Das Kinderhaus (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
320 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2116-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Kinderhaus -  Alice Nelson
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Marina Hirsch, Professorin in New York, ist entsetzt, als sie das kleine Kind auf dem Bürgersteig sitzen sieht. Mit Gabriel auf dem Arm läuft sie zu seiner Mutter, die ihn achtlos zurückgelassen hat. Doch Gabriel wird von seiner Mutter abgelehnt, zu schlimm sind die Erinnerungen der jungen Flüchtlingsfrau an die Vergangenheit, und Marina nimmt ihn schließlich bei sich auf. Sie selbst ist im Kinderhaus eines Kibbuzs aufgewachsen und hat die Distanz zu ihrer Mutter nie überwunden. Kann sie an Gabriel gutmachen, was sie als Kind allzu schmerzlich vermisst hat? Voller Anteilnahme erzählt Alice Nelson von verlassenen Kindern, die lernen müssen zu lieben. 'Wir sind alle Kinder unserer Mütter. Im Guten wie im Schlechten. Ich liebe dieses Buch!' Helen Atkinson, The Australian 'Nelson ist eine große Geschichtenerzählerin. Kann man Liebe lernen wie fast alles andere im Leben auch? Dieser Roman ist aufrichtig und besitzt doch ein großes Herz.' Better Reading 'Danke, Alice Nelson. Das Kinderhaus hat mein Leben bereichert.' Dolores Maund, The Lane Bookshop

Alice Nelson, geboren und aufgewachsen in Australien, hat in New York studiert. Ihre Prosa und ihr erster Roman sind mit literarischen Preisen gewürdigt worden. Die Arbeit mit Flüchtlingen hat ihren Roman 'Das Kinderhaus' stark beeinflusst.

Alice Nelson, geboren und aufgewachsen in Australien, hat in New York studiert. Ihre Prosa und ihr erster Roman sind mit literarischen Preisen gewürdigt worden. Die Arbeit mit Flüchtlingen hat ihren Roman "Das Kinderhaus" stark beeinflusst.

Harlem, New York


Juni 1997

Marina fragte sich später oft, wann die ersten Stimmen von Constances Plan im Innern des Mädchens zu flüstern begonnen hatten. Ob es etwas von Anfang an Berechnetes gewesen war, ein quälendes Vorhaben mit einem Kern von Barmherzigkeit darin, oder schiere Verzweiflung, hastig und aus dem Moment heraus. Immer wieder reiste Marina in ihrer Erinnerung zurück und versuchte, die merkwürdigen Ereignisse dieses Sommers zu ordnen. Manchmal glaubte sie, dass der Samen an jenem ersten Tag in Harlem auf der Straße gesät worden war; eine Art Test der Verbindung zu dem kleinen Jungen. Dass Constance während der darauf folgenden Monate einfach nur auf den richtigen Augenblick gewartet hatte. Bestimmt hatte es Anzeichen dafür gegeben, was das Mädchen vorhatte, aber Marina hatte sie nicht gesehen, wie sie in dem Sommer so vieles nicht gesehen hatte.

Aber vielleicht wissen wir nichts wirklich mit Sicherheit. Jacob würde die Geschichte anders erzählen. Er würde sagen, dass es ihr eigenes wachsendes Verlangen gewesen war, das es dem Mädchen ermöglicht hatte, das Kind schließlich loszulassen. Dass alles, was geschehen war, im Grunde durch Marina ausgelöst wurde. Und Constance? Sie würden nie erfahren, wie ihre Version der Geschichte lautete, weil sie sich, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen, in den Wind geworfen hatte und fortgetragen worden war, zusammen mit all den Verschwundenen, Wanderern und Heimatlosen. Constance war fort, aber sie würden für immer gezwungen sein, an sie zu denken, denn ihr Leben, wie wenig sie auch davon wussten, war jetzt untrennbar mit dem ihren verbunden.

Diese ersten Sommermonate in Harlem verschmolzen in Marinas Erinnerung zu einer einzigen langen, zermürbenden Hitze. Die lärmende Glut der Straßen, das matte Flirren der Nachmittage, die träge Schwüle der Abende. Aus den U-Bahn-Schächten stiegen heiße Luftwirbel auf, und das Rumpeln und Scheppern der Züge unter ihnen schien lauter als in allen anderen Teilen der Stadt. Es war schwer vorstellbar, dass es jemals Herbst werden würde.

