Kieselsteine (eBook)

Geschichten einer Kindheit

(Autor)

eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
120 Seiten
Czernin Verlag
978-3-7076-0672-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kieselsteine -  Renate Welsh
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Renate Welsh, berühmte Autorin diverser Kinderbuchklassiker, schreibt in 'Kieselsteine' über ihre eigene Kindheit und Jugend. Zwischen Wien und Bad Aussee, innerer Freiheit und äußeren Pflichten, dem bewunderten Papa und der geschmähten Stiefmutter gewährt sie einen literarischen wie intimen Blick auf ihr nicht immer einfaches Großwerden während des Kriegs und der Jahre danach. In zwölf Geschichten begegnen wir dem geliebten und viel zu früh verstorbenen Opa, der strengen Hausbesorgerin Frau Suchadownik und dem fürsorglichen Fräulein Emma. Einfühlsam und ehrlich erzählt Renate Welsh von ihren frühen Erinnerungen - den Ängsten und Träumen eines Mädchens, das den Krieg und die Verwüstungen der Nachkriegszeit miterlebte, das immer zu viele Fragen stellte und sich oft verloren fühlte. Ganz im Stil der Autorin geht das Erzählte jedoch über ihr Einzelschicksal hinaus. Renate Welsh hilft uns zu sehen, dass in der Kindheit der Ursprung vieler späterer Erfahrungen liegt und dass wir durch einen Blick zurück stets verstehen, wie wir zu den Menschen wurden, die wir heute sind.

Renate Welsh, 1937 in Wien geboren, in Wien und Aussee aufgewachsen. Studierte Englisch, Spanisch und Staatswissenschaften, arbeitete als freie Übersetzerin und beim British Council in Wien. Autorin diverser Kinder- und Jugendbücher, am bekanntesten: 'Das Vamperl' und 'Johanna'. Diverse Preise und Auszeichnungen, u.a. Österreichischer Würdigungspreis, Würdigungspreis des Landes Niederösterreich für Literatur, Deutscher Jugendliteraturpreis, Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur, Theodor-Kramer-Preis, Preis der Stadt Wien für Literatur.

Renate Welsh, 1937 in Wien geboren, in Wien und Aussee aufgewachsen. Studierte Englisch, Spanisch und Staatswissenschaften, arbeitete als freie Übersetzerin und beim British Council in Wien. Autorin diverser Kinder- und Jugendbücher, am bekanntesten: "Das Vamperl" und "Johanna". Diverse Preise und Auszeichnungen, u.a. Österreichischer Würdigungspreis, Würdigungspreis des Landes Niederösterreich für Literatur, Deutscher Jugendliteraturpreis, Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur, Theodor-Kramer-Preis, Preis der Stadt Wien für Literatur.

DER KOKON


Die ersten Sonnenstrahlen malten dem Kerl mit den riesigen haarigen Ohren Kringel in seine böse Fratze. Fast hätte ich ihm eine lange Nase gezeigt, dann ließ ich es. Er konnte aus der Holzmaserung des Schranks neben meinem Bett heraustreten, sobald es dunkel wurde. Ich starrte in das Gleißen, bis ich die Augen schließen musste und hinter den Lidern glühende Flecken sah mit schwarzen, bewegten Punkten darin. Eigentlich musste ich aufs Klo, aber ich wollte niemanden aufwecken. Ich liebte das Gefühl, als Einzige wach zu sein, alles gehörte mir, weil nur ich es sah.

Plötzlich schrillte das Telefon.

Ich hörte meinen Vater aufstehen, hörte seine Schritte im Vorzimmer, hörte ihn sagen: »Ich komme sofort.« Gleich darauf stand er im Nachthemd neben meinem Bett. Tränen liefen ihm über die Wangen.

»Dein Opapa ist gestorben. Ich gehe jetzt hin. Willst du mitkommen?«

Ich hopste an seiner Hand. Er sah mich verwundert von der Seite an. Das stimmt doch nicht, dachte ich. Die Omi hat sich geirrt. Mein Opapa ist nur scheintot, wie die Frau, von der die Resi erzählt hat, Omi kennt sich da nicht so aus, wir gehen jetzt und wecken ihn auf, mein Papa kann das, dann setze ich mich zum Opapa, ich kann ihm ja vorlesen, wenn er noch müde ist vom Scheintotsein.

Wir gingen die Hietzinger Hauptstraße hinunter, die Robinien dufteten stark, ihre gefiederten Blätter warfen Schattenmuster auf den Gehsteig. Das Haus war wie sonst, rote und grüne Lichter zitterten auf den Fliesen, der Messinghandlauf des Treppengeländers funkelte. Ich rannte vor meinem Vater die Stiegen hinauf und klingelte.

