Und ich schüttelte einen Liebling (eBook)

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2019 | 1. Auflage
237 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76392-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Und ich schüttelte einen Liebling -  Friederike Mayröcker
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Friederike Mayröcker hat nach dem Tod ihres Schreib- und Lebensgefährten Ernst Jandl Erinnerungen und Träume, Gespräche und Zitate, Eindrücke und Beobachtungen auf Notizzetteln gesammelt, hat ihren Text geschüttelt und den fruchtbaren Augenblick abgepaßt, da Schreiben und Ernten in eins und die Wörter und Sätze wie reife Früchte zu Papier fallen. Entstanden ist eine poetische »Ausschweifung des Gedächtnisses«, die noch die armseligsten und vergänglichsten Dinge in »Magie Partikelchen« verwandelt und sie so bewahrt: »herzhermetisch« geborgen im Innern der Sprache. Und ich schüttelte einen Liebling ist ein bewegendes Buch über die Kraft der Trauer, der Liebe und der Dichtung: Abschied und Wiederkunft in einem.

<p>Friederike Mayr&ouml;cker wurde am 20. Dezember 1924 in Wien geboren und starb am 4. Juni 2021 ebendort. Sie besuchte zun&auml;chst die Private Volksschule, ging dann auf die Hauptschule und besuchte schlie&szlig;lich die kaufm&auml;nnische Wirtschaftsschule. Die Sommermonate verbrachte sie bis zu ihrem 11. Lebensjahr stets in Deinzendorf, welche einen nachhaltigen Eindruck bei ihr hinterlie&szlig;en. Nach der Matura legte sie die Staatspr&uuml;fung auf Englisch ab und arbeitete zwischen 1946 bis 1969 als Englischlehrerin an verschiedenen Wiener Hauptschulen. Bereits 1939 begann sie mit ersten literarischen Arbeiten, sieben Jahre sp&auml;ter folgten kleinere Ver&ouml;ffentlichungen von Gedichten.<br /> <br /> Im Jahre 1954 lernte sie Ernst Jandl kennen, mit dem sie zun&auml;chst eine enge Freundschaft verbindet, sp&auml;ter wird sie zu seiner Lebensgef&auml;hrtin. Nach ersten Gedichtver&ouml;ffentlichungen in der Wiener Avantgarde-Zeitschrift &quot;Plan&quot; erfolgte 1956 ihre erste Buchver&ouml;ffentlichung. Seitdem folgten Lyrik und Prosa, Erz&auml;hlungen und H&ouml;rspiele, Kinderb&uuml;cher und B&uuml;hnentexte.</p>

In den Füszen ein Lachen in den Augen ein Weinen, träume ich, um den Hals einen Autoreifen Winter Collier riesige Winter Verkleidung, am Morgen die abstoszenden Seiten vom Vortag wiedergelesen, jetzt akzeptabel, »pischen«, sagt meine alte Ärztin und schaut mich mit überraschten aufgerissenen fragenden Augen an als hätte sie dieses anstöszige Wort eben erst erfunden, Ruszland Moskau St. Petersburg : Phantome von Örtlichkeiten, sie sagt oft »das ist psychisch«, wenn ich über irgendwelche Beschwerden klage, »ist das was Seelisches«, sage ich zu ihr anläszlich meines Geburtstagsbesuches, »dasz ich diese Wirbelsäulenschmerzen einmal spüre und ein anderes Mal nicht, sonst müszte ich sie ja immer spüren oder nie«, sie lacht. Es ist fünf Uhr früh ich rolle aus dem Bett und laufe zur Maschine, zwei Stunden später ist der Rausch vorüber –

(»lieber Aids als dich verlieren«), so Jacques Derrida, nie mehr loslassen wird mich diese Szene wenige Minuten ehe ihn die Sanität abholt, an jenem 9.Juni an dessen Spätnachmittag er starb, dasz er auf dem WC kaum mehr Kraft hat zu stehen zu urinieren sich an den Hals der Heimhilfe hängt knapp vor dem vollständigen Zusammenbruch, während ich entsetzt daneben stehe, unfähig irgendetwas zu tun, ihm die Hand zu halten, ein Trostwort zu sagen, in Tränen aufgelöst, also in Tränen ausbrechend, ohne ihn zu umarmen ein letztes Mal, weil ich nicht wuszte.

