Der unsichtbare Roman (eBook)

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2019 | 2. Auflage
272 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60989-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der unsichtbare Roman -  Christoph Poschenrieder
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Wer ist schuld am Ersten Weltkrieg? Im Jahr 1918 wird die Frage immer drängender. Da erhält der Bestsellerautor Gustav Meyrink in seiner Villa am Starnberger See ein Angebot vom Auswärtigen Amt: Ob er - gegen gutes Honorar - bereit wäre, einen Roman zu schreiben, der den Freimaurern die Verantwortung für das Blutvergießen zuschiebt. Der ganz und gar unpatriotische Schriftsteller und Yogi kassiert den Vorschuss - und bringt sich damit in Teufels Küche.

Christoph Poschenrieder, geboren 1964 bei Boston, studierte Philosophie in München und Journalismus in New York. Seit 1993 arbeitet er als freier Journalist und Autor von Dokumentarfilmen. Heute konzentriert er sich auf das literarische Schreiben. Sein Debüt ?Die Welt ist im Kopf? wurde vom Feuilleton gefeiert und war auch international erfolgreich. Mit ?Das Sandkorn? war er 2014 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Christoph Poschenrieder lebt in München.

Christoph Poschenrieder, geboren 1964 bei Boston, studierte Philosophie in München und Journalismus in New York. Seit 1993 arbeitet er als freier Journalist und Autor von Dokumentarfilmen. Heute konzentriert er sich auf das literarische Schreiben. Sein Debüt ›Die Welt ist im Kopf‹ wurde vom Feuilleton gefeiert und war auch international erfolgreich. Mit ›Das Sandkorn‹ war er 2014 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Christoph Poschenrieder lebt in München.

Mena


Die beiden sitzen am Küchentisch, morgens, kurz nachdem die Kinder zur Schule gegangen sind. Mena – Philomena – Meyrink verräumt die Reste des Frühstücks bis auf die Teetasse, an der Meyrink seine Hände wärmt. Eben hat er Mena von dem Angebot des Einarmigen erzählt, dem Brief, den dieser überbracht hat. Und dass er in den nächsten Tagen eine Reise nach Berlin plant.

»Lies mir den Brief einmal vor«, sagt Mena.

»Na gut«, sagt Meyrink, »es schreibt mir hier also:

Auswärtiges Amt

Nachrichten-Abteilung

Berlin NW 7

Unter den Linden 77

 

Herrn Gustav M e y r i n k

Starnberg in Oberbayern

 

Sehr verehrter Herr Meyrink!

Nach reiflicher Überlegung und allseitigen Konsultationen treten wir an Sie heran mit einem Anliegen, das Ihnen verwunderlich erscheinen mag, wiewohl es Ihnen in größter Ernsthaftigkeit unterbreitet wird. Das Auswärtige Amt der Reichsregierung hat die Absicht, Ihnen die Ausarbeitung eines Romans anzutragen, welcher dem Zweck dienen soll, einer größeren Öffentlichkeit über die Ursachen des Kriegsausbruches 1914 die Augen zu öffnen, indem er die Drahtzieher aus dem trüben Dunkel ihrer Hinterzimmer herausscheucht und ins grelle Rampenlicht stellt.

In der Tat ist daran gedacht, Ihr Werk im Erfolgsfalle nicht nur im deutschen Sprachraum, sondern – in Übersetzungen auf unsere Kosten – europaweit zu verbreiten.

Sie als sicherlich aufmerksamer Beobachter des Tagesgeschehens sowohl im Reiche als auch an den Kriegsschauplätzen werden verstehen, dass unser Anliegen eine gewisse terminliche Dringlichkeit hat. Des Weiteren müssen Sie wissen, dass Ihre künstlerische Freiheit im Rahmen dieser Auftragsarbeit Zielsetzungen unterliegen wird, welche das Auswärtige Amt vorgibt. Wir verstehen unsererseits, dass diese Bedingungen für einen Schriftsteller durchaus eine Zumutung darstellen. Die großzügige Honorierung Ihrer Arbeit und die Aussicht auf eine weite Verbreitung des Romans werden, wie wir hoffen, Sie jedoch geneigt machen, unser Angebot wohlwollend zu prüfen. Falls Sie sich entschließen sollten, diesem näherzutreten, möchten wir Sie gerne zu einer Unterredung nach Berlin einladen. Bitte teilen Sie uns telegraphisch Ihre jederzeitige Ankunft mit, damit wir das Nähere veranlassen können.

 

Mit verbindlichen Grüßen

gezeichnet – Hohn, Huhn, Hahn? – wenn ich das recht entziffere.

