Rate, wer zum Essen bleibt (eBook)

eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
208 Seiten
Kein & Aber (Verlag)
978-3-0369-9429-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Rate, wer zum Essen bleibt -  Philipp Tingler
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Für Franziska ist es das wichtigste Abendessen ihres Lebens. Oder wenigstens in diesem Jahr. Ihre Karriere hängt davon ab - und die läuft nicht so ganz nach Plan in letzter Zeit. Das stresst Franziska ebenso wie der bevorstehende Besuch ihres Bruders. Wenigstens ist in ihrer Ehe alles in Butter. Oder nicht? Jedenfalls steht ein wichtiges Abendessen an, doch dann platzt Conni Gold ins Haus. Die Freundin von Felix, die niemals ein Blatt vor den Mund nimmt - und gar nichts mehr läuft nach Plan.

Philipp Tingler studierte Wirtschaftswissenschaften und Philosophie an der Hochschule St. Gallen, der London School of Economics sowie der Universität Zürich und ist mehrfach ausgezeichneter Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm bei Kein & Aber der Roman »Rate, wer zum Essen bleibt« (2019). Er ist Kritiker im SRF-Literaturclub und im Literarischen Quartett des ZDF sowie Juror beim ORF-Bachmannpreis und der SRF-Bestenliste. Neben Belletristik und Sachbüchern ist er außerdem bekannt durch das SRF-Format Steiner&Tingler und seine Essays u.a. in der Neuen Zürcher Zeitung und im Autokulturmagazin ramp.

DER MORALISCHE KOMPASS

Felix rief Doktor Valentin an, seinen Hausarzt seit Jahren, Mediziner alter Schule, bodenständig und nicht aus der Ruhe zu bringen, immer in der Lage zu einem notfallmäßigen Hausbesuch nach Mitternacht.

»Soso«, sagte Doktor Valentin, die Patientin begutachtend, die man auf ein Sofa gebettet und mit einer kalten Kompresse ausgestattet hatte, »wir müssen einen Bluttest machen, ich werde Sie kurz in die Klinik bringen für eine Anamnese. Es kann Verschiedenes sein, möglicherweise Q-Fieber oder Salmonellen, ich aber tippe auf: die Erbsenpflückerkrankheit.«

»Wie bitte?«, keuchte Conni unter der Kompresse. Sie war wieder völlig bei Bewusstsein, wenn auch deutlich leiser als zuvor. Und nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass sich der Dekan und seine Gattin natürlich noch vor Eintreffen des Arztes recht eilig verabschiedet hatten. An diesem Abschied war irgendetwas Endgültiges gewesen, als würde man sich auf diese Weise nicht mehr wiedersehen, obschon man sich selbstverständlich das Gegenteil versichert hatte. Franziska wurde das Gefühl nicht los, dass sie bei einer Prüfung durchgefallen war, in ihren und in aller Augen.

»Feldfieber«, sagte Doktor Valentin, »man nennt es auch Feldfieber.«

»Ich darf Ihnen guten Gewissens versichern«, erklärte Conni unter der Kompresse, »dass ich in meinem gesamten bisherigen Leben nicht einen Moment auf irgendeinem Feld verbracht habe.«

»Das Feldfieber ist unter verschiedenen Namen bekannt«, referierte Valentin, »wie Schlammfieber, Wasserfieber, Erntefieber oder eben Erbsenpflückerkrankheit. Das ist mein Lieblingstitel für dieses Leiden.«

»Schlammfieber?«, grunzte Conni. »Das klingt nach einem Gebrechen aus dem 19. Jahrhundert, so wie Bauchwassersucht oder Englischer Schweiß.«

»Das Feldfieber ist eine Leptospiren-Infektion und daher eine Form der Leptospirosen.«

»Heißt das, ich muss sterben?«

»Irgendwann schon«, erwiderte Valentin und lachte wie eine Hyäne, »– verzeihen Sie bitte, alter Medizinerwitz.«

»Der älteste.«

»Es handelt sich um eine bakterielle Infektion. Die Bakterien werden durch Tiere übertragen. Beim Feldfieber sind die Überträger vor allem Nagetiere. Hatten Sie Kontakt mit Mäusen oder Ratten?«