Und die Erscheinung von Ästchen, nicht wahr, und an der Stelle des Kopfes als Mutter lag war ein Palmenstrauch, und ich glaube zu wissen, sagt Elisabeth von Samsonow, warum du am liebsten alle Nächte in deinen Lieblingsbüchern liest weil du spürst wie rasant die Zeit und also dein Versuch, sie zurückzuhalten sie nicht vergehen zu lassen weil du noch so viel zu tun hast, nicht wahr, rastlose Ungeduld, und vor einer Reise hatte mich Mutter immer gezeichnet mit dem Zeichen des Kreuzes dasz es mich segnen sollte und alles Heil mir zukomme, und jemand sagte, als Vater gestorben war, gut dasz dein Vater vor deiner Mutter gestorben ist, denn er hätte sich allein nicht versorgen können, niemals, was sie aber konnte, nur war sie nicht mehr imstande sich wirklich selbständig zu bewegen, also sie ging zB nie allein in die Stadt, manchmal jedoch äuszerte sie den Wunsch einen Spaziergang zu machen, und Augustinus sagt, Frömmigkeit ist Weisheit, aber ich kam zwei Stunden zu spät ihr die Augen zu schlieszen.

Oft bat sie mich dasz ich sie besuchen sollte und mit ihr sprechen sollte, aber ich erfüllte ihr nicht oft genug diesen Wunsch weil ich immer gerade an irgendeinem neuen Buch schrieb und so bat ich Freunde und Verwandte, sie zu besuchen, was sie aber nicht wollte, und manchmal bat sie mich weinend, einen Besuch abzubestellen : ach sie wolle lieber allein bleiben als sich mit jemandem unterhalten müssen, eigentlich wollte sie nur mit mir sprechen und ich in Tränen ausbreche wenn ich daran denke, nicht wahr. Heute verstehe ich alles besser und würde mit gröszerer Hingabe, damals wie achselzuckend im bitteren TURNGEWAND, ihre mühsame mühselige Seele.

Ein Hund mit aus der Stirn gekämmten Haaren am Eingang zum Supermarkt, ein Hundekopf im Papierkorb ganz deutlich die weiszen spitzen Ohren ich glaube Wolfshund. Es ist ich komme aus Wales ein Apfelstrudel Geschäft so eine Art Stillstand der Materie, und ich weisz nicht warum der Antwortbrief von Leo N. mich so entzückt und verzaubert, es sind nur wenige Zeilen aber sie sind voll Geheimnis und zarter Erotik, er schreibt, Erna sei nun wieder zuhause, und sie seien von 15 bis 19 Uhr allein, aber in der Regel sei alle 24 Stunden eine Schwester da, jetzt hätten sie gerade ein biszchen gestritten, weil Erna nach dem Mittagsschlaf aufstehen wollte und von ihm angezogen werden wollte bevor er selbst angezogen war, mitunter erinnere ihn ihr Zusammensein an die Zeit vor Ernas Erkrankung und er liebe sie jetzt mehr als damals nämlich ihren Körper ihre kl.Hände und Füsze ihre Seele die so ganz anders als seine eigene sei, und er würde ohne sie nur ein halber Mensch sein, und es schnüre ihm die Kehle wenn er daran denke.

Heute elektrische Haare und ich höre sie knistern und EJ murmelt er werde es später tun nämlich die Tabletten in den Medikamenten Spender einräumen während sie die freie Natur in den Saal schleppen . .

Irritierendes Déjà-vu, habe meinen Fellmantel an, alles verschneit an jenem 1.November als EJ und ich auf den Hernalser Friedhof das Grab seiner Eltern besuchen, habe ja meinen Fellmantel an und es sind seither viele Jahre vergangen, sage ich, aber es war sehr kalt und ich hüllte mich in meinen Fellmantel und ich kann das Körpergefühl von damals jetzt, in diesen Augenblicken in mir erzeugen, und wir gehen zum Grab seiner Eltern hinauf und es liegt ganz oben auf einem kl.Hügel und daneben ist das Grab von Konrad Bayer, sage ich, und dann hinunter und der November Nebel und unsere Stimmen in dem November Nebel und ich sage zu EJ, musz meine Stimme schonen, darf nicht viel sprechen, so mein Herz usw. wieder vollends im Takt so zwischen allen Zeilen warte ich auf deine Stimme, sage ich zu EJ, und eben in der Stille des Zimmers eine Stimme gehört am Telefon eine Stimme gehört, und nach dem Friedhofbesuch gehen wir in ein Gasthaus um uns aufzuwärmen und im Gasthausfenster ist ein van Gogh, und ich sage zu EJ, wenn Montag vorüber ist, dann ist schon die ganze Woche vorüber, nicht wahr, und EJ nickt und wir blicken einander lange an, und ich sage zu ihm, vielleicht sollte ich mit dem späten Mozart beginnen, um ihn besser kennenzulernen, und Ingeborg Nemetz nannte mich »Luchsin«, wenn sie mir schrieb, vielleicht wegen der Haarbüschel und wegen der Augen also dem Doppelblick, und EJ mit der Lichtmütze kam mir entgegen.

