Lyophilia (eBook)

(Autor)

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2019 | 1. Auflage
463 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76111-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Lyophilia -  Ann Cotten
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Ann Cotten ist erwachsen geworden, was uns ein Stück weit in die Zukunft katapultiert. Sie behauptet, nur mehr konstruktiv am Funktionieren eines vernünftigen Lebens für möglichst alle interessiert zu sein. Ganz der menschenfreundliche Roboter, quasi. Aber ihre seltsam labyrinthische, allzu respektvolle Art, mit Problemen umzugehen, zeugt noch von den Erfahrungen, die sie als junge Lyrikerin sammeln konnte.

In Proteus wird der ewigjugendliche Protagonist zusammen mit seiner Geliebten, einer slowenischen Erfolgspolitikerin mit zwei Kindern, in ein Paralleluniversum exportiert, in dem jede Überlegung Realität wird.

Indessen halten sich die alternden Bewohnernnnie des kurz nach Eröffnung bankrott erklärten Siedlungsasteroiden Amore (KAFUN) an Klischees und Running Gags fest, um einen Halt gegen die Trauer zu finden, die eine größere Gefahr darstellt als Internetlosigkeit, kosmische Strahlung und humanitäre Instantnudeln zusammen. Eine antigoneische Mission rettet die Helden vor der Versumpfung im eigenen Überleben.

Eine Sammlung von Erzählungen wie ein Schuss ins Knie. Was Ann Cotten die letzten Jahre etwas hochstaplerisch als »Science Fiction auf Hegelbasis« angekündigt hat, ist jetzt gekommen. Lyophilia erinnert an Tarkowskijs Special Effects: eine Formulierung, vor eine Wirklichkeit gehalten, und plötzlich wird präzise, was sonst in der Form eines dumpfen Ahnens herumvegetiert. Und wo der mögliche Realismus aufhört, fließt heiß und pochend Emotion heraus.



Ann Cotten wurde 1982 in Iowa geboren und wuchs in Wien auf. Ihre literarische Arbeit wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Hugo-Ball-Preis 2017 und dem Gert-Jonke-Preis 2021. Sie lebt in Wien und Berlin.

Ann Cotten wurde 1982 in Iowa geboren und wuchs in Wien auf. Bei Suhrkamp erschienen von ihr bislang Fremdwörterbuchsonette (2007), Florida-Räume (2011) und Der schaudernde Fächer (2013) und Verbannt! (2016). Ihre literarische Arbeit wird nicht nur in der Literaturszene, sondern auch in den Bereichen der Bildenden Kunst und der Theorie geschätzt und wurde zuletzt mit dem Klopstock-Preis und dem Hugo-Ball-Preis ausgezeichnet. Sie lebt in Wien und Berlin.

NEPOMUK


An einem Abend im Oktober, als die rostenden Weinberge in einem wogenden Nebel standen, der die Horizontchen des Kahlenbergs wie Hochgebirge wirken ließ, ging ich denselben hinauf und an der Kimme entlang. An den Ausschänken, die ungefähr seit der Neugestaltung des Gipfels links und rechts des Eichelhofwegs sprießen, wurden die Tische schon nass im Niederschlag der wütenden Temperaturdifferenz am Abend. Schlichter: Tau fiel, das Licht war im Abgang.

Ich kam bald an die Stelle, wo hinter einem mit Warnschildern gespickten Tor (auch eine Pistole ist abgebildet) immer böse Hunde bellen, an die Schwelle zum dichten Laubwald der Gegend um den Gipfel. Den Hunden rief ich keck zu, »Hoitz zamm!«, ohne, natürlich, eine Wirkung abzuwarten und in falscher Einzahl – ich merkte, da stimmt etwas nicht, und hatte Zeit, dem nachzusinnen, bis ich draufkam. »Hoitzes zamm!«, hätte es heißen müssen. Den Worten folgte ein mulmiges Gefühl, als wäre ich vor der angedrohten Gewalt nicht so sicher, wie ich mich wähnte. Schließlich konnte man ja von innen, zumal in der Dämmerung, das Tor leicht aufmachen.