Durch die Hitze entstand im Viertel ein eigentümliches Gefühl von Solidarität, als stünden sie unter Belagerung. Die Gespräche drehten sich immer wieder um die außergewöhnlichen Temperaturen, das Nichtendenwollen der Hitzewelle. Allen blieb nichts anderes als die Kapitulation.

In diesen ersten Monaten war alles in Harlem außergewöhnlich. Die Männer aus der Karibik, die an der Second Avenue den Vorbeifahrenden ihre Waren anboten, die curandera mit ihren bemalten Schaufenstern und ihren getrockneten Kräuterbündeln, die alten Italienerinnen, die die Stufen vor ihren Eingängen fegten, die Kramer und Dosensammler, die Bettler, die sich die Treppen der U-Bahn-Stationen hocharbeiteten, den Pappbecher vor sich ausgestreckt, die jungen Mexikanerinnen, die an den Straßenecken Tamales verkauften. Alles wirkte fremd und magisch. Diese unvorstellbaren Leben, die verlorenen Straßen, die Kirchen inmitten der Ladenzeilen, die Mietshäuser mit den vorgebauten Feuerschutztreppen – alles schien eine Geschichte in sich zu tragen. »He, Romeo. He, Julia«, rief der Bettler am Eingang zum Mount Morris Park ihr und Jacob jedes Mal zu, wenn sie daran vorbeigingen. »Habt ihr vielleicht ’n bisschen Kleingeld für mich?« Derselbe Refrain, jeden Tag dieses Sommers, begleitet vom lauten Rütteln seines Bechers. Marina gab ihm oft etwas aufs Geratewohl, mal eine Handvoll Münzen, mal einen Zehn-Dollar-Schein. Für sie war es eine Art Steuer für ihre Anwesenheit hier, in einem Viertel, das eigentlich anderen gehörte.

Sie und Jacob hatten das Brownstone-Haus an der 120. Straße im vergangenen Winter gekauft. Seit sie den hohen, schmalen Altbau am Rand des Mount Morris Park zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er sie nicht mehr losgelassen. Die verwitterte Fassade, der vorgebaute Erker, der verwilderte, schattige kleine Garten mit seiner verfallenen Grotte – alles wirkte wie verzaubert. Das Haus hatte einem kleinen Nonnenorden gehört, der seit einem halben Jahrhundert dort gelebt hatte, doch nun waren die letzten von ihnen zu alt geworden, um sich darum zu kümmern, und in einen Alterssitz nach Upstate New York gezogen. Bevor sie und Jacob mit dem Renovieren begonnen hatten, war Marina durchs Haus gegangen und hatte die Holzkreuze eingesammelt, die noch in jedem der Schlafzimmer hingen, Erinnerungen an die frommen alten Frauen, die jeden Morgen auf dem Dielenboden gekniet und auf schmalen Eisenbetten geschlafen hatten. Ihr gefiel die Vorstellung, dass es ein geheiligter Ort war. Dass es möglich war, in einem Stand der Gnade zu leben. Sie stellte sich vor, wie die Nonnen die Treppen hinuntergingen und die Finger in die kleine Messingschale mit Weihwasser tauchten, die noch am Türrahmen befestigt gewesen war, als sie und Jacob das Haus zum ersten Mal besichtigt hatten.

Acht Nonnen hatten hier gelebt, hatte der Makler ihnen erzählt. Davor mehrere italienische Familien, die die vier Etagen unter sich aufgeteilt hatten. Nun, da nur Marina und Jacob und sein Sohn Ben dort wohnten, fühlte sich das Haus seltsam leer an. Es war die größte Unterkunft, in der Marina je gewohnt hatte. Ursprünglich hatten sie vorgehabt, Jacobs psychiatrische Praxis hierher zu verlegen, sodass er seine Klienten in dem Raum im Untergeschoss empfangen konnte, der einen eigenen Eingang unterhalb des Treppenvorbaus hatte. Die Nonnen hatten dort ihre Suppenküche und die Andachten abgehalten, deshalb wäre er wie geschaffen für seine weltliche Form der Seelsorge, scherzte Jacob. Das mangelnde Licht konnte mit Lampen ausgeglichen werden, die dem Raum eine weiche, intime Atmosphäre verleihen würden. Sie kauften ein langes Sofa mit Leinenbezug und einen Ledersessel und hängten ein vergrößertes Foto auf, das ein helles Wolkenband über dem Meer zeigte.

