Eine Frage der Zeit (eBook)

(Autor)

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2019 | 1. Auflage
304 Seiten
Carl Hanser Verlag München
978-3-446-26350-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eine Frage der Zeit -  Alex Capus
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Eine unglaubliche, doch wahre Geschichte: 1913 beauftragt Kaiser Wilhelm II. drei norddeutsche Werftarbeiter, ein Dampfschiff in seine Einzelteile zu zerlegen und am Tanganikasee südlich des Kilimandscharo wieder zusammenzusetzen. Der Monarch will damit seine imperialen Ansprüche unterstreichen. Zur gleichen Zeit beauftragt Churchill den exzentrischen, aber liebenswerten Oberstleutnant Spicer Simson, zwei Kanonenboote über Land durch halb Afrika an den Tanganikasee zu schleppen. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, liegen sich Deutsche und Briten an seinen Ufern gegenüber. Keiner will, aber jeder muss Krieg führen. Alle sind sie Gefangene der Zeit und jeder hat seine eigene Art, damit fertig zu werden.

Alex Capus, geboren 1961 in der Normandie, lebt heute in Olten. Er schreibt Romane, Kurzgeschichten und Reportagen. Bei Hanser erschienen Léon und Louise (Roman, 2011), Fast ein bisschen Frühling (Roman, 2012), Skidoo (Meine Reise durch die Geisterstädte des Wilden Westens, 2012), Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer (Roman, 2013), Mein Nachbar Urs (Geschichten aus der Kleinstadt, 2014), Seiltänzer (Hanser Box, 2015), Reisen im Licht der Sterne (Roman, 2015), Das Leben ist gut (Roman, 2016) und Königskinder (Roman, 2018).  

1  Nachts kamen die Flusspferde


Es ist ja nicht so, dass der Mensch sich in jedem Augenblick seines Lebens darüber Rechenschaft gibt, wie wichtig oder belanglos die Dinge sind, die er so treibt, während die Zeit vergeht. Jeder rührt seinen Teig, schleppt seinen Stein, striegelt sein Pferd. Man hat Zahnschmerzen und macht Pläne, isst Suppe und geht sonntags spazieren; und ehe man es sich versieht, ist eine Pyramide gebaut, eine Millionenstadt mit Brot versorgt, ein Zarenreich gestürzt. Große Taten, unsterbliche Werke — die vollbringt man nicht im Vollgefühl ihrer Bedeutsamkeit; man mag sich nicht unablässig selbst befragen. Sonntags vielleicht, und an Silvester. Aber doch nicht bei der Arbeit.

Schiffbaumeister Anton Rüter zerbrach sich gewiss nicht den Kopf über die historische Bedeutsamkeit des Augenblicks, als ihn die Fabriksirene der Papenburger Meyer Werft am 20. November 1913 kurz nach halb elf Uhr zur Schiffstaufe rief. Eine Pause war eine Pause. Es würde Ansprachen und Branntwein für alle geben, und dann Tabak in jenen langen, holländischen Tonpfeifen, die die Werft für solche Anlässe kistenweise auf Lager hielt. Er durchmaß mit sparsamen Schritten den Maschinenraum des nagelneuen Schiffes, schob vorsichtig am Dampfregler und lauschte dem Gleiten der Kolben, dem Summen der Räder und dem Zischen der Ventile. Während draußen die Kapelle des Papenburger Turnvereins «Heil dir im Siegerkranz» spielte, kontrollierte er die Spannung des Stromgenerators, warf einen Blick in die Feuerluken und vergewisserte sich, dass der Frischwasserhahn offen war. Er war stolz auf das Schiff. Die Götzen war sein Schiff — das größte und schönste Schiff, das je in Papenburg gebaut worden war. Rüter hatte sich das Schiff ausgedacht, er hatte die ersten Pläne gezeichnet und zehn Monate lang den Bau geleitet, und die wichtigsten und heikelsten Arbeiten hatte er eigenhändig ausgeführt. Seit der Kiellegung hatte er seine Tage im Gerippe des Schiffsrumpfs verbracht, und oft auch die Nächte; wenn er wach war, hatten seine Gedanken um das Schiff gekreist, und wenn er schlief, hatte er von ihm geträumt. Und jetzt war es fertig. Die Maschinen liefen rund, der Dampfdruck war stabil. Darüber, dass er das Schiff gleich nach der Taufe wieder in seine kleinsten Einzelteile zerlegen würde, grübelte Anton Rüter nicht nach. Das war nun mal seine Aufgabe, und technisch würde es keine Schwierigkeiten geben. Er wischte sich mit einem Lappen die Hände ab und stieg hinauf aufs Hauptdeck.

