Das unnennbare Heute (eBook)

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2019 | 1. Auflage
200 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76110-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das unnennbare Heute -  Roberto Calasso
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Roberto Calassos Essay ist in drei Kapitel gegliedert. Das dritte, zwei Seiten lang, beschreibt einen Traum Baudelaires als Präfiguration der zusammenstürzenden Zwillingstürme (9/11). Das zweite, »Die Wiener Gasgesellschaft«, durchläuft die Jahre 1933 bis 1945. Es präsentiert Zitate deutscher und ausländischer Autoren, die damals ihre Eindrücke von Nazi-Deutschland festgehalten haben (Louis-Ferdinand Céline, André Gide, Simone Weil, Klaus Mann, Walter Benjamin, Carl Schmitt, Ernst Jünger, Arthur Koestler, Curzio Malaparte, Virginia Woolf, Samuel Beckett u. a.). Erläuternd führt der Autor durch ein Panoptikum, in dem Naivität immer mehr dem Entsetzen weicht. Es sind Blicke auf Deutschland außerhalb der Leitlinien deutscher Erinnerungskultur, Blicke der unmittelbaren Erfahrung.

»Touristen und Terroristen«, das theoretisch grundlegende erste Kapitel, nimmt gesellschaftskritische Motive aus Calassos letztem Buch Die Glut auf und spitzt sie zu. Gesellschaft überhaupt ist ein Gegner von metaphysischem Rang, nur metaphysische Waffen sind gegen ihn tauglich. Deren Arsenale jedoch hat die säkularisierte Gesellschaft geplündert. Sorge, in der Immanenz zu ersticken, prägt Das unnennbare Heute. Alles, was über die Gesellschaft hinaus auf ein Anderes, Jenseitiges wies, hat sie sich in pervertierter Form dienstbar gemacht: Ritus, Theologie, Metaphysik, selbst das Denken und die Sprache. Als ein Symptom dieser Situation, des »unnennbaren Heute« also, interpretiert Calasso den Terrorismus - den heutigen, insbesondere islamistischen, und den von früher. »Nichts ist wahr, alles ist erlaubt.«



<p>Roberto Calasso, geboren 1941 in Florenz, war Essayist, Kulturphilosoph und Verleger des Mail&auml;nder Verlages Adelphi Edizioni. Zuletzt erschien von ihm <em>Der Himmlische J&auml;ger </em>&ndash; als neunter Teil eines &raquo;work in progress&laquo;, das 1983 mit dem <em>Untergang von Kasch</em> begann. Es folgten <em>Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia, Ka, K., Das Rosa Tiepolos, Der Traum Baudelaires,</em> <em>Die Glut </em>und <em>Das unnennbare Heute</em>. Calasso starb im Juli 2021 in Mailand.</p>

Roberto Calasso, geboren 1941 in Florenz, promovierte bei Mario Praz, seit 1968 ist er Verleger des Adelphi Verlags, Mailand. Als Autor debütierte Calasso 1971 mit der Geheimen Geschichte des Senatspräsidenten Dr. Daniel Paul Schreber. Es folgten Der Untergang von Kasch, Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia, Ka und viele weitere Bücher, zuletzt Die Glut.

II
Die Wiener Gasgesellschaft


Es handelt sich nicht um Erinnerungen. Sondern um zwischen Anfang Januar 1933 und Mai 1945 niedergeschriebene, veröffentlichte, gesagte, mitgeteilte, aufgezeichnete Worte. Selbst gegen ihren Willen besteht zwischen allen eine Familienähnlichkeit. Alle Bilder aus jenen Jahren, gleich welcher Herkunft, strahlen etwas Hypnotisches aus. Es war die große Zeit von Schwarzweiß im Kino und im Leben. Als das Technicolor aufkam, war es wie eine Halluzination. Es war, als hätte die Zeit eine Spirale geformt, die immer enger wurde und sich am Ende wie eine Schlinge zuzog.

