Wirbellos (eBook)

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2019 | 1. Auflage
464 Seiten
Luftschacht Verlag
978-3-903081-73-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wirbellos -  Giuliano Musio
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Der zweiundzwanzigjährige Martin Schwammer lebt seit Kurzem in Bern, wo er eine Stelle in der Sterilgutversorgung des Krankenhauses angenommen hat. In diesem Bern fließt die Aare von Norden nach Süden und mündet im Mattequartier direkt ins Mittelmeer. Ein Inselchen, das Kirchenfeld, ist der Küste vorgelagert. Städte wie Genua oder Marseille gibt es nicht, die Alpen sind ein Mythos. Während Martin als Kind wegen seiner Ehrlichkeit immer wieder in Schwierigkeiten geraten ist, hat er inzwischen gelernt zu lügen. Eines Tages inszeniert er am Strand eine Begegnung mit der neunzehn Jahre älteren Valerie und spielt ihr ein romantisches Interesse vor. Sein eigentliches Augenmerk gilt aber ihrer Familie und deren Vergangenheit. Ihn plagen Schuldgefühle und Träume von eingesperrten Insekten und Spinnen, Krebsen, Schnecken und Würmern - von wirbellosen Tieren. Und als rückgratlos sieht er sich auch selbst ... Nach seinem erfolgreichen Debütroman 'Scheinwerfen', in dem er der Macht der Erinnerung nachspürt, erzählt Giuliano Musio in 'Wirbellos' von Feigheit und der Kunst der Lüge. Mit großer Lust lässt er seinen Protagonisten ein Lügengebilde aufbauen, bis dieser selbst den Überblick verliert. Und spätestens als die gekenterte 'Costa Concordia' vor der Berner Küste liegt, droht alles einzustürzen.

GIULIANO MUSIO, * 1977 in der Nähe von Bern, hat Germanistik und Anglistik studiert. Neben dem Schreiben ist er als Korrektor bei der NZZ tätig. 2015 erschien sein Debütroman Scheinwerfen bei Luftschacht. giulianomusio.com Titel bei Luftschacht: Wirbellos (Roman, 2019) Scheinwerfen (Roman, 2015)

GIULIANO MUSIO, * 1977 in der Nähe von Bern, hat Germanistik und Anglistik studiert. Neben dem Schreiben ist er als Korrektor bei der NZZ tätig. 2015 erschien sein Debütroman Scheinwerfen bei Luftschacht. giulianomusio.com Titel bei Luftschacht: Wirbellos (Roman, 2019) Scheinwerfen (Roman, 2015)

Kapitel 1


Worin man bis zum Horizont sieht


Einen Tag nach seinem Selbstmordversuch hatte Martin ein Vorstellungsgespräch. Auf der zentralen Sterilgutversorgungsabteilung des Inselspitals fragte man ihn, ob ihm ein Arbeitsraum ohne Tageslicht, ein multikulturelles Team oder Spätschichten Schwierigkeiten bereiteten, ob er Rücken- oder Knieprobleme habe. Danach führte man ihn durch die Anlage. Sie war in drei Bereiche aufgeteilt. Im unreinen Bereich wurden die Instrumente aus den Operationssälen entgegengenommen und gesäubert. Im reinen Bereich wurden sie sortiert, mit einem Strichcode beklebt und in einen Sterilisator eingeräumt. Im sterilen Bereich schließlich ließ man sie abkühlen und lagerte sie nach ihren Bestimmungsorten. Es waren exakt dieselben Handgriffe wie bei Martins letzter Stelle. Dasselbe Scheppern, Piepsen und Klirren. Dieselben Grundsätze, die der Abteilungsleiter nachdrücklich aufzählte: Vermeiden von Keimverschleppung, Patientensicherheit, gesetzliche Vorgaben gemäß Medizinprodukteverordnung des Bundesamts für Gesundheit, Artikel neunzehn und zwanzig.

Drei Wochen später lud man Martin zu einem Probetag ein. Man teilte ihn einer Gruppe von Männern mit Schutzbrillen, Handschuhen und hellblauen Schürzen zu. Sie redeten und lachten miteinander, während sie zum Gedudel aus dem Radio über den Waschbecken das Blut von den Geräten schrubbten. Um halb vier konnte er gehen. Er beeilte sich so, dass sein T-Shirt nass war, als er zu den Schließfächern beim Bahnhof kam. Er nahm die Papiertüte mit den leeren Dosen und Flaschen raus, die er am Morgen hier deponiert hatte, klemmte sie auf sein Fahrrad, raste über den Bubenbergplatz und bog in die Monbijoustraße ein. Er fuhr neben den Tramschienen her. Sie führten schnurgerade bergab. Kastanienbäume säumten die Straße, eine Möwe schrie. Martin schaute hoch. Ein ganzer Schwarm flog über ihn, segelte bis zu den hintersten Baumkronen, deren Zwischenraum einen schmalen, dunkelblauen Streifen unter dem Himmel preisgab. Martin fixierte dieses Blau, bis er wieder abbog.

