotte, die so gut wie nie unterwegs war. Sie wohnte auf dem Land, wo sie nach dem Krieg auf den Hof meines Opas eingeheiratet hatte. Meine Großmutter besuchte ich am liebsten alleine, weil meine Mutter und sie sich entweder stritten oder anschwiegen. Ich wusste dann nie, auf wessen Seite ich gehörte, und fühlte mich unwohl.

Meinen Großvater kannte ich genauso wenig wie meinen Vater, und die Männer, die sich bei meiner Mutter darum beworben hatten, zeitweise die Vaterrolle für mich zu übernehmen, interessierten mich nicht. Sie waren sowieso nie lange geblieben. Männer waren kein Thema bei uns. Von Yannick erzählte ich nur am Rande. Paula fand meine Freunde immer langweilig.

Meine Mutter nannte ich Paula. Sie wollte das so, weil sie nicht auf ihre Mutterrolle reduziert werden wollte. Vielleicht hatte ich deshalb nur bei meiner Oma dieses innige, besondere Gefühl. Weil es auf der ganzen Welt nur einen Menschen gab, der sie Oma nennen durfte, und das war ich. Paula erzählte ich selten etwas von Oma, und wenn ich es tat, dann hörte ich immer dieses »Tsssss«. Ein kräftiger, kurzer Luftstoß, zwischen Zunge und Gaumen hinausgezischt, manchmal herablassend, manchmal aufgebracht. Genauso schwierig war es, Oma etwas von Paula zu erzählen. Oma seufzte erst, dann schwieg sie. Ich hing irgendwo zwischen dem Tsssss und dem Schweigen und gewöhnte mir an, so gut wie gar nichts mehr zu erzählen.

Wir drei waren wie einzelne Glasperlen, die in einer kleinen Schachtel umeinanderkullerten, als ob sie zu ganz unterschiedlichen Ketten gehört hätten. Es schien, als wären wir nur zufällig zusammen in dieser Schachtel gelandet. Als wären wir nur zufällig miteinander verwandt.

Auch die Legende von meiner Urgroßmutter Lisette verband uns nicht. Es gab eine Fotografie von ihr, die meine Mutter irgendwann an ihre Pinnwand gehängt hatte. Auf dem Bild kniete meine Urgroßmutter in einem Beet zwischen Blumen und Gemüse, einige widerspenstige Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Knoten gelöst, und sie versuchte sie lachend, mit erdigen Händen, aus ihrem Gesicht zu streichen. Ihr Lachen strahlte mir so unbeschwert entgegen. »1913« stand auf der Rückseite des Bildes. Als ich Oma fragte, wer es aufgenommen haben könnte, zuckte sie die Achseln. Da war sie ja noch nicht auf der Welt gewesen. Das konnte sie nicht wissen. Paula sagte, Lisette sei mutig gewesen: »Sie ist weggelaufen von zuhause. In dieser Zeit, das muss man sich mal vorstellen! So eine tolle Frau, und diese große Liebe, ach, diese ganz große Liebe!« Das ließ Paula und mich immer sehnsüchtig seufzen, und irgendwie schwärmte auch ich für Lisette, ohne sie gekannt zu haben. Als Baby hatte ich noch in ihrem Arm gelegen, und ich stellte mir manchmal vor, dass durch diese Berührung etwas von meiner Urgroßmutter an mich weitergegeben worden wäre. Etwas von diesem Leuchten, das in Paulas Erzählungen immer mit dem Namen Lisette verbunden war. Drei unterschiedliche Glasperlen in einer Schachtel. Konnte man zu dritt überhaupt eine richtige Familie sein?

Ich hatte immer das Gefühl, dass uns etwas fehlte. Dass es so wenige Geschichten gab und so viel Schweigen zwischen dem Zischen und Seufzen.

Durch Yannick und seine Freunde hatte ich eine Fotografenszene kennengelernt, von der ich vorher noch nie gehört hatte. Sie nannten sich Urban Explorer und suchten alte, verlassene Häuser, um den Verfall zu fotografieren. Lost Places waren ihr Ziel, Häuser, die aufgegeben worden waren, warum auch immer. Die Urban Explorer hielten sich stillschweigend an einen strengen Verhaltenscodex, kletterten nur in Häuser, die ihnen Zutritt gewährten, und veränderten nichts an dem, was sie vorfanden. Niemals würden sie ein Schloss oder ein Fenster gewaltsam aufbrechen. Sie waren auf der Suche nach Bildern, die zeigten, wie die Natur allmählich wieder das Kommando übernahm. Es war wirklich faszinierend, auf wie viele Arten Holz zerfallen konnte. Yannick, der montags bis freitags für hochwertige Designkataloge makellose Oberflächen fotografierte, sehnte sich geradezu nach Bildern von Pilzen, die aus abgeblätterten Tapeten wucherten, und nach den leuchtenden Farben unbekannter Schimmelkolonien. Vielleicht hatte ich mich genau deshalb in ihn verliebt. Auch wenn mich an den Häusern etwas anderes interessierte. Lost Places, verloren, vergessen und unbewohnt. Aber eine Seele hatten die Häuser trotzdem noch, auch wenn die Zeit und die Natur unerbittlich an ihnen nagten. Und diese Seele war es, die mich faszinierte.

