Schnee in den Ardennen (eBook)

Journalroman
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
185 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-74549-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schnee in den Ardennen -  Jürgen Becker
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Eine Dachkammer in einem abgelegenen Gehöft ist der Raum von Imaginationen und Erinnerungen. Hier beginnt der Erzähler sein 'Journal', und was er aufzeichnet, sind Vorgänge in nächster Umgebung und in ferner Vergangenheit, im Traum und in der Wirklichkeit. Beckers Beobachtungen streifen die Hügellandschaft seiner rheinischen Heimat, wandern nach Berlin und in den deutschen Osten, richten sich auf Bilder der ersten Jahre nach dem Krieg, erinnern sich an einen Karmann Ghia und an lange Fernsehabende, daran, wie man vor dem Radio saß, um Welt zu empfangen, an Möbel und Bilder. Indem sich der Autor seiner Wahrnehmungen vergewissert, geht er ihren Spuren nach, reflektiert sie, variiert ihre Motive, schreibt sie - und damit sein wie das Leben anderer - fort. In Schnee in den Ardennen vermischt Jürgen Becker die Formen von Tagebuch, Reiseerzählung und Roman. Täuschende Wahrnehmungen, ironische Berichte, lakonische Mitteilungen, poetische Notate - im Wechsel der Schreibweisen hält er seinen Lesern einen Spiegel vor, in dem jeder sich selbst, seine Erfahrungen und Geschichten erkennen wird.

<p>J&uuml;rgen Becker wurde 1932 in K&ouml;ln geboren und verbrachte dort seine Kindheit. W&auml;hrend der Kriegs- und Nachkriegsjahre, zwischen 1939 und 1947, lebte er in Erfurt. Nach Aufenthalten in Osterwieck/Harz und Waldbr&ouml;l kam er 1950 nach K&ouml;ln zur&uuml;ck. 1953 Abitur. Nach kurzem, abgebrochenem Studium begann er seine Existenz als freier Schriftsteller; seinen Lebensunterhalt bestritt er jahrelang mit wechselnden T&auml;tigkeiten, als Arbeiter und Angestellter, als Werbeassistent und Journalist. Er arbeitete f&uuml;r den WDR und in den Verlagen Rowohlt und Suhrkamp. Zwanzig Jahre lang, bis 1993, leitete er die H&ouml;rspielredaktion des Deutschlandfunks.</p> <p>Gro&szlig;e Aufmerksamkeit fand J&uuml;rgen Becker mit seinem ersten Prosabuch <i>Felder</i> (1964); die beiden folgenden B&uuml;cher <i>R&auml;nder</i> (1968) und <i>Umgebungen </i>(1970) festigten seinen Ruf als Verfasser experimenteller Literatur. Zugleich wirkte er mit seinen ersten H&ouml;rspielen (<i>Bilder, H&auml;user, Hausfreunde</i>) am Entstehen des &quot;Neuen H&ouml;rspiels&quot; mit. In seinem 1971 ver&ouml;ffentlichten Fotobuch<i> Eine Zeit ohne W&ouml;rter</i> verschmolz er seine literarische Arbeit mit dem visuellen Medium. Die k&uuml;nstlerischen Grenz&uuml;berschreitungen der Avantgarde hatte er 1965 bereits mit dem Band <i>Happenings</i> dokumentiert, einer Gemeinschaftspublikation mit dem Happening-K&uuml;nstler Wolf Vostell.<br /> In den Siebziger und achtziger Jahren konzentrierte sich J&uuml;rgen Becker auf die Lyrik. Die in dieser Zeit entstandenen Gedichtb&uuml;cher - darunter <i>Das Ende der Landschaftsmalerei</i> (1974), <i>Odenthals K&uuml;ste</i> (1986), <i>Das Gedicht der wiedervereinigten Landschaft</i> (1988) - plazierte die Kritik in die obersten R&auml;nge der zeitgen&ouml;ssischen Poesie. Gleichzeitig schrieb J&uuml;rgen Becker weiterhin H&ouml;rspiele und die beiden Prosab&uuml;cher <i>Erz&auml;hlen bis Ostende</i> (1980) und <i>Die T&uuml;re zum Meer</i> (1983). Dazu korrespondierte er weiterhin mit dem visuellen Medium: <i>Fenster und Stimmen </i>(1982), <i>Frauen mit dem R&uuml;cken zum Betrachter</i> (1989), <i>Korrespondenzen mit Landschaft </i>(1996) entstanden nach Collagen seiner Frau, der Malerin Rango Bohne, <i>Ger&auml;umtes Gel&auml;nde</i> (1995) nach Bildern seines Sohnes, des Fotografen Boris Becker.<br /> Wende und Wiedervereinigung wirkten entscheidend auf das Schreiben J&uuml;rgen Beckers ein. Die Wiederentdeckung der ...

