Solenoid (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2019
912 Seiten
Paul Zsolnay Verlag
978-3-552-05963-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Solenoid - Mircea Cartarescu
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Genial, verrückt, groß: Mit seinem monumentalen Roman um die Phatasiemaschine Solenoid schreibt sich Mircea Cartarescu endgültig in die Reihe der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart ein.
Hohn und Spott erntet ein junger Mann in seinem Literaturkreis, als er dort seinen Text 'Der Niedergang' zum Besten gibt. Aus ihm wird nicht wie erhofft ein gefeierter Schriftsteller, sondern ein Lehrer in der Vorstadt von Bukarest. Als dieser namenlose Erzähler jedoch ein Haus in Form eines Schiffes kauft, gerät er in den Bannkreis des Solenoids, einer Art riesiger Magnetspule, die sich unterhalb des Kellers befindet. Deren Gravitationskraft zieht aber nicht nach unten, sondern hebt konsequent alles in die Höhe, was in ihr Umfeld gerät - Menschen, Dinge, ja die Wirklichkeit selbst. Genial, verrückt, groß: Mit seinem monumentalen Roman hat Mircea Cartarescu erneut Weltliteratur geschaffen.

Mircea Cartarescu wurde 1956 in Bukarest geboren und lebt in seiner Heimatstadt. Zahlreiche Auslandsaufenthalte u. a. in Berlin, Stuttgart, Wien, Florenz. Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung (2015), Österreichischer Staatspreis für Europäische Literatur (2015), Thomas-Mann-Preis, Premio Formentor (beide 2018). Auf Deutsch erschienen zuletzt bei Zsolnay die 'Orbitor'-Trilogie (2007 bis 2014), der Erzählungsband Die schönen Fremden (2016), der Roman Solenoid (2019) und Melancolia (2022). 2022 wurde er mit dem FIL-Preis für romanische Sprachen ausgezeichnet.

„Auf verschiedenen Ebenen und in immer neuen Anläufen geht es in Solenoid um die Überwindung der Grenzen menschlicher Existenz, um die Erweiterung des Bewusstseins, um die Wahrnehmung einer höheren Dimension.“ Richard Kämmerlings, Die Welt, 21.09.19

2


Ich dachte an Träume, an Besucher, an diesen ganzen Wahnsinn, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Vorerst muss ich zurückkehren zur Schule, in der ich, sieh an, schon seit mehr als drei Jahren arbeite. »Ich werde nicht mein ganzes Leben Lehrer sein«, sagte ich mir, daran erinnere ich mich, als wäre es eben gestern gewesen, als ich spät an einem Sommerabend, rosa Wolken standen am Himmel, mit der Straßenbahn von dort, dem hintersten Colentina, wo ich hingefahren war, mir zum ersten Mal meine Schule anzuschauen, nach Hause fuhr. Aber sieh, es ist kein Wunder geschehen, und alles deutet darauf hin, dass es genau so weitergeht. Schließlich war es bis jetzt gar nicht so schlimm. An dem Nachmittag, als ich, unmittelbar nach der regierungsamtlichen Zuteilung, dort hinfuhr, um meine Schule zu sehen, war ich vierundzwanzig Jahre alt und wog etwa das Doppelte dieser Zahl an Kilos. Ich war unglaublich, unfassbar ausgehungert. Der Schnurrbart und die langen Haare, zu jener Zeit noch mit einem rötlichen Schimmer, vermochten es lediglich, meine Gestalt noch stärker zu infantilisieren, so dass ich, wenn ich mich unverhofft in einer Schaufensterscheibe oder in den Straßenbahnfenstern erblickte, einen Gymnasiasten zu sehen meinte.