Dann stand meine Großmutter vor mir mit ihrem faltenzerknitterten Gesicht und blickte ernst, aber das würde sich ja gleich ändern, ich drängte mich an ihr vorbei, lief ins Schlafzimmer, umarmte meinen Großvater und küsste ihn auf die Wange.

In diesem Augenblick wusste ich, dass er tot war, wirklich tot, und dass mein Vater nichts tun konnte, um ihn zu wecken. Er sah aus wie immer, aber er war nicht da und er würde nie wieder da sein. Ich stand völlig starr in einem Schrecken, der mir heute noch den Atem nimmt, irgendwann fing ich wohl an zu weinen, Omi führte mich in die Küche, putzte mir die Nase, kochte Kakao für mich. Der Kakao war eine Kostbarkeit und wurde für besondere Gelegenheiten aufgehoben. Mein Vater stand neben mir, strich mir übers Haar, die beiden redeten und ich verstand kein Wort. Hier reißt das Bild ab, setzt erst am Nachmittag wieder ein. Meine Schwestern und ich gehen mit Tante Emmi, Onkel Max und dem Dackel den Berg hinauf ins Café Tiergarten, es ist sehr heiß, Eidechsen flitzen über den Weg. Wir trinken Apfelsaft, die Erwachsenen sitzen in Korbstühlen, ich habe einen Holztisch ganz für mich allein und zeichne Glockenblumen, Margeriten, Skabiosen, Salbei und Zittergras. Über der Stadt liegt ein feiner Dunst, eine Lerche trillert hoch oben, ich kann sie nicht sehen, aber ich bin ja kurzsichtig, das darf nur keiner merken, sonst bekomme ich eine Brille, und ich wundere mich, dass ich gar nicht so traurig bin, sondern nur merkwürdig weit weg. Das gibt es nicht, denke ich, das kann doch nicht sein, ich hab’ ihn doch so lieb, und dann denke ich, dass ich eben ein wirklich schlechtes Kind bin, sonst würde ich jetzt weinen, und ich nehme mir vor, zur Strafe nichts mehr zu trinken, aber als Tante Emmi noch einen Apfelsaft bestellt, trinke ich ihn doch, und der Apfelsaft schmeckt gut, nur hinterher brennt es ganz schrecklich im Hals.

Mein Opapa fehlte mir sehr, fehlte mir zu Hause, fehlte mir auf den Straßen und Gassen, wo wir Hand in Hand spazieren gegangen waren, fehlte mir in der Wohnung, wo jetzt nur Omi und Tante Friedl lebten, fehlte mir, wenn ich etwas Schönes gesehen oder gehört hatte, fehlte mir, wenn ich traurig war, fehlte mir, wenn ich verwirrt war, also fast immer, fehlte mir, wenn ein Spielzeug kaputtging, fehlte mir, wenn ich fröhlich war. Wenn sich jemand in seinen roten Plüschsessel setzte, wurde ich böse, und als Omi anfing, Papiere aus seinem Schreibtisch zu verheizen, wurde ich trotzig vor Verzweiflung.

Die Trauer um ihn begann erst viel später, zugleich wurden die Bilder, die mir von ihm geblieben waren, deutlicher. Wir hatten nicht viel Zeit miteinander gehabt. Als er starb, war ich acht Jahre alt, zwischen meinem fünften und siebenten Lebensjahr war er in Wien und ich in Aussee. Dennoch ist heute noch die erste Heckenrose ein Gruß von ihm. Wenn wir auf den Roten Berg gingen, durch die Dostojewskijgasse, durch die Gogolgasse, durch die Turgenjewgasse, durch die Tolstojgasse, waren wir nicht in einem Wiener Vorort, sondern in Russland. Er machte aus einer Birke in einem Vorgarten eine Allee, die sich bis zum Horizont erstreckte, und aus ein paar Schneeflocken die Tundra im Winter.

Mit ihm konnte ich auf das Fallen eines Tropfens aus einem Eiszapfen warten, einem Farnwedel beim Aufrollen zusehen. Viele Jahre nach seinem Tod habe ich im Gras hockend zugeschaut, wie sich ein Schmetterling unter krampfartigen Zuckungen aus dem Kokon befreite und nach mehr als einer Stunde Anstrengung seine Flügel entfaltete. Mir schliefen die Beine ein, ich stand auf, lief herum. Plötzlich fiel mir ein, wie geduldig mein Großvater warten konnte, bis eine Fliege alle ihre Beine geputzt hatte.