I


Winterkämpfe. Es ist das Foto von Robert Capa, das ich, ohne danach gesucht zu haben, beim Blättern plötzlich wiederfinde. Winter 1944. Zwischen dem Fichtengehölz auf dem Hügelkamm und den Weidezäunen in der Talsenke bewegen sich über das abschüssige Feld Dutzende kleiner, dunkler Gestalten. Sie halten in den Armen herabgesenkte Waffen und werfen, die tiefstehende Sonne im Rücken, Schatten, die um ein Dreifaches länger als die uniformierten Körper sind. Der Trupp geht locker in offenen Reihen vor; die großen Abstände, die sie untereinander halten, lassen die Mannschaften der 101. US-Luftlandedivision wie Einzelgänger, wie Verstreute erscheinen. Sie sehen nicht aus wie von der 15. Panzergrenadierdivision Umzingelte. Ob sie alle überleben oder nicht, mitbeteiligt ist der Trupp daran, daß die letzte deutsche Winteroffensive im Westen scheitert.

Zurückgekommen ist der Schnee, jetzt in den letzten Tagen des Januar. Der Frost hält ihn auf den Dächern und für eine Weile sogar auf den Straßen fest. Die frühlingshafte Luft im Dezember hatte die Schneeglöckchen, ganze Gruppen auf der Wiese, vorlaut gemacht; sie meinten, ihre kurze Zeit als Avantgarde finge schon zu Weihnachten an. Die Kälte läßt die Halme dünn und spitz zusammenfrieren, und mit der Ausbreitung des Schnees wird klar, wer hier noch dominiert. Mehrmals am Tag wiederholen sich die Turbulenzen im Futterhäuschen unterm Kirschbaum. Ein Pulk Stare drängelt sich lärmend auf die Futterrampe und erdrückt fast das angstvoll fiepende Rotkehlchen. Unfreundlich hüpfen Elstern und Krähen aufeinander los und verjagen sich gegenseitig hoch in die Kirsche, hinüber ins Geäst des Birnbaums. Die schwarzweißen und die schwarzen Vögel haben unterschiedliche Strategien. Krächzend und geckernd warten sie zunächst einmal ab, dann verstummen sie und scheinen einander nicht mehr zu beachten. Die Elstern sitzen dem Vogelhäuschen näher; sobald die ersten herunterflattern und ins Innere einzudringen versuchen, schießt eine Krähe heran und vertreibt sie. Die Elstern fliehen vor jeder direkten Konfrontation. Beginnt eine Krähe, und die Krähen fangen damit immer einzeln an, den Besetzungsversuch – wobei die Dimension des Vogelhäuschens der Körpergröße beider Vogelarten überhaupt nicht entgegenkommt; trotzdem, sie schaffen es immer wieder –‚ entschwirrt der ganze Elsternschwarm in eine Baumgruppe, deren dichtes Gezweig die Vögel mit den messerlangen Schwanzfedern unsichtbar macht. Die Krähen haben das Vogelhäuschen für sich allein. Nicht lange. Zwei Eichelhäher haben ihr Versteck unter der Fichte verlassen und äugen mit schiefem Kopf vom Kirschbaum auf den Futterplatz herab. Dann lassen sie sich mit aufgespreizten Flügeln fallen, mitten unter die Krähen, die zwischen den Standhölzern des Häuschens nach heruntergefallenen Körnern picken. Kurzes, heftiges Durcheinander, bis plötzlich, wie auf Kommando, die Streitenden auseinanderstieben und einzeln sich auf fernen Wipfeln niederlassen. Und schon, als hätten sie auf den Moment der Räumung gewartet, sind die Elstern wieder da, und jetzt lassen sie sich auch nicht vom Buntspecht beirren, der die ganze Zeit, unbeteiligt, am Meisenknödel hängt und rasch und konzentriert seinen Schnabel ins harte Fett der Kugel schlägt.