30. Januar 1933. Klaus Mann reist am frühen Morgen von Berlin ab, »wie von böser Ahnung fortgetrieben«. Leere Straßen. Schlafende Stadt. »Es wäre mein letzter Blick auf Berlin gewesen, der Abschied.« Aufenthalt in Leipzig. Am Bahnhof erscheint sein Freund Erich Ebermayer. Blass, beunruhigt. »›Was ist los?‹ fragte ich ihn. Er schien überrascht. ›Weißt du es nicht? Der alte Herr hat ihn ernannt, vor einer Stunde.‹ ›Der alte Herr? … Wen?‹ ›Hitler. Er ist Kanzler.‹«

Hitlerdeutschland erreichte Frankreich mit den Klängen eines schlecht funktionierenden Radios, das »entsetzlich knurrte und knarzte«. Wie auf Verabredung wurde es erst 1932 zu einer »gut organisierten Geißel«. Brasillach und seine Freunde hatten eingeschaltet: »Alles war bereit, damit wir am Abend über die deutschen Sender die außergewöhnliche Wahlkampagne des Nationalsozialismus hören konnten: Glockengeläute von allen Seiten, Trommeln und Geigen, Entfesselung aller Geister der Musik.«

Als Brasillach sechs Jahre später als Dreißigjähriger in Uniform seine Memoiren schrieb, kam das Jahr 1933 in einem fernen und zugleich aufdringlichen Licht zum Vorschein: »In der Reihe unserer Jugendjahre erscheint uns das Jahr 1933 gewiss nicht als das klarste. Es ist im Gegenteil verworren, die wesentlichen Stunden zeigen sich zwar leicht in unserer Erinnerung, sind aber bald blass, bald aufgedonnert, gespenstisch und krächzend wie der Rabe von Edgar Poe, der auf der Büste der Pallas Athene hockt. Es war tatsächlich das bedeutendste Jahr von allen und wir warteten darauf, ohne es zu wissen, seitdem wir hin und wieder um uns blickten, immer unserer persönlichen, erlebten, sanften und braven Geschichte folgend. Schließlich war es da, dunkel mit hellen Streifen, plötzlich lärmend, dann dumpf und gedämpft, doch kaum konnten wir es trennen von unseren Prognosen und Erwartungen, so sehr hing es noch damit zusammen, es war trotzdem das geheimnisvolle Jahr der Erfüllung und der Drohung.«

12. März 1933. Die Redaktion von »Voilà« hatte Simenon beauftragt, eine Reihe von Artikeln über einige europäische Länder zu schreiben. Sie sagten zu ihm: »Europa ist krank. Der Arzt beugt sich hinunter, nähert das Ohr dem Herz des Patienten: ›Sagen Sie 33.‹ Und der Patient wiederholt: ›33 … 33 … 33.‹«

Simenon beginnt mit Warschau, wo es schneit: »Der Schnee dämpft die Schritte und die Stimmen. Er hat ein friedliches Gesicht. Und doch ist da und dort jemand, der sich sorgt, der sich kaum wahrnehmbar aufregt, wie wenn …

Wie wenn man morgen, wenn der Schnee geschmolzen und die Erde wieder schwarz geworden und voller Gewimmel ist, sich in Richtung von aufs Neue sichtbaren Grenzen stürzen müsste.

Das geht mich nichts an. Ich bin mit einem viel bescheideneren Ziel losgefahren, nämlich das Angesicht des heutigen Europa zu sehen. Es gab ein Europa vor 1914, dann ein Europa, das von Schützengräben durchzogen war, und zuletzt ein Nachkriegseuropa.

Gibt es nicht noch ein anderes Europa: das Europa von 1933, das unter dem Schneee schlummert und wie ein Schlafender in unbequemer Lage manchmal plötzlich hochfährt, so dass wir erschrecken?«

20. März 1933. Benjamin erzählt Scholem, der letzte Anstoß, Deutschland zu verlassen, sei für ihn gewesen »die fast mathematische Gleichzeitigkeit, mit der von allen überhaupt in Frage kommenden Stellen Manuscripte zurückgereicht, schwebende, beziehungsweise abschlußreife Verhandlungen abgebrochen, Anfragen unbeantwortet gelassen wurden«. Deutschland ist ein Land geworden, »in dem man den Leuten eher auf die Revers und danach meist am liebsten schon gar nicht mehr in die Gesichter sieht«.

29. April 1933. Gelangweilt von den Korrekturen ihres Flush (»dieses dumme Buch«) schreibt sich Virginia Woolf auf, wie Bruno Walter auf sie gewirkt hat, den sie gerade kennengelernt hatte: »Er ist ein dunkelhäutiger, dicklicher Mann; überhaupt nicht geistreich. Nichts von einem ›großen Dirigenten‹. Er ist ein kleiner Slawe, ein bißchen semitisch. Nahe am Wahnsinn, das heißt, er kann ›das Gift‹ Hitler, wie er es nannte, nicht aus sich ausstoßen. ›Sie brauchen nicht an die Juden zu denken‹, sagte er immer wieder, ›Sie brauchen sich nur dieses entsetzliche Regime der Intoleranz vorzustellen. Sie müssen an den Zustand der ganzen Welt denken. Es ist schrecklich – schrecklich. Daß eine solche Gemeinheit, eine solche Erbärmlichkeit möglich sein sollte! Unser Deutschland – das ich geliebt habe – mit unserer Tradition, unserer Kultur – Wir sind jetzt ein Schandfleck.‹ Dann erzählte er uns, dass man nur im Flüsterton sprechen kann. Überall gibt es Spitzel. Er saß in Leipzig einen ganzen Tag lang am Fenster seines Hotels und telefonierte. Die ganze Zeit über marschierten Soldaten vorbei. Es wird immer marschiert. Und im Rundfunk hören sie zwischen den Sendungen Militärmusik.« Virginia Woolf fügt hinzu: »Durch seine Intensität – seine Genialität  – muss er alles durchleben, was er empfindet.«