Und immerhin bezahlen sie eine Fahrkarte erster Klasse«, sagt Meyrink, »das steht im Postskriptum.«

Danach ist es eine Weile still am Küchentisch.

Bis Mena sagt: »Wie kannst du das bloß in Erwägung ziehen, Gustl? Das wird dich als Schriftsteller vernichten.«

Meyrink dreht die Tasse in seinen Händen. »All unser Geld steckt in diesem Haus. Ich habe drei Romane in zwei Jahren geschrieben. Ich habe keine Ideen mehr. Jedenfalls keine, die reif genug wären, um sie zu pflücken.«

»Was redest du. Warte ein wenig, alles wird gut.«

»Meine Gesammelten Werke sind bereits erschienen. Ich bin fünfzig. Es kommt nichts mehr, und niemand erwartet etwas von mir. Man hat meine Bücher ins Regal gestellt, um sie nie wieder anzufassen.«

»Dein Verleger hat nur das Vernünftige getan und gedacht: Geh in die Sonne, solange sie hoch am Himmel steht.«

»Mag ja sein, nur jetzt werden die Schatten länger und länger«, sagt Meyrink.

»Schön, schaffen wir fürs Erste das Automobil ab.«

»Nicht das Automobil! Das Fahren bereitet mir Freude. Außerdem habe ich einen Ruf zu verteidigen: Wer war der erste Automobilist in Österreich-Ungarn? Ich. Weißt du noch, wie wir zusammen auf dem Benz-Patent-Motorwagen durch Prag kutschiert sind?«

Mena sagt: »Damals waren wir heimlich verlobt. Nie und nimmer wäre ich mit dir für alle sichtbar über den Wenzelsplatz gegondelt.«

»Nicht? Ich habe schöne Erinnerungen daran, also muss es wahr sein.«

»Nun denn, die Segeljolle«, sagt Mena.

»Nicht das Segelboot! Was wird dann aus meiner Kapitänsmütze?«

»Das Gleiche wie mit der Herrenfahrerkappe. Du kannst doch auch für die bunten Blätter schreiben. Die Zeitschriften, die Illustrierten, Almanache, Vorworte.«

Meyrink dreht und dreht die Teetasse. »Das wirft nur Brosamen ab, das reicht nicht, das weißt du. Dort gibt es höchstens noch ein Fünf‌tel dessen, was sie früher zahlten. Selbst der noble Simplicissimus zahlt nur noch die halben Schriftstellerhonorare – bloß fünf Beiträge in fast vier Kriegsjahren haben sie mir abgenommen! Grad dass ich nicht darum betteln musste. Nein, nein, der Roman ist das Schlachtschiff der Literatur. Alles andere ist höchstens ein Torpedoboot. Außerdem habe ich bei den Zeitschriften keine Konjunktur mehr, erst recht, seit die Fichte-Gesellschaft gegen mich gehetzt hat.«

»Das wird man vergessen haben, wenn der Krieg erst vorbei ist. Lange kann das wohl nicht mehr dauern, es gehen ja alle auf dem Zahnfleisch.«

»Weißt du noch, wie sie im Sommer vierzehn ausgerückt sind: Zu Weihnachten sind wir wieder da?«

»Ach Gustl, wie soll ich dich aufheitern? Soll ich sagen: Sie meinten Weihnachten 1920

Meyrink lacht. »Versuch es nur. Möglicherweise kamen sie auf mich, weil ich schnell bin, und weil die Zeit drängt. Wer weiß, wann die Fronten zusammenbrechen. Eher früher als später, fürchte ich.«

»Ich kenne meinen Gustl schon lange, und der Gustl ist der Gustl so richtig nur, wenn der Gustl schreibt.«

»Wie furchtbar das klingt. In Wahrheit ist es das, was ich am wenigsten schlecht beherrsche.«

Mena überlegt und sagt: »Besser hört es sich so an: Weil du nichts besser kannst als schreiben. Als Bankier – du weißt es selbst.«

»Siehst du. Eben deswegen will ich deinen Segen für diesen Roman. Ich werde sie in Grund und Boden schreiben. Am Ende werden sie denken, sie hätten selber Schuld an der Katastrophe. Sie werden wie die Lemminge über die Klippe rasen. Was für eine Wohltat für die Menschheit, und ich werde der Wohltäter sein.«

»Damit schreibst du dich selbst in Grund und Boden, fürchte ich, Gustl, und Geld wird es auch nicht geben.«