Hausgeschichte. Die beiden Kammern über dem ehemaligen Stall sind früher der Heuboden gewesen. So lange das her ist, die Räume haben ein Gedächtnis bewahrt, das sich dem Bewohner öffnet, wenn er mit ganzer Intensität seinen Sinnen, seinen Einbildungen vertraut. Gerüche und Geräusche werden wahrnehmbar, die das frühere Landleben vergegenwärtigen … Der Schwung der Heugabel hoch zur Giebeltür, das Geschepper morgens der Milchkannen, das Aufklatschen der Kuhfladen. Die näherkommende Industrie holte die Männer vom Hof weg; der Luftkrieg brachte Evakuierte ins Haus. Ledermäntel fahndeten nach Verstecken. Die beiden Mädchen, die in der dunklen Winterfrühe von ihren Bettgestellen herunterkletterten, zerbrachen als erstes das Eis in der Waschschüssel. Unterwegs war kilometerweit die Mutter; sie hatte den Vater in seinem stillgehaltenen Refugium zu versorgen. Meine Herkunft, meine Anwesenheit berührt nicht länger nur den Rand der Geschichte. Nachts, in der kalten Schlafkammer, höre ich den Marder, wie er zwischen den Dachbalken herankriecht.

Angaben über Schneehöhen. Sie werden vom Deutschen Wetterdienst veröffentlicht und betreffen Gebiete, in denen Skilaufen Sport oder Ferienvergnügen ist. Als ich einmal das Wort Schneehemden benutzte, fragte mich eine Dreißigjährige, was das für Hemden seien. Nein, selber hatte ich keins getragen. Ich kannte nur die Berichte aus dem finnisch-russischen Winterkrieg 1939. Obschon truppenmäßig weit unterlegen, errangen die Finnen zeitweilig ihre Überlegenheit, indem sie ihre Soldaten auf Skier stellten und mit schneeweißen, über die Uniformen gestreiften Hemden tarnten. Wie Gespenster flitzten sie durch die Wälder, während der russische Koloß, mit seiner feldfarbenen Schwerfälligkeit, in den Schneemassen nicht vorankam. Der Film, in dem deutsche Einheiten in ihren Schneeanzügen durch die endlosen russischen Ebenen ziehen, zeigt eher einen Leichenzug. Vom Harz dehnt sich über Thüringer Wald, Erzgebirge, Bayerischer Wald bis ins Allgäu und Berchtesgadener Land eine im Flachland unterbrochene Schneedecke, die heute in einer Höhe zwischen dreißig und hundertzwanzig Zentimetern liegt. Talfahrten sind streckenweise möglich auf Kunstschnee.

Nachmittags um drei. Die Glocken, die bis zu unseren Höhen hinauf zu hören sind, läuten für eine Beerdigung. Wer da gestorben ist, keine Ahnung. Die Einwohnerzahl des Ortes nimmt in dem Maße zu, wie in der Gemeinde ein Siedlungsgebiet nach dem anderen entsteht. Im Einkaufsmarkt fragt man sich, ob man den Einkaufswagen überhaupt durch den heimischen Einkaufsmarkt schiebt, so vielen unbekannten Gesichtern begegnet man alle Tage. Das märkische Zweihundert-Seelen-Dorf, das ich im Sommer besuche, hält seine Einwohnerzahl konstant. Oder sie nimmt eher ab. Wenn jemand gestorben ist und beerdigt wird, läuten die Glocken dort den ganzen Tag stündlich.