»Sie meinen: nicht-metaphorisch?«

»Ich meine: in freier Wildbahn. Der Erreger wird entweder durch direkten Kontakt oder durch Kontakt mit den Ausscheidungen eines infizierten Tieres übertragen.«

»Igitt.«

»Feldarbeit scheidet in Ihrem Falle wohl aus. Aber der Kontakt kann ebenfalls über verunreinigtes Wasser erfolgen. Vor allem, wenn es häufiger regnet, wie in letzter Zeit. Besonders gefährdet sind neben Landwirten und Feldarbeitern auch Leute, die beruflich viel mit Wasser zu tun haben … wie Kanalarbeiter …«

»Soll das schon wieder ein Witz sein?«

»... oder Wassersportler …«

»Halt. Warten Sie. Wir waren auf dem See, auf dem Boot meines Vaters. Und ich war rudern.«

»Wie lange ist das her?«

Conni begann, an ihren Fingern zu zählen.

Kein Wunder, dass Lehman den Bach runter ist, dachte Felix, der danebenstand.

»Sechs Tage«, sagte Conni. »Nein. Halt. Fünf.«

»Das könnte passen«, sagte Valentin mit der Zufriedenheit des Arztes nach der Diagnose, »das wäre die minimale Inkubationszeit. Die Symptome passen ebenfalls: plötzliches, hohes Fieber, starke Kopf- und Gliederschmerzen, Schüttelfrost sowie Erbrechen und Durchfall, Husten.«

Conni hustete wie zum Beweis.

»Es können auch noch eine Bindehautentzündung und ein scharlachartiges Exanthem dazukommen. Also ein Ausschlag.«

»Das wäre das Schlimmste«, sagte Conni.

»Den definitiven Nachweis wird eine Blutprobe liefern. Die Behandlung erfolgt durch Antibiotika. Sie kriegen Penizillin.«

»Schon wieder?«

»Die ganze Sache ist unangenehm, aber grundsätzlich harmlos«, beschloss Doktor Valentin, »in rund einer Woche haben Sie das ausgestanden. Schwerwiegende Folgen sind nicht zu erwarten.«

Stanislaw Valentin war einer jener Ärzte, die den schlimmsten Fall stets für unwahrscheinlich hielten. Es sei denn, er trat ein. Doch selbst in diesem Falle blieb er immer voll Verständnis für die menschliche Abirrung, in ihm schwang trotz seiner vorwiegend naturwissenschaftlichen Anschauung der Medizin ein leiser Rest von Bohème, was die ungewöhnliche Liebenswürdigkeit, die von dem Manne ausging, wirkungsvoll steigerte.

»In manchen Fällen kann es allerdings zu einer vorübergehenden Einschränkung der Nierenfunktion oder zu einer Leberentzündung kommen. Auch eine Hirnhautentzündung ist möglich. Anzeichen dafür wären eine veränderte Bewusstseinslage, Krämpfe, Verwirrtheit, Delirium. Fühlen Sie sich augenblicklich bei klarem Verstand?«

»Geht so.«

»Das Wichtigste sind Ruhe und Betreuung. Ich muss Ihnen nicht sagen, dass Sie natürlich auf keinen Fall morgen nach New York zurückfliegen können. Sie sollten sich am besten überhaupt nicht bewegen und müssen beobachtet werden. Wo können Sie hin, wer kann Sie pflegen?«

»Kannst du bei deinem Vater bleiben?«, erkundigte sich Franziska, vielleicht ein wenig zu schnell.

»Mein Vater ist zu alt und wird selbst gepflegt, und zwar von einem ungarischen Drachen, dem ich mich keinesfalls auszuliefern wünsche.«

»Und Ihre Mutter? Oder sonstige Familie?«

Conni seufzte.

»Meine Mutter hat sich der Niedergeschlagenheit ergeben.«

»Was heißt das?«

»Das heißt: Statt ein Verhältnis zur Welt zu finden, schaute sie zu, wie ihre Verbindungen abrissen und schließlich ganz verloren gingen.«

»Wunderbar. Also kann sie dich pflegen?«

»Sie lebt momentan in Portofino. Zum Glück. Allerdings taucht sie mit der ermüdenden Regelmäßigkeit einer ungeliebten Jahreszeit in meinem Leben auf. Und auch ungefähr genauso häufig. Dies gilt ebenfalls für meine sonstige Familie.«

»Dann bleiben Sie hier«, schlussfolgerte Valentin mit der ihm eigenen Jovialität. Und auf diese Art fügte er hinzu: »Sie sind hier in guten Händen. Ich kenne die Leute.«

»Aber … aber wir haben uns noch nie um jemanden gekümmert«, sagte Franziska.

