Wie ich Klavierspielen lernte (eBook)

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2019 | 1. Auflage
200 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-76232-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wie ich Klavierspielen lernte -  Hanns-Josef Ortheil
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Hanns-Josef Ortheil erzählt von den oft skurrilen Seiten des Pianistenlebens. Von ersten Klavierschulen, favorisierten Komponisten, frühem Vorspiel, exaltierten Klavierlehrern und großen Titanen auf den Bühnen von Salzburg und anderswo. Amüsant und packend führt er den Leser eine steile Leiter hinauf in den Pianistenhimmel, wo seit Vladimir Horowitz' Zeiten sowohl schwerste spezielle Psychosen als auch legendäre Triumphe zu erwarten sind.

Ein Buch nicht nur für Klavier- und Musikenthusiasten, das von den verborgenen, dämonischen Seiten manischen Übens und Spielens sowie der Geschichte des Virtuosentums kenntnisreich und detailliert erzählt.



<p>Hanns-Josef Ortheil wurde 1951 in K&ouml;ln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor f&uuml;r Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universit&auml;t Hildesheim. Sein literarisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. erhielt er 2002 den Thomas-Mann-Preis der Hansestadt L&uuml;beck. Seine Kindheit und Jugend war von der Vorbereitung auf ein Leben als Pianist gepr&auml;gt. Seine ersten Texte schrieb er unter Anleitung seines Vaters in der elterlichen Heimat des Westerwaldes, seiner &raquo;Urlandschaft&laquo;. Noch immer zieht er sich in sein dortiges Elternhaus h&auml;ufig zum Schreiben zur&uuml;ck.</p>

4


An einem Abend sitze ich mit meinem Vater in der Küche unserer Wohnung, da höre ich Mutter zum ersten Mal Klavier spielen. Zuvor ist es wie immer sehr still gewesen, nicht einmal das Radio (das Mutter nicht mag) haben wir eingeschaltet. Mutters Klavierspiel beginnt nicht leise oder verhalten, sondern gleich so, als eröffnete sie ein Konzert. Einige strahlende, helle Akkorde werden angeschlagen und marschieren durch unsere Zimmer. Sie verdrängen alles, was im Weg steht, und erobern die Räume, als wären sie aus der Fremde heimgekehrt und hielten nun wieder Einzug.

Vater und ich sitzen regungslos da und lauschen. Ich schaue Vater an und sehe, wie erschrocken er ist. Sein Gesicht ist rot und glänzt. Freut er sich oder hat er Angst? Ich jedenfalls habe im ersten Moment sofort wieder Angst, denn die Klänge wirken gewaltig und so triumphal, als gehörten sie nicht in unsere Wohnung. Menschen, die solche Musik spielen, leben woanders, in ganz anderen Städten und Ländern. Bestimmt sprechen sie auch eine andere Sprache und essen etwas ganz anderes als wir. Warum aber spielt Mutter eine solche Musik?

Noch heute wundere ich mich darüber, dass Vater und ich die Küche nicht verlassen haben. Wollten wir nicht sehen, wie Mutter spielte, wollten wir uns nicht überzeugen, ob sie es wirklich war? Nein, das wollen wir nicht, wir denken wohl nicht einmal daran. Kerzengerade sitzen wir auf unseren Stühlen, wie Zuhörer in einem Konzert.

Konzerte habe ich bis dahin noch nie erlebt, ich weiß also nicht, wie es in ihnen zugeht und wie die Räume aussehen, in denen sie aufgeführt werden. Ohne es zu ahnen, verhalte ich mich aber wie ein kleiner Konzertbesucher. Ich höre angestrengt zu, ich konzentriere mich – ganz wie mein Vater, der sogar mit leicht geöffnetem Mund dasitzt und hörbar aus- und einatmet. Anscheinend regt die Musik ihn sehr auf, ja: Die Musik fährt einem in den Leib und hinterlässt eine heftige Unruhe, die sich rasch ausbreitet und den ganzen Körper durchströmt.