Doch nachdem sie eingezogen waren, zögerte Jacob. Nun, da sie hier wohnten, war er nicht mehr so sicher, ob es seinen Klienten recht wäre, nach Harlem zu kommen. Marina wusste, dass es nicht nur das war. Das Brownstone an der 22. Straße in Chelsea, in dem er arbeitete, war ein sehr großer Teil seines Lebens. Dort hatte er seit über zwanzig Jahren seine Praxis; sie war wie eine Art Staffelstab an ihn übergegangen, als seine eigene Analytikerin in den Ruhestand gegangen war. Er genoss es, dass sie nur einen kurzen Fußmarsch entfernt war von seinem Büro in der New York University, wo er zwei Nachmittage in der Woche im Fachbereich Psychiatrie unterrichtete, von der Parkbank neben dem Triumphbogen am Washington Square, wo er, wenn es nicht zu kalt war, seinen Mittagsimbiss aß, und vom Café an der Ecke, wo man wusste, was er bestellen wollte. So viel von seinem Leben fand in dem Raum statt, so viel von seinem Denken war eingerahmt von dem Blick aus dem Erkerfenster, wo die Sonne über die Sandsteinfassaden der Häuser auf der anderen Straßenseite spielte. Als es schließlich so weit war, brachte Jacob es nicht über sich, die Praxis in Chelsea aufzugeben. Sie konnten sich die Miete leisten – das Geld war nicht das Thema, sagte er.

Was war dann das Thema, hatte Marina sich gefragt, während sie sich in dem schönen Raum umsah, den sie in Harlem für ihn eingerichtet hatten. Sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, dass Jacob vor allem deshalb an der Praxis in Chelsea festhielt, damit er weiterhin etwas hatte, das nur ihm gehörte. Einen Rückzugsort abseits ihres gemeinsamen Lebens. Marina wusste, dass er manchmal noch lange nach der Arbeit in der Praxis blieb. Dann legte er sich auf das Ledersofa, die Füße auf den Armlehnen, ein Buch auf dem Schoß. Er genoss es, nach dem vielen Reden die Stille im Raum zu spüren, hatte er ihr mal erzählt. Nachdem sein letzter Klient gegangen war, sagte er, dauerte es mindestens eine Stunde, bis das Echo der Stimmen des Tages verklungen und in seinem Kopf wieder Platz war. Das konnte Marina ihm schlecht verübeln, schließlich war ihr Schreiben auch ein geheimer Raum; ein Ort, an den sie sich zurückzog und wo sie nicht gestört werden wollte. Manchmal fiel es ihr schwer, nach einem Arbeitstag wieder aufzutauchen und die wirkliche Welt nicht als fadenscheinig und flüchtig zu empfinden.

Selbst nach fast zehn Jahren Ehe gab es immer noch Seiten an ihrem Mann, die sie nicht kannte. Trotz all der großen und kleinen Dinge, die sie voneinander wussten, gab es Tiefen, die noch nicht ausgelotet waren und es vielleicht auch nie sein würden. Manchmal schien es Marina, als hätten sie sich beide unbewusst dazu entschieden, ihr jeweils bestes Ich zu sein, in ihrer Vertrautheit eine Großzügigkeit zu bewahren, die in anderen Beziehungen vielleicht schon längst weggefallen wäre. Eine Ehe verträgt nicht allzu viele Reibereien, hatte mal jemand zu ihr gesagt, und sie glaubte, dass das stimmte. Für sie und Jacob war diese Liebe ein unerwartetes Geschenk, eine seltene und wundersame zweite Chance. Das war ihnen bewusst, und es machte sie sorgsam im Umgang miteinander und mit ihrer Liebe. Sie musste genährt und gepflegt werden. Sie gaben auf eine Weise acht darauf, wie sie es vielleicht nicht getan hätten, wäre sie nicht auf beträchtlichen Schmerz gefolgt.

Jeden Morgen verließ Jacob zeitig das Haus, um mit der U-Bahn nach Chelsea zu fahren, und Marina stand draußen auf der Treppe und sah ihm nach, bis er am...

Erscheint lt. Verlag 26.7.2019
Übersetzer Claudia Feldmann
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Australische Literatur • das innere Kind • Emigrant • Emigration • Familie • Flucht • Flüchtling • Frauenliteratur • Inneres Kind • Kibbuz • Kindererziehung • Kinderhaus • Patchworkfamilie • Psychotherapie • Ruanda • Trauma • ungewollte Kinder
ISBN-10 3-8437-2116-5 / 3843721165
ISBN-13 978-3-8437-2116-5 / 9783843721165
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