Der Genosse -  Cesare Pavese

Der Genosse (eBook)

Roman
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2019 | 1. Auflage
216 Seiten
Rotpunktverlag
978-3-85869-854-4 (ISBN)
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Sie nennen ihn Pablo, weil er Gitarre spielt. Alle in der Osteria rühmen sein Talent, doch einst für Geld aufzutreten, hat Pablo keine Lust. Ebenso wenig sieht er seine Zukunft hinter der Theke des Tabakladens seiner Mutter. Lieber spannt er dem besten Freund, Amelio, der nach einem Motorradunfall als Krüppel weiterleben muss, die Freundin aus. Nur bekommt er es bald satt, das Spiel, das Linda mit ihm treibt, mitsamt den Tanzlokalen und Varietés - und macht sich aus Turin nach Rom davon, wo ihm langsam die Augen aufgehen. Seinem Instinkt folgend, stößt er auf Leute, die Flugblätter verteilen, und befindet sich plötzlich inmitten des Widerstands gegen ein alles beherrschendes System, der auch Amelio wieder auf den Plan ruft. Der Genosse ist der Roman einer Politisierung. Paveses spiegelt die lähmende Atmosphäre des italienischen Faschismus im Milieu der sogenannt kleinen Leute. Das Grundthema seines Schreibens, das 'Handwerk des Lebens' aus dem belanglosen ins sinnvolle, wahrhaftige Dasein zu finden, setzt sich hier in ergreifender Weise fort.

Cesare Pavese, 1908 geboren, wuchs in Santo Stefano Belbo, Piemont, und in Turin auf. Als er sechs Jahre alt war, starb sein Vater. Nach dem Philologiestudium Übersetzung von englischer und amerikanischer Literatur. 1935 Verbannung nach Kalabrien. 1938 Eintritt in das Verlagshaus Einaudi, Turin; 1943 Übernahme der Leitung des Büros in Rom. Pavese gilt als wichtiger Vertreter des Neorealismo. Zu seinen bekanntesten Büchern zählen neben *Der Mond und die Feuer* (1950) *Die einsamen Frauen* (1949) und sein Tagebuch *Das Handwerk des Lebens* (1952). 1950 erhielt Pavese den Premio Strega. Im August desselben Jahres, auf dem Höhepunkt seines literarischen Erfolgs, nahm er sich in einem Turiner Hotelzimmer das Leben.

Cesare Pavese, 1908 geboren, wuchs in Santo Stefano Belbo, Piemont, und in Turin auf. Als er sechs Jahre alt war, starb sein Vater. Nach dem Philologiestudium Übersetzung von englischer und amerikanischer Literatur. 1935 Verbannung nach Kalabrien. 1938 Eintritt in das Verlagshaus Einaudi, Turin; 1943 Übernahme der Leitung des Büros in Rom. Pavese gilt als wichtiger Vertreter des Neorealismo. Zu seinen bekanntesten Büchern zählen neben *Der Mond und die Feuer* (1950) *Die einsamen Frauen* (1949) und sein Tagebuch *Das Handwerk des Lebens* (1952). 1950 erhielt Pavese den Premio Strega. Im August desselben Jahres, auf dem Höhepunkt seines literarischen Erfolgs, nahm er sich in einem Turiner Hotelzimmer das Leben.

I.


Sie nannten mich Pablo, weil ich Gitarre spielte. In der Nacht, in der sich Amelio auf der Straße nach Avigliana das Kreuz brach, hatte ich mit drei oder vier anderen einen Ausflug auf den Hügel gemacht – gar nicht sehr weit, man sah noch die Brücke –, und wir hatten unter dem Septembermond getrunken und gescherzt, bis wir wegen der Kühle drinnen weitersingen mussten. Da hatten die Mädchen zu tanzen angefangen. Ich spielte – Pablo hier, Pablo da –, aber lustlos, ich habe immer gern für Menschen gespielt, die einen Sinn dafür haben, doch die hier wollten nur immer noch lauter schreien. Meine Hand war feucht vom Nebel. Ich hatte dieses Leben satt.

