Vivaldi und seine Töchter (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
288 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32020-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vivaldi und seine Töchter -  Peter Schneider
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Vivaldis unerhörte Geschichte. Zu Lebzeiten war er eine Berühmtheit, heute zählen seine Kompositionen zu den meistgespielten weltweit. In der Zwischenzeit aber war Antonio Vivaldis Werk bis zu seiner Wiederentdeckung vor 100 Jahren komplett vergessen. In diesem virtuosen Roman erzählt Peter Schneider die Geschichte des musikalischen Visionärs und begnadeten Lehrers. Peter Schneider begibt sich auf die Spur des geweihten Priesters und Musikers im barocken Venedig. Und was er dabei entdeckt, ist ein nahezu unbekanntes Werk des Maestros: Sein ganzes Leben lang hat der »prete rosso« an einem Waisenhaus gearbeitet und mit den musikalisch begabten Mädchen das erste Frauenorchester Europas gegründet. Für sie schrieb er einen großen Teil seiner Konzerte, mit ihnen brachte er sie zur Aufführung.Peter Schneider zeigt sich als umsichtiger Erzähler, der der Versuchung der Fiktion nie ganz erliegt, sondern immer wieder fragend bleibt und seine Recherche miterzählt. »Vivaldi und seine Töchter« porträtiert den Komponisten als Mann seiner Zeit, der sich gegen die Verdächtigungen der Kirche, aber auch gegen seine eigenen Versuchungen zu behaupten hat. Seine »amicizia« mit der jungen Sängerin Anna Girò wird zum Stein des Anstoßes und zur Quelle seiner Inspiration.

Peter Schneider, geboren 1940 in Lübeck, wuchs in Freiburg auf, wo er sein Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie aufnahm. Er schrieb Erzählungen, Romane, Drehbücher und Reportagen sowie Essays und Reden. Zu seinen wichtigsten Werken zählen »Lenz« (1973), »Der Mauerspringer« (1982), »Rebellion und Wahn« (2008), »Die Lieben meiner Mutter« (2013) und »Club der Unentwegten« (2017). Zuletzt erschien sein Roman »Vivaldi und seine Töchter« (2019). Seit 1985 unterrichtet Peter Schneider als Gastdozent an amerikanischen Universitäten, unter anderem in Stanford, Princeton, Harvard und an der Georgetown University in Washington D.C.

Peter Schneider, geboren 1940 in Lübeck, wuchs in Freiburg auf, wo er sein Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie aufnahm. Er schrieb Erzählungen, Romane, Drehbücher und Reportagen sowie Essays und Reden. Zu seinen wichtigsten Werken zählen »Lenz« (1973), »Der Mauerspringer« (1982), »Rebellion und Wahn« (2008), »Die Lieben meiner Mutter« (2013) und »Club der Unentwegten« (2017). Zuletzt erschien sein Roman »Vivaldi und seine Töchter« (2019). Seit 1985 unterrichtet Peter Schneider als Gastdozent an amerikanischen Universitäten, unter anderem in Stanford, Princeton, Harvard und an der Georgetown University in Washington D.C.

Inhaltsverzeichnis

15


Schon vor seinem Abschied von den Waisenmädchen hat Vivaldi sich nicht mehr mit den Aufgaben begnügt, die ihm die Pietà stellte. Er will eine andere Art von Beifall hören als das ergriffene Schneuzen eines vornehmen Publikums zwischen Kirchenwänden. Er will seine Fähigkeiten an den Opernhäusern ausprobieren, die wie Pilze aus den Pfählen der Lagunenstadt wachsen. Mit Dutzenden von Premieren pro Saison, mit rund siebzig Komponisten, die Jahr für Jahr um ihre Anteile an dem boomenden Markt streiten, ist Venedig zur Weltmetropole der Oper geworden. Die Opernhäuser ziehen auch ein armes Publikum ins Parkett, das für einen Stehplatz zwei Lire zahlt – ein Publikum, das lärmt, pfeift und furzt, vor Begeisterung oder aus Missfallen brüllt und die Stars mit Blumen oder faulen Eiern bewirft. Für die zahlungskräftigen bzw. adligen Kunden bleiben die Logen in den vier oder fünf Rängen über dem Parkett.

Vivaldis Coach bei diesem Sprung ist Giambattista, sein Vater. Niemand – auch nicht Antonio – weiß, wie Giambattista zur Priesterlaufbahn und den damit einhergehenden Verzichten steht. Er mag das zwölfjährige Kind im Stillen bedauert haben, als ihm anlässlich der Tonsur ein Loch in die roten Locken geschnitten wurde. Sicher hat er die gregorianischen Gesänge mit dem Jüngling geübt, als die nächste Etappe der Priesterlaufbahn anstand. Er wird den geweihten Priester in den Armen gehalten haben, wenn ihm der Weihrauch beim Lesen der Messe den Atem nahm. Wahrscheinlich hat er ihn auch ermutigt, die Soutane abzulegen, wenn er mit ihm zu einem Geigenbauer fuhr und den Preis für ein neues Instrument aushandelte. Aber nichts spricht dafür, dass er sich der von Camilla beaufsichtigten Priesterlaufbahn des Sohnes jemals ernsthaft entgegengestellt hat. Denn Camillas Gelübde und Rechnung sind aufgegangen. Ihr erstgeborener Sohn hat die Familie aus der Armut herausgeführt und verdient schon lange ein Vielfaches von dem, was Giambattista nach Hause bringt.