Es war ein Sommernachmittag, die Stadt war bis oben hin angefüllt mit Licht, wie ein Glas, in dem sich das Wasser bogenförmig über den Rand wölbt. Ich hatte in Tunari vor der Generaldirektion der Miliz die Straßenbahn genommen, bin am Wohnblock meiner Eltern in der Ştefan cel Mare vorbeigefahren, wo auch ich gewohnt hatte, schaute wie üblich auf die unendliche Fassade, um das Fenster meines Zimmers zu sehen, das zum Schutz vor der Sonne von innen mit blauem Papier verklebt war, und fuhr danach am Maschendrahtzaun des Colentina-Spitals entlang. Die Pavillons der Patienten standen in dem großen Innenhof aufgereiht wie Schlachtschiffe aus Mauerwerk. Jeder hatte eine andere Form, als hätten die unterschiedlichen Krankheiten ihrer Bewohner die bizarre Architektur dieser Bauten bestimmt. Oder aber der Architekt jedes einzelnen dieser Pavillons war unter den Menschen, die an einer bestimmten Krankheit litten, ausgesucht worden und hatte das Gebäude so konzipiert, dass es dieses Leiden symbolisch repräsentierte. Ich kannte sie alle, mindestens zwei davon hatten auch mich schon beherbergt. Übrigens erkannte ich eben schaudernd in der rechten hinteren Ecke des Innenhofs das rosa Gebäude mit den papierdünnen Wänden, den Pavillon der Neurologie-Patienten. Hier hatte ich vor acht Jahren wegen einer partiellen Gesichtslähmung, die mir auch heute hin und wieder noch zu schaffen macht, einen ganzen Monat verbracht. Oftmals irre ich nächtens im Traum zwischen den Pavillons des Colentina-Spitals umher und betrete unbekannte, feindlich wirkende Gebäude, deren Wände bedeckt sind von anatomischen Schautafeln …

Dann fuhr die Straßenbahn an den ehemaligen ITB-Werkstätten vorbei, wo auch Vater einige Zeit als Schmied gearbeitet hatte. Davor hatte man jedoch Wohnblocks gebaut, so dass man sie von der Chaussee aus kaum mehr sehen konnte. Im Erdgeschoss eines Blocks befand sich direkt an der Doktor-Grozovici-Haltestelle eine Quartiersklinik. Dort war ich eine Zeit lang hingegangen, mir die Vitamin-B1- und -B6-Impfungen verabreichen zu lassen, ebenfalls infolge der Gesichtslähmung im Alter von sechzehn Jahren. Die Meinen drückten mir die Phiolen in die Hand und sagten mir, ich möge nicht ungeimpft zurückkehren. Die wussten schon Bescheid. Anfangs warf ich sie in den Fahrstuhlschacht und sagte ihnen, ich habe sie mir geben lassen, doch kam ich damit nicht lange durch. Bis zum Schluss musste ich sie mir tatsächlich verabreichen lassen. Ich brach abends im Dunkeln auf zur Klinik, beinahe tot vor Angst. Ich ging zu Fuß, so langsam es irgend möglich war, zwei Haltestellen weit. Wie an den Tagen, an denen ich zum Zahnarzt gehen musste, hoffte ich, es würde ein Wunder geschehen, und ich fände die Praxis geschlossen vor, das Gebäude abgerissen, den Arzt gestorben, oder es gebe zumindest eine Stromunterbrechung, so dass die Turbine und die Lichter über dem Zahnarztstuhl nicht funktionierten. Aber niemals geschah ein Wunder. Der Schmerz erwartete mich dort in seiner ganzen Größe, mit seiner blutigen Aura. Die erste Schwester an der Grozovici, die mich spätnachts geimpft hatte, war schön, blond und sehr gepflegt, aber schon bald graute mir vor ihr. Sie war eine von denen, die sich deinen nackten Hintern total verächtlich anschauten. Nicht der Gedanke an den nun folgenden Schmerz, sondern der Überdruss jener Frau angesichts des Hinterns, mit dem sie nun eine intime Beziehung eingehen würde (und sei es nur das Einführen der Nadel in die Pobacke), erledigte umstandslos die leichte Erregung, und mein Geschlecht verzichtete auf die Anstrengung, den Kopf ein klein bisschen zu erheben, um besser sehen zu können. Dann wartete ich auf die unvermeidliche Befeuchtung der Hautpartie, die gemartert werden sollte, auf die drei, vier kurzen Schläge mit dem Handrücken, sodann auf den Schock der ins Fleisch gestochenen Nadel, stets mit der Sorge, dass sie keinen Nerv berühren möge, keine Vene, dass mir nichts Übles geschehe, nichts Dauerhaftes, das man im Gedächtnis behält, dann auch noch verschlimmert durch das Gift, das durch den Nadelkanal hinabfloss, um sich, Schwefelsäure, in der ganzen Pobacke auszubreiten. Es war grauenhaft. Nach den Impfungen durch die blonde Schwester hinkte ich noch eine ganze Woche.