Und ich war vernarrt und ich sinke nieder und es schnürt mir die Kehle und Ely drückte mich gegen die Wand des leeren Klassenzimmers und küszte mich und ich begann zu zittern, und es ist eine Nostalgie oder was, sage ich, und ein ehemaliger Schüler von damals sagt mir, wir haben es alle gespürt, etwas Erotisches lag in der Luft, aber wir wuszten nicht, nämlich der Beichtspiegel, und meine Sinne ein sturmgerütteltes Wasser, wir wechselten ein paar Briefe und es war lange her.

Und als Peter Handke seine experimentelle Phase überwunden hatte und sein Buch »Wunschloses Unglück« erschienen war, sagte Fredy K. zu uns, aber dieses Buch ist in ganz einfacher Sprache geschrieben, das sagte er, und wir wunderten uns. Und auf der Strasze ein schwarz gekleideter Mann, der in einen Apfel bisz und mich dabei anblickte, und ich sage zu EDITH, der Oktober vergeht und der November wird vergehen und ich werde, obwohl ich mir vorgenommen hatte, mindestens einmal im Monat ins Theater zu gehen, wieder nicht ins Theater gehen weil es mir schwerfällt am Abend noch auszugehen, und da war eine alte Frau in Arbeitskleidern und bunter Schürze und sie stieg an einem Sonntag nachmittag mit einem groszen Strohbesen in die Straszenbahn ein, und das geschah nicht auf der Bühne sondern in Wirklichkeit und es war ungewöhnlich und alle Leute schauten sie erstaunt an und ich schenkte ihr einen mitfühlenden Blick, und EDITH telefoniert und sagt, wo steckst du denn, und ich sage, ich habe ganze Tage bei meinem Zahnarzt zugebracht, und die Kürschnerin sagt, die Tiere die man essen kann, kann man auch zu Pelzen verarbeiten, und das hatte ich nicht gewuszt und sie zeigte mir einen Mantel aus Hasenfell und ich drängte die Tränen zurück, und ich verspürte das Bedürfnis, kerzengerade Sätze zu schreiben, aber es sollte ab und zu ein aufregender unerwarteter Satz vorkommen, ein Satz nämlich in welchem die Elektrizität tobte und meine Seele war aufgeregt und ich hörte Maria Callas schluchzen und ich in Tränen ausbrach während die Wintersonne ihre schrägen schmerzenden Pfeile gegen die Augen dasz ich sie schlieszen muszte, und ich brannte lichterloh und ich hatte den hohen Blutdruck und ich träumte »Kadenz des Ovid« und ich war vexiert ich war betäubt und dann fällt mir das Blut in die Füsze hinunter. Und Oskar Pastior schreibt, komm in meine Erinnerung auch wenn du fort bist, geh mir durch den Sinn durch alle Sinne, meine Zeit – die Trennung ist flieszend.

Und ich frage Gertrude Stein, wann ist die günstigste Jahreszeit für Ihre Arbeit, das fragte ich und sie sagte sie wisse es nicht aber sie frage nun mich wann ich am besten schreibe und ich sage, Oktober November Dezember Januar und mir fielen dabei die schneeweiszen Wimpern des Hausbesorgers ein, aber warum, sage ich, und Mia Williams schreibt mir, meine Tanten wanken zu Liebhabern und Morphium, sie kehren mit dem Besen nachts die Zimmer, augenblicklich, da man aus dem Fenster über sie lacht, usw.

Und es war hinter den Chinahunden und als wir zum ersten Mal miteinander schliefen, Ely und ich, schaute ich seinen Kopf an und dachte, ein fremder Kopf neben mir auf dem Polster, aber nichts geschah, und er sagte, lasz das Licht brennen dasz ich deine Augen sehen kann, und wir nannten es unsere weisze Nacht und auch drauszen war alles weisz, und dann sagte er, lasz uns jetzt schlafen. Und wie kann sich jemand ändern man musz sein wie man ist, so Gertrude Stein und sie wohnte eine zeitlang in Wien, und Christel Fallenstein schreibt, du hast dich oftmals verändert und es war eine lange Strecke die zurückzulegen war in deinem Leben, nicht nur dein Aussehen hat sich verändert auch deine Handschrift, aber vor allem deine Stimme, deine...

Erscheint lt. Verlag 13.5.2019
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • 21. Jahrhundert • Abschied • Autobiografie • Beobachtungen • Eindrücke • Erinnerungen • Ernst Jandl • Friederike Mayröcker • Gespräche • Lebensgefährte • Liebe • Liebling • Österreich • Prosa • Roman • ST 3822 • ST3822 • suhrkamp taschenbuch 3822 • Tod • Trauer • Träume
ISBN-10 3-518-76392-X / 351876392X
ISBN-13 978-3-518-76392-6 / 9783518763926
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