Ich stahl mich mit den Fotografen in die Häuser hinein, um mir in den leeren Räumen Geschichten auszudenken von Familien, die hier gelebt haben könnten. Wer war über diese Treppe nach oben gerannt, bevor sie einbrach? Wer hatte an diesem Spülstein erst mit dem schmutzigen Geschirr und dann vielleicht mit dem ganzen Leben gehadert? Wer hatte aus diesem Fenster gesehen? An Fenster, hatte ich gelernt, sollte man in verlassenen Häusern nie zu nah herantreten. Dort fanden sich die meisten morschen Balken, die porösesten Wände, hier löste die Zeit alles auf, was einmal fest und solide gewesen war. Genau hier traf die Außenwelt auf die Innenwelt. Das waren die brüchigen Stellen, bei Häusern und bei Menschen.

Ich begleitete Yannick immer, wenn er loszog, um ein Haus zu erkunden, auch wenn ich ihm mit meiner Angst auf die Nerven ging. Ich war einfach keine Abenteurerin. Spannung und Nervenkitzel stressten mich ungemein. Sobald es im Fernsehen nur ein wenig spannend wurde, sobald jemand alleine durch leere Häuser ging, in denen Türen einen Spalt breit offen standen, musste ich aufstehen, um mir etwas zu trinken zu holen. All meine Albträume fanden in leeren Häusern statt, in denen nichts geschah, überhaupt nichts, trotzdem hatte ich große Angst, und wenn ich aus einem Albtraum erwachte, schlug mein Herz laut und schnell. Ich war also denkbar ungeeignet für diese Ausflüge in alte, leere Häuser, in denen viele Türen spaltbreit aufstanden. Aber ich wollte immer mit und dachte mir Geschichten aus, die ich in Stichworten notierte. Ich hatte zu jedem Haus eine Datei mit Notizen auf meinem Laptop. Immer hoffte ich, dass ich etwas finden könnte, eine Botschaft, die das Haus mir erzählen würde. Eine Geschichte, die dort auf mich wartete. Nur für mich. Eine Geschichte, die ich erzählen musste.

Sie ist weggelaufen von zuhause. In dieser Zeit, das muss man sich mal vorstellen!

»Wo steht eigentlich das Haus, in dem deine Mutter gelebt hat?«, fragte ich meine Großmutter irgendwann. »Von wo ist Lisette denn weggelaufen?«

»Das war irgendwo im Taunus.«

»Ich dachte, sie hätte in Wiesbaden gelebt?«

»So genau weiß ich das nicht mehr«, antwortete Oma und schwieg auf diese Art, die ich gut kannte. Ich hatte keine Ahnung, ob sie sich tatsächlich nicht erinnerte oder ob sie sich nicht erinnern wollte. Als ich sie das nächste Mal besuchte, versuchte ich es wieder und dann wieder, ohne eine Antwort zu bekommen.

Irgendwann hatte ich Glück. Ich war zu ihr gefahren, um ihr zu helfen, ihre Blumenkästen zu bepflanzen. Eigentlich war ihr das alles schon viel zu anstrengend geworden, aber es gehörte für sie einfach dazu. Ich hatte zwei Steigen mit bunten Sommerblumen gekauft, weil ich mich in der Gärtnerei nicht entscheiden konnte. Erst war sie enttäuscht, dass ich keine Geranien gebracht hatte, wie immer. Aber während wir die Kästen bepflanzten, gefielen ihr die bunten Blumen doch.

»Das hätte meiner Mutter gefallen«, sagte sie, »kunterbunte Blumen, davon konnte sie nie genug haben.«

Vielleicht lag es an den bunten Blumen, denn später erzählte mir Oma tatsächlich von dem Haus im Taunus, in dem Lisette die Sommer ihrer Kindheit verbracht hatte. Aber sie hatte keine Ahnung, ob es überhaupt noch existierte. Ich war hartnäckig, und bekam heraus, dass Lisette sie einmal dorthin mitgenommen hatte, um es ihr zu zeigen.

»Und wo im Taunus war das?«

Erst behauptete sie, sie wisse das nicht mehr, nach so vielen Jahren. Aber ich ließ nicht locker, und irgendwann beschrieb sie den Weg sogar erstaunlich gut, obwohl es so lange her war und sie nur ein einziges Mal dort gewesen war. Danach glaubte ich, genügend Anhaltspunkte zu haben, und begab mich auf die Suche nach dem alten Sommerhaus. Ich irrte bestimmt einen halben Tag umher in der Gegend, die meine Großmutter mir beschrieben...

Erscheint lt. Verlag 25.10.2019
Reihe/Serie Die Winter-Frauen-Trilogie
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Band 1 • Emanzipation • Erster Weltkrieg • Familiengeschichte • Frauenleben • Frauenroman • Frauenschicksal • Frauenunterhaltung • Generationenroman • historischer Frauenroman • Historischer Roman • Jahrhundertwende • Künstlerkolonie • Lisette Winter • Modezeichnerin • Mütter • Mutter-Tochter-Verhältnis • Rebellion gegen Elternhaus • Reformkleider • Roman Neuerscheinung • Schmöker • Schneiderhandwerk • Selbstbestimmtes Leben • Taunus • Töchter • Trilogie • unkonventionelle Frauen • Wiesbaden
ISBN-10 3-423-43547-X / 342343547X
ISBN-13 978-3-423-43547-5 / 9783423435475
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,2 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99