Die Götzen lag schwarzweißrot über die Toppen geflaggt, mit zischenden Dampfmaschinen, rauchendem Schornstein und frei in der Luft drehenden Schiffsschrauben auf der Helling und schien klar zum Stapellauf. Man hätte nur die Haltetrossen durchschlagen müssen, dann wäre sie über die Backbordseite von den Pallen heruntergerutscht, auf den ölgetränkten Holzbohlen der Ablauframpe in den Turmkanal geglitten und hätte — wie bei seitlichen Stapelläufen üblich — auf der ganzen Länge ihres Rumpfes eine mannshohe Flutwelle ausgelöst, die am gegenüberliegenden Ufer auf die Wiese geschwappt wäre unter Mitnahme des gesamten Fischbestandes, weshalb die Kinder des Städtchens mit großen Weidenkörben bereitgestanden wären, um die im Gras zappelnden Fische einzusammeln. Dann wäre das Schiff durch den Sielkanal in die nordwärts fließende Ems geglitten, über den Dollart an den ostfriesischen Inseln vorbei und hinaus auf die Nordsee, seiner Bestimmung entgegen.

Aber diesmal standen die Kinder nicht auf der Wiese, denn sie wussten seit Monaten, dass man die Götzen nicht zu Wasser lassen würde. Im ganzen Städtchen war bekannt, dass das Reichskolonialamt ein Schiff bestellt hatte, das sich auseinandernehmen und andernorts wieder zusammensetzen ließ, sozusagen im Baukastensystem; jedermann wusste, dass Anton Rüter die Götzen in fünftausend Holzkisten verpacken und tief im Innern Afrikas, südlich des Kilimandscharo und nahe bei den Nilquellen im sagenumwobenen Mondgebirge, wieder zusammenbauen würde. Während der ganzen Bauzeit war den Werftarbeitern klar gewesen, dass sie sich gleich nach der Taufe wieder über das Schiff hermachen würden wie die Termiten, und dass sie jede Schraube, die sie anzogen, bald wieder lösen, und jede Planke, die sie verlegten, wieder entfernen würden. Trotzdem hatte Rüter unzählige Male dazwischengehen müssen, weil einer aus handwerklichem Pflichtgefühl Fugen kalfaterte oder aus Gewohnheit die Platten dauerhaft nietete, statt sie provisorisch zu verschrauben.

Rüter warf einen letzten prüfenden Blick über die hölzernen Planken des Hauptdecks und hinauf zum rauchenden Schornstein, an dem fahl das messingne Steamrohr und die Dampfpfeife glänzten. Gleich würde der alte Meyer in Begleitung von drei Berliner Herren im Automobil vorfahren; das Kolonialamt hatte verlangt, das Schiff unter Dampf stehend inspizieren zu können, bevor es in seine Einzelteile zerlegt wurde. Unter dem Dröhnen der Fabriksirene strömten die Angestellten aus den rußgeschwärzten Backsteinbauten heraus zur Helling, aus der Gießerei, der Maschinenfabrik, der Kesselschmiede, der Kupferschmiede und der Tischlerei. Sogar die Buchhalter und die Sekretärinnen vom Bürogebäude eilten herbei und die Fuhrleute und die Pferdeknechte aus den Stallungen. Manche suchten zu viert oder fünft hinter einem Bretterstapel Schutz vor der eisigen Nordseebrise, andere lehnten an verwitterten Scheunenwänden oder machten es sich auf behelfsmäßigen Sitzbänken oder auf Holzkisten bequem. Sie schlugen die Kragen hoch und steckten sich Zigaretten an, bohrten die Fäuste in die Hosentaschen und beobachteten die Möwen, die unter niedrig grauem Himmel im Wind spielten.