Zum Glück wechselte sich diese im Bett mit ihren Liebhabern wahrscheinlich sadomasochistische Schwester in der Klinik mit einer anderen ab, die man, wiewohl aus anderen Gründen, ebenso schwer sollte vergessen können. Es war eine Frau, die einen beim ersten Anblick schon tödlich erschreckte, denn sie hatte keine Nase. Aber sie trug auch keinerlei Verband oder etwa eine falsche Nase, sie trug schlicht und einfach mitten im Gesicht ein großes rundes Loch, das vage in zwei Hälften unterteilt war. Sie war klein wie ein Küken, brünett, und hatte Augen, die vielleicht aufgrund ihrer Sanftmut deine Aufmerksamkeit erregt hätten, wenn ihr totenschädelartiges Gesicht dich nicht vollends aus der Fassung gebracht hätte. Wenn ich auf die Blonde traf, nahm diese mich sogleich ran. Durch den Warteraum fegte der Wind. Wohingegen die Zwergin ohne Nase ungewöhnlich erfolgreich zu sein schien: Bei ihr war das Wartezimmer immerzu gefüllt, voll wie die Kirche in der Auferstehungsnacht. Ich kehrte so gegen zwei Uhr nachts von der Klinik nach Hause zurück. Viele der Patienten, die darauf warteten, einzutreten, brachten ihr Blumen mit. Wenn diese Schwester in der Tür erschien, lächelten die Leute glücklich. Versteht sich von selbst: Wahrscheinlich hatte niemand je eine so leichte Hand. Wenn ich an der Reihe war, und sie mich mit heruntergelassener Hose auf das Wachstuch der Behandlungsliege setzte, betörte mich das Parfüm der Blumen, die, noch in Zellophan eingehüllt, sieben, acht an der Wand aufgereiht stehende Vasen füllten. Die auffallend brünette Frau sprach ruhig und gleichmütig auf mich ein, dann berührte sie einen Augenblick meinen Po mit der Hand, und … das war alles. Ich spürte die Nadel nicht, und das Einsickern des Serums in den Muskel erfuhr ich lediglich als leichte Erwärmung. In ein paar Minuten war alles vorbei, so dass ich fröhlich und glücklich heimkehrte. Die Eltern schauten mich argwöhnisch an: Hatte ich etwa wieder die Phiole weggeworfen, wohin auch immer?

Nun folgte das Melodia-Kino, sogar noch vor dem Lizeanu, und dann stieg ich an der nächsten Haltestelle, am Obor, um in eine Straßenbahn, die im rechten Winkel zur Ştefan cel Mare verkehrte, sie kam von der Moşilor und verlor sich tief im hintersten Colentina.

Ich kannte die Örtlichkeiten gut, in gewisser Weise war das meine Gegend. An der Piaţa Obor machte Mutter ihre Besorgungen. Als ich klein war, hatte sie mich mitgenommen in das Menschenmeer des alten Marktes. Die Fischhalle, die stank, dass man es nicht darin aushielt, dann die große Halle mit den unverständliche Szenen darstellenden Flachreliefs und Mosaiken, schließlich die Eisfabrik, vor der die Arbeiter stets mit in der Mitte weißen und an den Enden rätselhaft durchsichtigen Eisblöcken hantierten (als hätten diese sich in der sie umgebenden Luft fortwährend aufgelöst), waren für meine Kinderaugen phantastische Zitadellen aus einer anderen Welt. Dort, an der Hand der Mutter durch die Montagvormittagsödnis des Obor-Marktes gehend, sah ich das Plakat, das mich dann so lange verfolgen sollte, an einem Pfosten kleben: Aus einer fliegenden Untertasse kam ein riesiger Krake hervor und streckte seine Fangarme nach einem Astronauten aus, der über einen roten, mit Steinen übersäten Boden ging. Darüber stand Planet der Stürme. »Es ist ein Film«, sagte Mutter....

Erscheint lt. Verlag 23.9.2019
Übersetzer Ernest Wichner
Verlagsort Wien
Sprache deutsch
Original-Titel Solenoid
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bolano • Borges • Bukarest • Gravitation • Kafka • magnetspule • Meisterwerk • Opus Magnum • Orbitor • Phantastik • Pynchon • Rumänien • SWIFT • Thomas-Mann-Preis • Trilogie • Weltliteratur
ISBN-10 3-552-05963-6 / 3552059636
ISBN-13 978-3-552-05963-4 / 9783552059634
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