Bei der Müllsammelstelle stieg er vom Rad. Mit der Tüte in der Hand ging er zwischen den Behältern hin und her, las die Aufschriften durch, obwohl sie ihn nicht interessierten: Alu, Papier, braunes, grünes, weißes Glas. Und behielt doch die ganze Zeit die Straßenecke mit den Garagen im Auge, um die Valerie jeweils bog. Dienstags und mittwochs zwischen elf und neun Minuten vor fünf, donnerstags zwischen zwanzig und zweiundzwanzig Minuten nach sieben. Martin warf nur dann etwas in einen Behälter, wenn er sich beobachtet fühlte. So oft wie er hierherkam, musste er sparsam mit seinem Müll umgehen.

Als er sie kommen sah, trat er einen Schritt zurück. Mit einer Tasche über der Schulter, an deren Griff sie sich mit einer Hand festhielt, ging Valerie neben den Garagen vorbei. Sie trug große, runde Ohrringe, ein gestreiftes Oberteil, das eine Schulter freigab, und eine weiße Jeans. Ihr Haar war halblang, leicht gewellt, mit hellen Strähnen, von denen Martin nicht sagen konnte, ob sie gefärbt oder sonnengebleicht waren. Obwohl sie schlank war, hatte sie nicht das, was Martin sich unter einer guten Figur vorstellte. Vielleicht hatte dieser Eindruck auch nur damit zu tun, wie sie sich bewegte. Sie ging in kleinen Schritten, wie jemand, der fürchtet, etwas falsch zu machen. Außerdem spielte sie im Gehen nervös mit ihren Fingern, streckte manchmal ihren Arm durch, um ihn gleich wieder zu beugen. Bildete er sich nur ein, dass er selbst auf diese Distanz die Krähenfüße um ihre Augen sah? Die Fältchen um ihren Mund und an ihrem Hals? Sie war viel zu alt für ihn. Und leider nicht einmal hübsch.

Sie ging auf den sandfarbenen Wohnblock zu, in dessen Hochparterre sie wohnte. Er hatte sie schon auf dem untersten Balkon rauchen gesehen, der nur so weit über den Erdboden reichte, dass ihr Fahrrad gerade darunter Platz hatte, wenn man es etwas schräg stellte. Sie klaubte in ihrer Tasche nach dem Schlüssel, wobei kurz die Tätowierung an der Innenseite ihres Oberarms zu sehen war. Auch diesmal konnte Martin das Motiv nicht erkennen. Dann nahm sie die Post aus dem Briefkasten und trat ein. Er schaute zu, wie sich die Tür langsam schloss. Immer nach ihrem Verschwinden fühlte es sich ähnlich an, wie wenn man einem Satz nachlauscht, den jemand in eine lange Stille hineingesagt hat.

Er lebte erst seit wenigen Monaten in Bern. Im Mattenhofquartier hatte er ein Zimmer für nur dreihundertzwanzig Franken gefunden. Ein Raum im Untergeschoss eines Wohnhauses, zwei auf drei Meter; mehr als ein Bett und eine Kommode passte nicht rein. An der Wand war ein Radiator befestigt, in einer Einbuchtung befanden sich die Toilette und ein Waschbecken, abgetrennt durch einen muffigen Vorhang. Tageslicht kam nur durch ein schmales Klappfenster mit einem Fliegengitter. Manchmal wenn er in den ersten Nächten aufgewacht war, hatte er kurz geglaubt, nun tatsächlich in einer Gefängniszelle zu sein. Inzwischen aber gefiel ihm sein kleines, verstecktes Zimmer. Wenn es draußen heiß war, blieb es hier unten angenehm kühl. Die Geräusche der Waschmaschine im Raum nebenan beruhigten ihn, sogar der Schleudergang, der die Wände und sein Bett erzittern ließ.

In der Waschküche befand sich auch seine Dusche. Das Duschen ging normalerweise problemlos an der Waschküchenbenutzung der Hausbewohner vorbei. Nur wenn die fast erblindete Frau Wüthrich aus dem Erdgeschoss ihre Wäsche machte, war der Raum über Stunden blockiert, da sie während des gesamten Waschgangs auf einem Schemel neben der Maschine saß und wartete. Sie trug eine sprechende Uhr um den Hals, die sie reflexartig drückte, wenn jemand sie erschreckte. Martin brauchte nur »Guten Tag, Frau Wüthrich« zu sagen, dann drückte sie sofort den Knopf, und eine computerisierte Frauenstimme erwiderte etwa: »Es ist siebzehn Uhr fünfunddreißig.«

Martin spürte ein Kratzen im Hals. Er hatte lange nicht mehr so viel geredet wie heute am Probetag. Als er hierhergezogen war, hatte er begonnen, seine Stimme leicht zu verstellen. Er gab einfach etwas mehr Druck darauf, so ähnlich, als wollte er kurz die Luft anhalten, und dann setzte er etwas tiefer an, um die Stimme besser kontrollieren zu können. Martin hatte sich die ganze Jugend hindurch für seine Stimme geschämt, auch wenn ihm immer wieder gesagt worden war, dass man nichts Ungewöhnliches bemerke. Aber er war ja nicht blöd. Er hatte sich selbst auf Aufnahmen reden gehört. Er klang wie Willi von »Biene Maja«.