Sicher ist, dass der brillante Geiger Giambattista sein Talent an den Sohn nicht nur vererbt, sondern es zielstrebig gefördert hat. Er hat ihm alle Kunststücke mit dem Bogen und die Extravaganzen der linken Hand dicht vor dem Geigensteg beigebracht, vielleicht auch den Trick, die E-Saite während des Spiels auf den unteren Saiten höher zu stellen, um dann dicht am Steg Laute hervorzubringen, die man auf der Geige noch nie gehört hat. Bei Vivaldis ersten Schritten in die Welt der Oper kann Giambattista dem Sohn noch mit einer weiteren Kompetenz zu Hilfe kommen. Neben seiner festen Anstellung in der berühmten Capella Ducale von San Marco hat Giambattista längst auch Beziehungen zu den Akteuren der weltlichen Sphäre des venezianischen Musikbetriebs geknüpft. Sie alle suchen – sei es für private Hofkapellen, für musikalische Auftritte an den zahllosen Festtagen der feiersüchtigen Stadt oder für billige Combos in den Spielsalons – nach fähigen Musikern. Die sechs Opern der Stadt halten nach einem neuen Typus von Impresario Ausschau. Nach einem musikalischen Abenteurer, der alles kann: eine Opernproduktion leiten, Verträge abschließen, den Kartenverkauf organisieren und bitte – wenn er dazu fähig ist – auch noch eine erfolgreiche Oper komponieren.

Giambattista hat seit Jahren nebenbei mit einem Mann zusammengearbeitet, der einen guten Teil der genannten Fähigkeiten in sich vereinigt – außer dem Talent zur Komposition.

Francesco Santurini ist einer von den aufstrebenden Opern-Direktoren Venedigs – Manager und Investor in einer Person. Santurini ist Pächter des Teatro Sant’ Angelo, eines der kleineren Operntheater, das leider mit einer zu kurzen Drehbühne ausgestattet ist. Santurini konnte sie nicht erweitern, aber hat sie auf eigene Kosten mit leistungsstarken Lastenaufzügen modernisiert. Eine perfekte Bühnenmaschinerie ist für die Inszenierung von aufwendigen beweglichen Bühnenbildern das Wichtigste. Das Orchester und die Sänger mögen so kläglich sein, wie sie bei schlechter Bezahlung nun mal klingen, die Handlung der Oper mag so verworren und unverständlich bleiben wie meistens – es ist vor allem das Bühnenbild, das beim Publikum über Erfolg oder Niederlage entscheidet.

Über dem Parkett erheben sich vier Reihen von Logen, die – zusammen mit dem pepiano – einhundertdreiundsechzig Logen mit vier bis sechs Sitzplätzen ergeben. Ohne eine profitable Vermietung dieser Logen ist kein Theater lebensfähig. Die Logen werden für die halbjährige Karnevalszeit an eine Abonnement-Kundschaft aus den oberen Schichten per Logenschlüssel verkauft – an Patrizier, kirchliche Würdenträger und Administratoren der Stadt. Damit Santurini möglichst viele Logen vermieten kann, muss er sie allerdings selber vom Theaterbesitzer oder von Logeninhabern mieten, um sie dann mit einem hohen Aufschlag weiterzuverkaufen. Streitigkeiten über die Inhaber der Schlüssel zu den Logen und die freien Plätze darin sind vorprogrammiert und gehören zum Risiko des Impresarios.

Die Produktion einer Opernaufführung ist nichts für empfindsame Gemüter. Santurini ist ein Intendant, der seine Leidenschaft für die Oper mühelos mit den kriminellen Energien verbindet, die in der anarchischen Anfangszeit der neuen Musikform zum Handwerkszeug gehören. Schon zu Beginn seiner Tätigkeit als Impresario bekommt Santurini es mit dem Staatsanwalt zu tun. Da hatte er für eine Oper von Gasparini, Vivaldis Chef in der Pietà, ein paar Sängerinnen und Chormädchen aus Ferrara engagiert. Die Bezahlung fiel nicht zur Zufriedenheit der bereits angereisten jungen Damen aus – wahrscheinlich blieb sie weit unter dem zugesagten Honorar. Die Choristinnen aus Ferrara verweigerten ihren Dienst und kündigten an, sofort abzureisen. Aber die Karten für die Premiere waren bereits verkauft. Santurini brachte den streikenden Chor unter Androhung von Gewalt und mit dem Versprechen auf bessere Bezahlung dazu, zu singen. Eines der Mädchen, das nicht kompromissbereit war, ertrank im Kanal vor dem Teatro Sant’ Angelo. Nach diesem »Unfall« nahm die Premiere ungestört ihren Lauf. Die Anklage gegen Santurini wurde dank seiner guten Beziehungen zu den höheren Beamten der Stadt, die Abonnenten der Logen waren und die Premiere genossen hatten, niedergeschlagen.