Rüter stieg übers Fallreep hinunter auf das Kopfsteinpflaster. Er vergewisserte sich, dass alle Pallen sauber verkeilt und die Trossen gespannt waren, und in letzter Sekunde versteckte er noch rasch einen Besen, der am Rumpf der Götzen lehnte, hinter einem Bretterstapel. Pünktlich um halb elf Uhr beschrieb Meyers schwarze Benz-Limousine einen weiten Bogen über den Platz, bahnte sich einen Weg durch die versammelte Belegschaft und kam neben dem Fallreep zum Stillstand. Rüter erwog einen Augenblick, hinzuzueilen und die Beifahrertür aufzureißen, hinter der er seinen Dienstherrn ausgemacht hatte, beschloss dann aber, das Türenaufreißen dem Chauffeur zu überlassen und die Berliner Beamten, die in Zylinder, Frack und mit Gehstock aus dem Fonds des Wagens stiegen, in respektvollem, aber selbstbewusstem Abstand zu erwarten. Er beobachtete, wie die Herren die Götzen einer ersten Musterung unterzogen, und schloss aus ihren haltlos schweifenden Blicken, dass sie von Schiffbau keine Ahnung hatten. Er straffte die Schultern in der Erwartung, ihnen gleich vorgestellt zu werden; aber dann schritten sie an ihm vorbei, als wäre er ein Sägebock oder eine Zimmerpalme, und der Chef nickte ihm nur zu und tätschelte ihm im Vorbeigehen leichthin die Schulter. Rüter atmete aus, trat einen Schritt beiseite und beobachtete, wie die Männer das Fallreep hinaufstiegen. Kaum waren sie hinter der Reling verschwunden, gab die Götzen Laut. Erst dröhnte das Signalhorn zum Beweis, dass es funktionierte. Dann rasselten die Ankerketten, erhöhten die Dampfmaschinen fauchend und zischend den Dampfdruck, dass Rüter besorgt die Brauen hob. Die Lichter gingen an und aus, dann drehten sich die zwei Dampfladewinden und gehorchte das Ruderblatt am Heck den Befehlen der Dampfrudermaschine. Die Herren tauchten am Bug auf und warfen prüfende Blicke nach links und rechts, dann erschienen sie am Brückendeck, betätigten hier einen Hebel, kippten da einen Schalter und fuhren dort mit dem Finger über messingblitzende Armaturen, und dann beugten sie sich übers Heck, um einen Blick auf die sachte rotierenden, golden glänzenden Schiffsschrauben zu werfen.

Anton Rüter bewunderte die vornehme Gelassenheit, mit der Werfteigner Joseph Lambert Meyer seine Gäste dirigierte, und die aristokratisch zurückhaltende Vertraulichkeit, mit der er ihnen technische Auskünfte erteilte. Es war dieselbe befehlsgewohnte Sanftheit, mit der er auch seine Arbeiter führte, und gegen die sie alle wehrlos waren. Rüter kannte den alten Meyer länger als irgendeinen Menschen sonst auf der Welt. Im ersten Drittel seines Lebens war er Kind gewesen, die übrige Zeit Arbeiter in der Meyer Werft. Aufgewachsen als Waise bei einem Onkel, der draußen im Moor Torf stach, hatte er schon als Zehnjähriger während der Schulferien Geld verdient in der Meyerschen Tischlerei, in der Schmiede und in der Gießerei. Seither waren zwanzig Jahre vergangen, und Rüter hatte bei Meyer jedes Handwerk, das im Schiffbau zur Anwendung kam, gründlich gelernt. Zwar hatte er nur sechs Jahre die Grundschule besucht,...

Erscheint lt. Verlag 13.5.2019
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abenteuer • Absurdität des Krieges • Afrika • Dampfschiff • Deutsche Kolonie • Deutschland • Deutsch-Ostafrika • England • englische Kanonenboote • Erster Weltkrieg • Geschichte • Historischer Abenteuerroman • HMS Mimi • HMS Toutou • Imperialismus • Kaiserliche Kriegsmarine • Kaiserreich • Kigoma • Kolonialismus • Krieg • London • Papenburg an der Ems • Taganjikasee • zerlegtes Schiff
ISBN-10 3-446-26350-0 / 3446263500
ISBN-13 978-3-446-26350-5 / 9783446263505
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