»Außer um uns selbst«, ergänzte Felix.

»Na schön«, beschloss Conni, »also bleibe ich eben hier, bei euch.«

Und so unglücklich schien sie damit gar nicht zu sein.

Feldfieber.

Das war das erste Wort, was Felix am nächsten Morgen einfiel.

Er erwachte viel früher als gewohnt, denn er war durch Connis Schnarchen auf dem Sofa im Nebenzimmer geweckt worden. Sie rasselte und grunzte wie ein bewusstloser Matrose nach einer Nacht voll zügelloser Leidenschaft in einem billigen Stundenhotel.

Felix richtete sich ein wenig auf in seinem Bett mit dem hohen blau-weiß karierten Kopfteil, inmitten seiner üppigen, schwere Falten werfenden Bettwäsche, und betrachtete unerfrischt und voller Skepsis sein Schlafzimmer. Die Wände waren in einem Farbton namens Stony Ground gestrichen.

»Feldfieber«, flüsterte Felix langsam vor sich hin.

In der Küche traf er Franziska, die dort ein doppeltes Alka-Seltzer auf Eis konsumierte.

»Hast du auch so schlecht geschlafen?«, fragte sie.

»Ja. Du auch?«

»Sie kann unmöglich hierbleiben, Felix.«

»Was? Wieso?«

»Erstens hat sie den Charme und das Einfühlungsvermögen eines russischen Gymnastiktrainers.«

»Wird das eine Aufzählung?«

»Sie hat das Essen ruiniert.«

»Ist das jetzt schon der zweite Punkt?«

»Nein. Das ist nur ein Einwurf. Zum nahen Ende meiner Zukunft. Ich fahre nun fort mit der Aufzählung: Zweitens kommt in drei Tagen mein Bruder zu Besuch, mein Bruder Julius, mit dem ich bekanntlich nie viel gemeinsam hatte –«

»Ich weiß. Er kann sich um Conni kümmern.«

»Das fehlte noch. Drittens darf ich dich daran erinnern, dass wir übermorgen das Fernsehen hier bei uns haben, weil du aus irgendwelchen Gründen eingewilligt hast in ein Interview mit diesem Klatschmagazin Donner und Doria – «

»Glanz und Glitter«, verbesserte Felix, »die Sendung heißt Glanz und Glitter

»Die können sie in Furcht und Elend umbenennen, solange wir die Schlammkrankheit im Hause haben.«

»Du wirkst ein wenig gereizt.«

»Du bist einfach zu entgegenkommend.«

»Das ist ein Vorwurf, den ich selten höre.«

Franziska seufzte. Sie stellte das Glas ab und setzte sich.

»Dieses Essen gestern war sehr wichtig für mich«, sagte sie, »und es ist völlig entgleist. Dafür habe ich nun ein Dutzend Amarena-Kirschen auf verschiedenen Ebenen arrangiert. Da hätte ich ja auch einen Napf rausstellen können! Ich sage nicht, dass es nicht auch mein Versagen war. Ich war nicht sehr gut in der Konversation, das gebe ich zu. Nicht mein feinster Moment. Totale Nervenpleite. Aber sie. Sie. Sie hat alles noch viel schlimmer gemacht. Sie hat … sie hat eine Atmosphäre kreiert, wenn du verstehst, was ich meine. Sie war … unmöglich. Ich bin sicher, sie hat es nicht böse gemeint. Ich bin sicher, sie ist keine schlechte Person. Ich wünschte nur, wir könnten sie loswerden.«

Felix setzte sich.

»Mach dir keine Sorgen, Zissel«, sagte er, »wir werden alles hinbiegen. Ja, der Abend gestern verlief etwas anders als geplant,...

Erscheint lt. Verlag 8.10.2019
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abendessen • Ehepaar • Elite • Geheimnisse • Gesellschaft • Gesellschaftskomödie • Ironie • Karriere • Literatur • Satire • Universität
ISBN-10 3-0369-9429-7 / 3036994297
ISBN-13 978-3-0369-9429-1 / 9783036994291
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