Außer dem Publikum gab es nur einen Mann, dem Santurini Rechenschaft schuldete: dem Patrizier Benedetto Marcello, dem Besitzer des Theaters. Dank einer arrangierten Heirat von Benedettos Eltern, deren beider Familien Anteilseigner des Grundstücks waren, auf dem das Teatro Sant’ Angelo erbaut wurde, hatte Benedetto das Theater geerbt.

Bei der Entwicklung seiner vielseitigen Talente kann er aus vielerlei Quellen schöpfen. Als Sohn eines Advokaten hat er Jura studiert und bringt es zum Mitglied des Rates der Vierzig. Als Komponist und Theaterbesitzer kann er seine eigenen Bühnenwerke und die seiner Freunde im eigenen Haus zur Aufführung bringen und nebenbei noch Sinfonien und Kammerkonzerte schreiben. Und da er überdies eine elegante Feder führt, fließen ihm mühelos auch noch Sonette und bissige Urteile über den zeitgenössischen Opernbetrieb aus der Feder – insbesondere über einen gewissen Antonio Vivaldi, den er für maßlos überschätzt hält.

Benedetto Marcello wird nicht zugegen gewesen sein, als Vivaldis Vater seinen Sohn in Santurinis Büro vorstellte.

Natürlich hat Santurini bereits einiges über den prete rosso gehört. Allerdings ist er nicht darauf vorbereitet worden, dass der ihm sofort einen gewaltigen Stoß Notenblätter auf den Tisch legt. Mit geheucheltem Interesse blättert Santurini in der Partitur und wiegt sie in der Hand.

»Hilfe, so viele Noten! Was ist das? Eine Messe?«, fragt er.

»Meine neue Oper!«, erwidert Vivaldi.

»Eine Oper von Vivaldi? Man kennt Sie als den braven Priester, der ein paar Hurenkinder dazu gebracht hat, zum Lobe Gottes zu singen und zu musizieren. Respekt, Padre, der Dank des Himmels ist Ihnen gewiss. Aber unser Publikum will etwas anderes hören als Engelschöre und Gesänge zum Lobe der Heiligen Jungfrau! Es will sich amüsieren, will jubeln, weinen, Blitz und Donner, Stürme erleben. Kommen Sie!«

Er führt die beiden Vivaldis durch ein Gewirr von Treppen und Gängen auf die Bühne des Teatro Sant’ Angelo. Santurini breitet die Arme aus.

»Trauen Sie sich zu, diesen Raum zu füllen, Padre? Das Publikum, das hierherkommt, faltet nicht die Hände, es wirft mit faulem Obst um sich, es pfeift, es grölt, es schwatzt während der Rezitative, aber es lässt sich auch begeistern! Es hat Eintritt gezahlt und will etwas sehen für sein Geld! Liebe, Hass, Eifersucht, Verrat, Mord – große Leidenschaften, Padre, wissen Sie überhaupt, was das ist?«

Vivaldi blickt sich staunend um. Es ist eine Welt, die er nicht kennt, aber er lässt sich nicht einschüchtern.

»Ich liefere Ihnen etwas Besseres als das abgedroschene Zeug, das Ihnen Ihre Komponisten servieren! Eine Oper, wie sie noch kein Mensch gehört hat!«

Santurini sieht ihn spöttisch an und zieht aus seiner Tasche ein zerfleddertes Manuskript hervor, das er Giambattista reicht.

»Hier habe ich ein Libretto von Grazio Braccioli: L’Orlando finto pazzo (Orlando, der sich als Verrückter ausgibt). Ein Melodram über einen total Verrückten. Das müsste Ihrem Sohn eigentlich liegen. Es geht auf einen uralten Schinken von Ariosto zurück.«

Der Name sagt beiden Vivaldis nichts. Giambattista reicht das Libretto an seinen Sohn weiter, der sich sofort darin...

Erscheint lt. Verlag 7.11.2019
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Antonio Vivaldi • Barock • Club der Unentwegten • Klassische Musik • Künstlerbiografie • Künstlerroman • Oper • Venedig • Waisenmädchen • Wiederentdeckung
ISBN-10 3-462-32020-3 / 3462320203
ISBN-13 978-3-462-32020-6 / 9783462320206
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,1 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99