Je länger ich zuhöre, umso freundlicher erscheinen mir die Klänge. Sie beginnen zu wandern und sich umzuschauen, und sie sind nicht im Geringsten bedrohlich. Erstaunlich ist, dass das Klavier sich wie ein großes Orchester mit vielen verschiedenen Stimmen anhört. Die Finger können einzeln, zu zweit, aber eben auch zu vielen Musik machen! Sie können trommeln, wirbeln und klettern – und zwar alle fünf, und das an beiden Händen!

Mutter scheint darin eine Meisterin zu sein. Natürlich habe ich das nicht erwartet, und natürlich habe ich keine Ahnung, wo sie das gelernt haben könnte. Viele Jahre muss sie Unterricht erhalten haben, damit sie so gut spielen kann, so treffsicher und leicht!

Erst sehr viel später habe ich sie einmal gefragt, welches Stück sie damals gespielt hat. Sie erinnerte sich genau und sagte, dass es ein Stück von Frédéric Chopin war. Und welches? Die Polonaise in A-Dur! Und warum die? Sie habe nichts Ruhiges oder Melancholisches spielen wollen, sondern ein Stück, das die Räume öffnet und frische Luft hereinlässt. Das Ganze habe ein Auftakt sein sollen, ein Entrée, als ginge ein Vorhang auf einer Bühne wieder auf, nachdem er lange Zeit geschlossen gewesen war.

Die Polonaise in A-Dur op. 40 also! Direkt nach dieser Unterhaltung habe ich sie mir wieder auf einer Schallplatte angehört, gespielt von Arthur Rubinstein. Schon mit den ersten Klängen war der große Kindheitsmoment mit all seinen Stimmungen wieder da: Vater und Sohn, zwei Zuhörer in der Küche! Die Zaubereien von Mutters Fingern, die über die Tasten sprangen! Und? – und der grausame Moment, als ihr Spiel zusammenbrach, weil es sie überforderte und weil sie das Strahlen dieser triumphal dahermarschierenden Klänge nach den tieftraurigen Erlebnissen in ihrem Leben noch nicht ertrug.

Von einem Moment auf den andern hört sie auf, schlägt auf die Tasten ein, stöhnt und weint. Mein Vater steht auf und geht sofort zu ihr, und ich schleiche hinter ihm her, unsicher, ob ich das Wohnzimmer wirklich betreten soll. Wir sind beide sehr hilflos, selbst Vater weiß nicht, was er tun soll. Er versucht, Mutter zu beruhigen, aber er hat dafür keine Worte, und so reicht er ihr ein Stofftaschentuch, damit sie ihre Tränen trocknen kann.

Ich sehe dieses Taschentuch bis heute vor mir: wie es aus Vaters Hose herausgezogen und entfaltet wird, wie es schlaff in der Luft hängt und hin und her baumelt und wie die Hand meines Vaters zittert. Ich nehme es ihm ab und reiche es an Mutter weiter, und als sie es direkt vor Augen hat, schaut sie auf, erkennt mich und wischt sich mit dem Tuch das Gesicht. Es ist die Sekunde, in dem sie sich besinnt. Sie lächelt sogar kurz angesichts des Taschentuchs, das sie in den Händen hält, ja, sie schüttelt den Kopf, als wollte sie der Trauer auf keinen Fall länger nachgeben.

Weiterspielen will sie anscheinend aber auch nicht, später vielleicht einmal, nicht jetzt. Soll sie das Klavier schließen, damit es wieder abtauchen und erstarren kann? Das kommt auch nicht in Frage, es sähe aus wie eine Niederlage.

Mutter hat eine viel bessere Idee. Und so nimmt sie mich an der Schulter und zieht mich hinüber zu dem Klavierhocker. Ich darf mich hinsetzen und meine Hände auf die Tasten legen. Dann holt sie sich einen Stuhl und setzt sich neben mich. Dicht nebeneinander sitzen wir vor den schwarz-weißen Tasten, bis Mutter eine von ihnen anschlägt. Dafür nimmt sie den zweiten Finger, sie krümmt ihn ein wenig und lässt ihn auf die Taste springen. Drei-, viermal darf der Finger hüpfen, dann zieht sie ihn zurück und deutet mit ihm auf meinen eigenen rechten Zeigefinger.