Hier, wo ihn keiner kannte, konnte er endlich etwas ändern. Die letzten Wochen hatte er in seinem Zimmer geübt, indem er laut Texte aus Zeitungen oder Werbeprospekten gelesen hatte. Er stellte dabei sogar einen angenehmen Nebeneffekt fest: Die tiefere Stimme erzeugte ein sachtes Brummen in seinem Bauch, das ihn entspannte.

Er wusch sich das Gesicht über dem Waschbecken. Wegen des kalten Wassers war der Hahn beschlagen. Martin fuhr mit dem Daumen darüber. Für eine Sekunde spiegelte er sich im Metall, bevor die Oberfläche erneut anlief. In den letzten Monaten war er sichtlich gealtert. Es sollte kein Problem sein, als Fünfundzwanzigjähriger durchzugehen. Am liebsten hätte er sich neben neuer E-Mail-Adresse und Handynummer auch gleich einen neuen Namen gegeben, aber das traute er sich nicht.

Er griff nach der Plastikmappe auf der Kommode, in der er den Zeitschriftenartikel aufbewahrte, gemeinsam mit dem kleinen, blau-roten Speicherchip. Den Artikel nahm er heraus. Dreimal war Valerie abgebildet: verbittert, abgekämpft oder wütend. Das war zwei Jahre her. Er musste sie endlich ansprechen. Doch wie? Er könnte sie nach Feuer fragen. Nach dem Weg. Nach der Uhrzeit. Oder sie bitten, Kleingeld für ihn zu wechseln. In den Filmen und Büchern ist das ja immer so einfach: Da spaziert man mit einem Glas Wein um jemanden herum, bis die Person sich abrupt umdreht und man das Glas über sie ausleert. Und drei Sätze später hat man schon ihre Nummer.

Er legte sich hin. Von draußen fiel das Licht der Straßenlampen herein. Der schmale Schatten des Fliegengitters an der Wand sah aus wie ein schiefes Bild.

Martin dachte an seinen Selbstmordversuch zurück. Das fühlte sich gut an. Hatte er damit nicht bewiesen, dass er ein gewissenhafter Mensch war? Jemand, der Schuld und Reue spürte? Ein Egoist hätte einen Suizid gar nicht erst in Betracht gezogen.

Das war doch kein Selbstmordversuch, sagte eine kritische Stimme in ihm. Du weißt es ja genau. Das war ein Witz, nicht mehr.

Aber Martin erinnerte sich doch daran. Er erinnerte sich an den Schwindel, die Atemlosigkeit, an das Wasser, das in seine Lungen drang. Er drehte sich auf den Bauch und hörte den Verkehrsgeräuschen zu, bis er einschlief.

In einer Fabrik wurden Grillen in durchsichtige Audiokassetten gepresst. Sie wanden sich im engen Raum zwischen den aufgewickelten Magnetbändern, die Hinterbeine an den Körper gedrückt, die Fühler zusammengestaucht. Ein dumpfes Zirpen drang nach außen.

Er schreckte aus dem Schlaf hoch und schaute auf sein Handy. Es war halb vier. Seine Nase juckte. Ob es stimmt, dass man vom Niesen sterben kann? Er setzte sich aufrecht hin, sodass er gegen die kühle Wand lehnte, griff nach seinem Laptop und gab die Frage auf Google ein.

Beim Niesen kann man sich eine Rippe brechen. Die Rippe sticht dann in die Lunge, und man erstickt. Wenn man das Niesen unterdrückt, kann ein Gefäß im Hals reißen, und man verblutet innerlich.

Er erhielt eine Zusage von der Zentralsterilisation. Er habe einen zuverlässigen und ausgeglichenen Eindruck hinterlassen, sagte man ihm am Telefon. Sein Erspartes hätte nicht mehr lange gereicht.

Nach seinem ersten Arbeitstag irrte er...

Erscheint lt. Verlag 5.10.2019
Verlagsort Wien
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bern • Helvetisches Meer • Insekten • Lüge • Lügen • Wirbellos
ISBN-10 3-903081-73-6 / 3903081736
ISBN-13 978-3-903081-73-4 / 9783903081734
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