Manchmal saß ich auf einem Schemel neben seinem roten Medaillon-Sessel und er sagte für mich Gedichte auf, die er auswendig konnte. Mörike, Eichendorff, Heine, und immer wieder Homer auf Griechisch. Ich verstand nichts, aber ich liebte den Klang, und wenn ich ein Ohr an seinen Brustkorb lehnte, spürte ich, wie es da drinnen grummelte, und es grummelte anders, wenn er griechisch sprach, und anders, wenn er deutsch sprach.

In sein Begrüßungslächeln konnte ich mich fallen lassen, dann war alles gut, ich war kein freches, unmögliches Kind, nicht störrisch, nicht schlampig, nicht hässlich.

Jahrelang suchte ich auch manche Wege, die wir oft miteinander gegangen waren. Ich suchte sie mit großer Verbissenheit, suchte immer verzweifelter, als ich zwölf, dreizehn wurde und mich immer fremder fühlte, immer weiter weg von den anderen. Ich lief durch den Bezirk, durch Gassen, die ich schon unzählige Male abgesucht hatte, schaute in offene Tore in der Hoffnung, hier irgendwo müsse dieser besondere Weg abzweigen.

Ich fragte meine Großmutter, die schüttelte nur den Kopf. »Das bildest du dir ein. Hier hat es nie einen Teich gegeben.« Ich fragte meinen Vater und bekam die gleiche Antwort. Ich glaubte ihnen beiden nicht. Den schmalen Weg zwischen Sträuchern und Maschendrahtzaun, den hatte ich mir nicht eingebildet. Ich sah noch die Wassertropfen in der unteren Spitze der Drahtrhomben schimmern, sah, wie sie träge herunterschlierten. Ich spürte das Kitzeln in der Hand, wenn ich die reifen Schoten der hohen Rühr-mich-nicht-an-Stauden antupfte und sie mit einem Schnalzlaut wegsprangen. Ich spürte sogar die Brennnesseln an meinen nackten Beinen. Und die, schloss ich logisch, hätte ich mir nie hingedacht. Ich sah, wie der Weg breiter wurde, sah das hohe Gitter mit goldglänzenden Kugeln auf den Speerspitzen, ich hörte den Springbrunnen, ich fühlte den kühlen Druck der Eisenstäbe an meiner Stirn, ich sah das weiße Haus mit den einladend offenen Türen.

Wichtiger noch war der Weg zum Teich, vorbei an umgestürzten Baumriesen, an schreiend gelbem Ginster, durch Wiesen von Wollgras. Am Teich blühten weiße, stark duftende Sternblumen. Mein Großvater und ich saßen auf einem grau verwitterten Steg und hielten die Hände ins Wasser, das fast schwarz war und sehr weich. Die eigenen Hände wurden silbrige, unheimliche Fische in diesem Wasser. Es gab winzige rote Krebse, die manchmal zwickten. Libellen schwirrten laut über uns hinweg, ich duckte mich unter ihren Flügelschlägen. Eine uralte Erle peitschte mit ihren Zweigen das Wasser.

»Die einzigen Teiche, die es hier gibt, sind die Schlaglöcher auf den Straßen nach einem heftigen Regen«, sagten alle. »Du hast geträumt.«

Dann kam ein Tag, an dem meine Schulklasse ins Kunsthistorische Museum fuhr und ich mich in einen Nebenraum verirrte.

Plötzlich sprang mich ein Bild an, postkartenklein, in schwerem, goldenem Rahmen.

Das war der Baum, wo der Weg zum Teich abzweigte. Ich erkannte jeden Knoten im Stamm, jeden knorrigen Ast, erkannte das Wurzelgeflecht.

Wir waren in ein Bild hineingegangen damals.

Vermutlich hatte mein Großvater eine Reproduktion besessen – ich erinnere mich nicht, je mit ihm im Museum gewesen zu sein.

Ich stand völlig starr vor dem Bild, unfähig mich zu rühren, unfähig zu antworten, als man mich rief. Hatte ich mir doch alles nur eingebildet? Wie viel war da sonst, das ich mir eingebildet hatte? Am liebsten hätte ich das Bild von der Wand gerissen, ich fühlte mich beraubt.

Lange Zeit mochte ich überhaupt nicht mehr an unsere Wege denken, und als ich es wieder versuchte, waren sie blass geworden wie alte Fotografien.

Viel...

Erscheint lt. Verlag 25.7.2019
Verlagsort Wien
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aussee • Autobiographisch • Erinnerungen • Geschichten • Kindheit • Krieg • Welsh • Wien
ISBN-10 3-7076-0672-4 / 3707606724
ISBN-13 978-3-7076-0672-0 / 9783707606720
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