Ich bin dran, auch ich soll meinen Finger bewegen und eine Taste anschlagen.

Das kann nicht allzu schwer sein, oder? Von wegen. Ich lasse meinen Finger springen, und er schlägt auf die Taste. Viel zu laut hört sich das an, also versuche ich es ein zweites Mal. Diesmal klingt der Anschlag zu leise, er ist kaum zu hören. Also los, ein drittes Mal! Wieder bekomme ich es nicht so hin, wie ich es mir vorstelle. Der Ton klingt nicht normal, sondern zittrig, außerdem fühlt mein Finger sich hart an und steif. Was ist denn bloß los?

Ich habe gedacht, dass jeder Mensch auf diesem Klavier Musik machen kann, das ist aber keineswegs so. Die Tasten gehorchen mir nicht, und meine Finger fühlen sich verkrampft an. Selbst im Oberarm tut sich etwas, dort spüre ich ein kleines Zucken.

Mutter nimmt meinen Finger und hält ihn eine Weile still. Dann führt sie ihn zurück und lässt ihn eine Taste nach der andern anschlagen. Ganz langsam und ruhig, mit etwas zeitlichem Abstand. So wandere ich mit meinem Zeigefinger die Tastatur hinauf und wieder hinab, immer wieder, ruhiger und leiser werdend.

Jeder angeschlagene Ton soll sich anhören wie der vorige, und genau das ist sehr schwer. Manchmal rutscht der Finger zur Seite und schlägt mehrere Tasten auf einmal an. Dann bleibt er zwischen zwei schwarzen hängen und muss sich erst wieder befreien.

Das Klavier, stelle ich fest, hat einen eigenen Willen, es gehorcht mir nicht. Um gut hörbar auf ihm zu spielen, muss ich mich auf seine Tasten einstellen. Wandern meine Finger nach rechts, muss der Oberkörper ein wenig mitwandern. Darf ich den Klavierhocker hinterherschieben oder wie bekomme ich es hin, immer aufrecht und gerade zu sitzen, auch wenn meine Finger sich immer weiter von meinem Körper entfernen und die weit entlegenen Regionen ansteuern, in denen die klirrenden, höchsten Töne zu Hause sind?

Leben die Tasten etwa wie Tiere? Sitzen sie tagsüber in ihrem großen Gehäuse und rühren sich nicht, rächen sich aber beim Spielen dafür, dass man sie gefangen hält? Etwas an ihnen lässt mich immer wieder an kleine Tiere im Zoo denken, Tiere, die sich kaum bewegen, plötzlich aber losfauchen, wenn man ihnen versehentlich nahekommt. Die Besucher nehmen an, es sind Freunde, das aber sind sie ganz und gar nicht. Sie leben in erbitterter Feindschaft mit den Menschen, zeigen das aber nicht offen, sondern nur, wenn sie nicht beobachtet werden.

Respekt haben sie dagegen vor jenen, die sich tagaus, tagein mit ihnen beschäftigen. Diese Menschen lassen sie näher kommen, und von ihnen lassen sie sich sogar füttern. »Pfleger« nennt man sie oder »Dompteure«, ich habe diese Worte viele Male gehört – und obwohl es fremde und...

Erscheint lt. Verlag 13.5.2019
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20.Jahrhundert • Alice Miller • Autobiographie • Bach • Begabt • Begabung • bücher bestseller 2019 • Das Kind • das nicht fragte • Die Erfindung des Lebens • Genie • Geschenkbuch • Gould • hochintelligent • horowitz • insel taschenbuch 4812 • Intelligenztest • IQ • IT 4812 • IT4812 • Jarrett • Jugend • Kindheit • Klassik • Klavier • Konzerte • Lebensgeschichte • Musik • Musikmomente • Pianist • Rom • spiegel bestseller • SPIEGEL-Bestseller • spiegel bestsellerliste • Spiegel-Bestsellerliste • Spiegel Bestsellerliste aktuell • Traum • überdurchschnittlich • Virtuose
ISBN-10 3-458-76232-9 / 3458762329
ISBN-13 978-3-458-76232-4 / 9783458762324
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