Frühjahr 1933. Erika Irrgang, Cillie Ambor, Anny Angel, Annie Reich: die Konstellation der mitteleuropäischen Freundinnen Célines. Der sie liebevoll als Beschützer behandelte. Hin und wieder machte er ihnen einen Besuch, wobei er versuchte, sie in ihrem Leben so wenig wie möglich zu stören. Manchmal versuchte er, aus der Ferne den Verkehr mit den anderen Liebhabern zu steuern. Verschwenderisch erteilte er ihnen Ratschläge, damit sie nicht schwanger wurden. Als beste Lösung empfahl er Analverkehr. Cillie war Jüdin, und Céline machte sich Sorgen um sie: »Ich frage mich, ob Sie in Wien in Sicherheit sind, ob das Hitlertum nicht auch Österreich überfällt.« Und wenige Tage später: »Es freut mich sehr, Sie im Augenblick in Sicherheit zu wissen, aber die folie Hitler wird Europa noch einige Jahrhunderte lang beherrschen. Da wird Herr Freud auch nichts machen können.«

8. Mai 1933. Martin du Gard begegnet Montherlant, der gerade mit dem Schiff aus Algerien gekommen ist, angeekelt von den Veteranen, mit denen er an Bord zusammengestoßen war. Sie kamen mit ihren Frauen von einem Kongress und wollten um keinen Preis ihre Zeche an der Bar bezahlen. Das Thema der Unterhaltung ist der Aufstieg der Nationalsozialisten: »Ich habe mich nach diesem Krieg immer geweigert nach Deutschland zu gehen, sagt Montherlant, und doch war ich überzeugt, dass das neue Leben …, ja das Leben dort war. Heute will ich nicht hin, weil es mir, in diesem Moment, zu gut gefiele.«

Mai 1933. Céline schreibt an Eugène Dabit: »Es liegt irgendetwas Hysterisches und Drängendes in der Luft … Eine Häutung. – Ein Schiff, das sich entfernt. Wir bewegen uns auf die Gewalt zu. Sie ist schon sehr nah.« Der Horror, der sich abzeichnete, der neue Horror, war nicht nur das Totalitäre – ein euphemistischer Ausdruck, eine provisorische Abgrenzung. Der Horror war nicht nur eine bestimmte Gesellschaftsform, sondern die Gesellschaft schlechthin, die man schlussendlich unter jeder Gestalt als unabhängig, souverän, alles verschlingend erkannte. Hitler und Stalin würde man eines Tages loswerden, nicht aber die Gesellschaft. Céline, der nicht dachte, sondern intuitiv erfasste, und das eben Erfasste sogleich wieder verdunkelte, schrieb an Élie Faure: »Wir sind alle absolut abhängig von unserer Gesellschaft. Sie ist es, die unser Schicksal entscheidet.« Dies eine Mal hatte er (im Französischen nicht üblich) Gesellschaft groß geschrieben.

22. Mai 1933. Joseph Roth tobt, er stachelt seinen Freund Stefan Zweig an, den »noblen« Insel Verlag zu verlassen. (»Ich habe den Eindruck, Sie überschätzen die moralischen Qualitäten des Insel Verlags.«) Der Verleger Anton Kippenberg hatte...

Erscheint lt. Verlag 9.4.2019
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1933-1945 • Analog • analoges Prinzip • Bewusstsein • das analoge im Gegensatz zum digitalen Prinzip • digital • digitales Prinzip • Essay • Gegenwart als Zeitalter der Inkonsistenz • Informatik • Informatik-Zeitalter • Inkonsistenz • Intelligenz • Terroristen • Touristen • Touristen und Terroristen als Leitfiguren der Gegenwart • Zeitkritisch • zeitkritischer Essay
ISBN-10 3-518-76110-2 / 3518761102
ISBN-13 978-3-518-76110-6 / 9783518761106
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