Nun, da Amelio im Krankenhaus gelandet war, gab es keinen mehr, mit dem ich frei und ungehemmt reden konnte. Man wusste, dass es sinnlos war, ihn zu besuchen, denn er schrie und fluchte Tag und Nacht und erkannte niemanden. Wir gingen und schauten uns das Motorrad an, das noch im Graben lag, neben einem Prellstein. Die Gabel war gespalten, das Rad abgesprungen, ein Wunder, dass es nicht in Brand geraten war. Blut war keines am Boden, aber Benzin. Später holten sie es mit einem Karren ab. Ich habe Motorräder nie gemocht, aber das hier war wie eine zertrümmerte Gitarre. Zum Glück erkannte Amelio niemanden mehr. Dann hieß es, vielleicht werde er durchkommen. An diese Dinge dachte ich, während ich im Laden bediente, und da es sowieso keinen Sinn hatte, besuchte ich ihn nicht und sprach mit niemandem mehr über ihn. Abends auf dem Heimweg dachte ich dann, dass ich mit allen geredet, aber niemandem gesagt hatte, wie hundeelend allein ich war, und zwar nicht, weil Amelio nicht mehr da war – er fehlte mir auch deshalb. Ihm hätte ich vielleicht gesagt, dass dieser Sommer der letzte war und dass ich die Osterien, den Laden und die Gitarre satthatte. Er hätte es verstanden.

Dann erfuhren wir, dass Amelio von oben bis unten eingegipst war und seine Beine abstarben. Ich dachte Tag und Nacht daran und hätte gewollt, dass mir die Leute nichts mehr über ihn erzählten. Jetzt hieß es, er habe in jener Nacht ein Mädchen dabeigehabt, sie sei auf die Wiese geschleudert worden, ohne sich auch nur einen Kratzer zu holen, sie seien gefahren wie die Irren und betrunken gewesen, so was müsse doch irgendwann schiefgehen. Es gab eine Menge Gerede. Eines Tages zeigte mir jemand das Mädchen, als sie draußen auf dem Corso am Laden vorbeiging. Sie war groß und stattlich. Wenn man sie so sah, hätte man nie vermutet, dass sie diesen Sturz hinter sich hatte. Zu Amelio passte sie, das ja. Die Vorstellung, dass die zwei den ganzen Sommer eng aneinandergeschmiegt auf dem Motorrad über die Autobahn gerast waren, machte mich wütend. Es lohnte sich sogar, sich dafür den Hals zu brechen. Jetzt hieß es, sie besuche ihn. Ein Glück. So war es nicht nötig, dass wir hingingen.

In diesen Tagen hielt ich mich kaum im Laden auf. Ohne Gesellschaft ging ich los an den Po. Ich setzte mich auf ein Brett und beobachtete die Leute und die Boote. Morgens in der Sonne zu sitzen, war ein Genuss. Ich wollte begreifen, warum ich alles satthatte und warum ich gerade jetzt, da ich mich hundeelend fühlte, nichts mehr von den anderen wissen wollte. Ich dachte daran, dass Amelio sich nicht aufsetzen konnte und nie mehr laufen würde. Dafür hatte Amelio doch gelebt – den ganzen Tag probierte er Motoren aus –, wie sollte er jetzt weiterleben? Boot fahren würde er vielleicht wieder können. Doch auch wenn man Geld hat, kann einen weder ein Boot noch eine Gitarre, noch sonst irgendetwas wirklich befriedigen. Das sah ich ja an mir. Was hätte ich darum gegeben zu wissen, wie Amelio lebte, bevor er sich das Kreuz brach. Er kam ohne die anderen aus und sagte in einem Gespräch keine vier Wörter, vielleicht war es mir deshalb nie eingefallen, mit ihm darüber zu reden. So viele Abende hatte ich mit ihm verbracht – ich spielte Gitarre, und es gefiel uns allen beiden –, wir tranken ein Glas und dann ging er wieder auf den Corso und ich in den Laden. Ich hatte ihn immer nur in dieser wasserfesten Motorradjacke gekannt. Er schaute kurz im Laden vorbei und sagte: »Heute Abend?« Seine Mädchen hatte er nie vorgezeigt. Wenn Bekannte die Osteria betraten, blieb er an seinem Tisch sitzen.

Eines Morgens kam das Mädchen vom Corso entschlossen in den Laden herein und fragte mich lachend nach Pablo.

»Ich bin Linda«, sagte sie. »Amelio schickt mich, er ist wieder zu Hause und kann sich nicht bewegen. Er will Besuch.«

Meine Mutter, die auch im Laden war, erkundigte sich nach Amelios Gesundheit. Sie redeten eine Weile unter Frauen, und Linda sah sich um. Sie war fröhlich, machte einem Mut. Noch niemanden hatte ich so über diese Geschichte sprechen hören.

Am nächsten Tag ging ich zu Amelio. Er lag bei geöffnetem Fenster im Bett und sagte nichts über die vergangenen Tage, auch nichts darüber, dass er mich hatte rufen lassen. Er war immer noch groß und lang und trug einen gelben Pullover. Das Gesicht war dasselbe, aber eingefallen, wie bei einem, der nicht geschlafen hat. Im Zimmer herrschte Unordnung. Durchs Fenster drang leise der Nebel herein. Es war, als sei man auf der Straße.