»Ich sollte an meine Leser denken, nicht? Ich würde ja gerne an die Treue der Leser glauben. Aber meine Leser sind nicht wie Hunde, sie sind Katzen. Die streunen; mal räkeln sie sich auf des einen Sofa, mal vor dem Kamin des anderen. Einmal gegen den Strich berührt – weg sind sie. Einmal ungewohntes Futter aufgetischt – weg sind sie. Dann jammert der Verleger: Schreib das Alte noch mal, nur irgendwie anders, hol sie zurück, geh raus, mach miez-miez-miez …«

Mena sagt: »Das ist doch ein riesiger Unsinn, Gustl, denk dran, wie du selbst tust, als Leser.«

»Dann vielleicht unter Pseudonym?«

»Gustl, verstehst du es noch immer nicht? Sie haben dich wegen deines Namens erwählt. Du sollst der Kronzeuge sein. Weniger das, was gesagt wird, ist wichtig, sondern, wer es sagt.«

Meyrink lässt den letzten Tropfen aus der Teetasse auf den Tisch fallen. »Wieso dann ich?«

»Weiß ich’s? Vielleicht, weil du alles bist, was sie nicht sind.«

»Niemand wird mir glauben. Oder doch – nach allem, was ich bereits serviert habe.«

»Einem anderen wird man es auch nicht glauben. Aber wer, glaubst du, sollen diese ›Drahtzieher‹ sein, die man sich im Amt einbildet?«

»Ich habe keine Ahnung. Stahlbarone, amerikanische Ölmagnaten, zaristische Verschwörer, Bolschewiki, die Freimaurer, Sozialdemokraten?«

»Warum nicht die Friseure?«

»Die waren es! – Also?«

»Tu es nicht. Aber fahr meinetwegen nach Berlin.«

»Ich tue es. Des Geldes wegen. Gegen die Friseure habe ich nichts.«

»Aber die Friseure könnten etwas gegen dich haben, seit du deinen Schädel rasierst. Im Übrigen: Tu, was du willst.«

 

Meyrink bleibt am Tisch zurück, Mena geht ihrer Wege. Inzwischen wärmen seine Hände den erkalteten Tee. Stimmt es, dass ich nie mit ihr im kleinen Benz, dieser ratternden Schachtel, durch Prag gefahren bin?, denkt er. Schade, falls nicht. Das glänzende Paar in dieser höchst aufregenden Erfindung, was wäre das für eine Werbe-Campagne gewesen. Gustav Meyer, der stadtbekannte Bankier, Okkultist und Rennruderer, an der Lenkkurbel den viele Pferde starken Wagen bändigend – neben sich, in aufreizender Ruhe und gänzlich unbesorgt trotz des haarsträubenden Tempos, die schöne junge Dame. Nein, Mena hatte vermutlich recht, so hatte das nicht stattgefunden. Tatsächlich waren sie heimlich verlobt gewesen.

Und das wegen Hedwig, Gustav Meyers angetrauter Ehefrau; unter den Rätseln, die sich beim Blick in seine höchst eigene Vergangenheit auftun, das größte: eine Fesselung, aus der er sich nicht selbst hatte befreien können. Und lange hatte es gedauert, bis die Büchsenmachermeisterstochter Hedwig ihn freigab; er musste ihr dazu eine Anstellung als Wirtschafterin bei einem Kaufmann besorgen – so blieb ihr wenigstens das gewohnte großzügige Ambiente (wenn auch nicht als Dame des Hauses). Zwölf Jahre finanzieller Miseren, Ehrenhändel, Gerichtsverfahren inklusive Untersuchungshaft, öffentlicher Erniedrigungen, schwerer Krankheit hielt sie mit Gustav Meyer durch, hielt sich fest am schönen Schein des Lebens in der Beletage, begleitete alle seine Wandlungen – freilich aus stetig größerer Distanz –, doch erst als sich die Wandlung vom Meyer zum Meyrink, zum...

Erscheint lt. Verlag 25.9.2019
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Eisner • Eisner, Kurt • Erich • Erster Weltkrieg • Freimaurer • Gustav Meyrink • Kurt • Macht der Worte • Meyrink • Mühsam • Mühsam, Erich • München • Novemberrevolution • Okkultes • Politik • Propaganda • Recherche • Revolution • Revolutionär • Schriftstellerleben • Schriftsteller-Roman • Schuld • Schuldfrage • Starnbergersee • Verschwöru • Verschwörungstheorie • Wahre GEschichte • Yoga
ISBN-10 3-257-60989-2 / 3257609892
ISBN-13 978-3-257-60989-9 / 9783257609899
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