Die Hoflampe, die in der Nacht von allein aufleuchtet, reagiert auf den Bewegungsmelder. Ich lehne mich weit aus dem offenen Fenster. Der Hof liegt im Hellen, aber ich sehe nichts, was das kleine, unauffällig angebrachte Instrument zu seiner Meldung veranlaßt hat. Es kann ein Tier gewesen sein, das an der Scheune, am Haus vorbeigehuscht ist, eine Katze, der Marder, ein Reh. In windigen Nächten, wenn das Licht mehrmals nacheinander angeht, sind es Zweige, die, hin- und hergeweht, in die Wahrnehmungszone geraten sind. Aber es geht kein Wind. Kein Tier sichert aus dem Schatten hervor. Der Bewegungsmelder ist eine Installation des Mißtrauens, und lange stehe ich hinausgelehnt im Fenster.

Radiogeschichte. Jetzt sind es vier Jahrzehnte her, daß ich die beiden Kammern bezog, die früher der Heuboden waren. Manchmal drehte ich abends am Radio, ein kleiner cremefarbener Philips, eines der ersten Nachkriegsgeräte. Einmal blieb ich im Bereich der Langwelle, wo sonst keine Sender zu empfangen waren, an einer weiblichen Stimme hängen, die Zahlen aufsagte, in unregelmäßiger Reihenfolge, vorwärts und rückwärts, zwischen eins und zehn. Es war eine merkwürdig tonlose Stimme, die mechanisch, fast maschinenhaft in einem gleichbleibenden Rhythmus sprach. Auffallend war, daß sie die Zahl fünf mit einem eingefügten e artikulierte: fünnef. Irgendwann brach die Stimme ab, und man hörte nur noch das kaum merkliche Rauschen des Nichts, das am Ende der Skala beginnt. Mehrere Abende lang, in der Stunde vor Mitternacht, wartete ich auf die geheimnishafte Stimme, die sich nicht regelmäßig meldete; dann wohnte ich wieder woanders und dachte nicht mehr daran.

Fernsehabende, wie man sie zerstreut und die Programme wechselnd verbringt. Vor kurzem blieb ich in einem Spielfilm hängen, in einer Szene, die eine junge Frau in einer Küche sitzend zeigte, gebeugt über ein in der Backhaube verborgenes Sendegerät, für das sie Zahlen vorlas, genau in der Art, wie ich sie von der Radiostimme damals kannte. Und ein paar Szenen weiter war es ein jüngerer Mann, der in der Küche vor dem verborgenen Gerät saß und einer weiblichen Stimme lauschte, die Zahlen aufsagte, in unregelmäßiger Reihenfolge, vorwärts und rückwärts, zwischen eins und zehn, merkwürdig tonlos, mechanisch, fast maschinenhaft, und nicht lange mußte ich warten, dann kam auch die fünnef vor. Der Mann, während er lauschte, schrieb die Zahlen auf einem Zettel mit, dann grübelte er einen Moment, wobei er die Zahlen, den Zahlencode, in etwas zu übersetzen schien, was eine Information war, eine Anweisung für sein weiteres Vorgehen, Handeln und Tun. Es gilt inzwischen als verjährt, im Unterschied zum Verhalten der jungen Frau, die aus Liebe zu dem Mann, einem Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, eine Spionin geworden und dafür vor Gericht gekommen war.

Das Holz, der Himmel. Kaminholz soll mindestens ein Jahr lang trocken gelegen haben. Eines der beiden Mädchen von damals wohnt mit im Haus. Komm, erzähle doch. Die Geschichten sind abgewandert, aber so weit entfernt liegen die fernen Städte nicht. Ihr Widerschein, vor allem in den Schneenächten jetzt, färbt rot den Himmel im Westen. In den Kinderjahren war der Himmel immer ganz schwarz. Jede Nacht? Nein, wenn es in den Städten brannte, machte der Widerschein der Brände den Himmel rot, im Westen den Himmel. Das Holz, das im Kamin nicht hell auflodern will, habe ich im Dezember geschlagen und vor dem Schneefall hereingeholt....

Erscheint lt. Verlag 17.6.2019
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Hermann-Lenz-Preis • Journalroman • Reiseerzählungen • ST 4130 • ST4130 • suhrkamp taschenbuch 4130 • Tagebuch
ISBN-10 3-518-74549-2 / 3518745492
ISBN-13 978-3-518-74549-6 / 9783518745496
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