Ich fragte ihn nicht, was passiert war, denn man wusste es doch schon. Er fragte mich, was ich so machte und ob ich in den letzten Monaten oft Gitarre gespielt hatte. Ich zuckte die Achseln. Welche Gitarre. Ich zog die Zigarettenschachtel heraus und zündete uns beiden eine an.

»Wir haben uns das Motorrad angeschaut«, sagte ich zu ihm. »Sah schlimm aus. Verkaufst du die Teile?«

»Ein Motorrad kann man reparieren«, erwiderte er. »Das hat ja keine Beine, so ein Motorrad.«

Der hereindringende Nebel ließ meine Hände feucht werden. Draußen war es frisch, es war früher Morgen. »Hör mal«, sagte ich, »frierst du nicht?«

»Mach zu, es ist kalt.«

Ich ging an der Kommode vorbei und erblickte ihn im Spiegel. Im Bett liegend, sah er sich den ganzen Tag so, als würde er sich aus einem Boot herausbeugen. Er sah zuerst die Decken, dann ein Stück vom Laken, dann sein Hemd, sein Gesicht und die Kinnlade, und den Rauch.

»Rauchst du viel?«, fragte ich.

Leicht grinsend klopfte er mit dem Finger die Asche ab.

»Das ist die erste. Nachts kommt die letzte.«

Ich hatte aus dem Laden eine Hunderterstange mitgebracht und wusste nicht, wie ich sie ihm geben sollte. Ich nutzte den Augenblick und legte sie aufs Bett zwischen die Zeitungen.

»Seit dem Tag habe ich die Gitarre nicht mehr mitgenommen«, sagte ich derweil. »Ich habe es satt. Lohnt es sich zu spielen, um vier Dummköpfe zu unterhalten, die sich abends auf der Wiese treffen? Sie grölen, führen sich auf wie die Irren, was hat das mit Gitarrenmusik zu tun? Ab jetzt spiele ich nur noch allein, wenn ich Lust habe.«

»Allein macht es auch keinen Spaß«, sagte Amelio. »Zum Glück musst du nicht für deinen Lebensunterhalt spielen.«

Konnte ich ihm sagen, dass ich das Leben, das ich führte, satthatte und lieber gespielt hätte, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen? Dass die Welt groß war und ich mich verändern wollte? Reisen und mich verändern? An diesem Morgen wusste ich nur, dass ich irgendetwas tun würde. Ich hatte alles noch vor mir.

»Wenn du für deinen Lebensunterhalt spielen müsstest, würdest du einiges verstehen«, sagte Amelio, indem er die Kippe wegwarf und den Kopf zurücklehnte. Er war mager, der Kehlkopf ragte heraus wie ein Knochen.

Tage später besuchte ich ihn wieder am Morgen. Um diese Zeit war niemand zu Hause, das gefiel mir. Ich schob die Tür auf, trat in die Küche, klopfte, und schon stand ich in dem immer kalten Zimmer mit dem sperrangelweit offenen Fenster.

Amelio lag in der Kälte, um sich wie auf dem Corso zu fühlen. Wenn er sich nicht auf den Ellbogen stützte, um sein Gewicht auf die Seite zu verlagern, streckte er immer zum Atmen die Nase in die Luft. Ich setzte mich unten auf die Bettkante, um nicht auf seine Beine zu drücken.

»Hast du Schmerzen?«

Er sah mich an, ohne zu blinzeln. Auf manche Fragen antwortete er nicht. Er war Amelio. Seine Antwort war Schweigen. Einmal fragte ich ihn, ob ihn niemand besuchen käme. Mit den Augen wies er auf ein Blumensträußchen in einem Glas neben dem Bett.

»Du hast’s gut«, sagte ich.

Mut machen konnte ich ihm nicht. Mir war, als hätte er mehr Mut als ich. Er sprach nicht darüber, wann er gesund werden würde. Er sprach über nichts. Er war Amelio. Ich redete, manchmal ereiferte ich mich, er hörte mir zu, antwortete mit leiser Stimme.

»Und gehst du nicht mehr hinaus auf die Wiesen?«, fragte er.

»Irgendwas muss mit mir passiert sein. Ich habe keine Lust mehr auf Gesellschaft. Selbst der Laden gefällt mir nicht mehr. Vielleicht möchte ich einfach gar nichts tun, aber das glaube ich nicht. Es...

Erscheint lt. Verlag 21.8.2019
Reihe/Serie Edition Blau
Übersetzer Maja Pflug
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Entwicklungsroman • Italienischer Faschismus • italienischer Klassiker • Klassiker der Moderne • Neuübersetzung • Turin • Widerstand
ISBN-10 3-85869-854-7 / 3858698547
ISBN-13 978-3-85869-854-4 / 9783858698544
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