Ich ging zügig durch den schmalen Tunnel aus Laub, in den links zwischen den Ästen die Landschaft hereinblinkte; eine Brise riss Blätter und Tropfen von den Ästen über mir; ich sah schon die Stiege zur breiteren Gipfelzufahrt, da stand plötzlich ein Mann in Weiß vor mir: eben dort am Kopf der Stiege, wo sie auf die Asphaltstraße mündete. Ein heller Fleck in der Pixelierung der Stunde, der nicht deutlicher wurde, wenn man die Augen darauf scharfzustellen versuchte. Normal für diese Lichtverhältnisse. Waluliso fiel mir ein, ich dachte an den Mann, der jahrzehntelang in Römerkleidern mit einem Efeukranz auf dem Kopf durch die Wiener Innenstadt wandelte und für Frieden warb. Oder eine dieser lebenden Statuen für Touristen, verirrt? Auf jeden Fall stand ein Verrückter am Kopf der Treppe. Ich war kurz zusammengeschreckt und hatte den Schritt zurückgehalten, doch jetzt hatte ich Vorsicht walten lassen, wie ich konnte – lästig, verunsichernd und nutzlos die mangels anderer Kriterien geschmäcklerische Erwägung einer Ängstlichkeit –, und ging weiter, gemäß meinem Prinzip, in jeder Situation, komme, was wolle, zu schauen, was passiert.

Es war der heilige Nepomuk. Die Statue, die ich ja kannte, gegenüber der Wegmündung, war offenbar frisch angestrichen worden oder trat schlicht in der Dämmerung so hervor, dass der Mann lebendig erschien. Auf diesen Steinfiguren aus dem 18. Jahrhundert sind meist mehrschichtige Roben von einem katholischen, anmutig drehenden Wind oder der Drehung des Heiligen, die diesen Wind erzeugt, erfasst. Das erzeugt leicht den Eindruck von Belebtheit.

Ich meine, es wäre passend, die Ursache des Effekts Wind zu nennen, weil ich denselben Wind am Windgott im Tempel der 33 Zwischenräume in Kyoto gesehen habe und auch an anderen Dämonenstatuen. Außerdem habe ich gehört, dass die antiken Wörter für Seele oder Leben von Windhauch (ἄνεμος, animum) oder dem Blasen auf etwas, um es zu kühlen oder wärmen (psyche), stammen. Bei (iki) ist es so ähnlich. Natürlich ging ich, ohne zu halten, in Gedanken weiter.

Oben am Gipfel des Kahlenbergs, den sie vor einigen Jahren neu gestaltet haben, weswegen ich kaum mehr ganz hinaufgehe, bemerkte ich, dass sich unterhalb der öffentlichen Aussichtsterrasse noch eine zweite befand. Sie gehörte zum Hotel oder Lokal, einer Ausbildungsstätte für angehende Gastronomen. Heute war alles goldgelb beleuchtet, der Balkon mit Stehtischen und Aschenbechern versehen, es schien ein größeres Fest stattzufinden. Von oben sah ich auf drei Menschen im Abendgewand beim Rauchen. Ein unauffälliger Businessmann mit Kurzhaarschnitt und ein mitteljunger Mann mit rotblondem Pferdeschwanz sprachen mit einer Frau, deren Brüste gegen ein rotes Cocktailkleid drückten und die sich sehr wohlzufühlen schien, während sie über Zigaretten scherzte, soweit ich die Fetzen verstand. Sie sprachen Ukrainisch, und das zog mich an, aber mein Schülereifer reichte wie meistens nur dazu, mich zurm Voyeurni zu machen. Schließlich hört jede fließende Konversation auf, sobald dier Schülerni zu nahe tritt. Manchmal fühle ich mich dann wie so eine Statue aus einem vergangenen Jahrhundert, wie ein noch nicht bemerkter steinerner Gast – was die Hemmung zu sprechen noch ein bisschen erhöht.

Der Balkon war wie eine halb aufgegangene Lade, aus ihr strahlte es wie vergessene Uranproben in die düstere, neblige Landschaft. Gern wäre ich dabeigestanden, wie sonst oft am Rand von Partys an hoch gelegenen Orten, wo die Wärme von der Buffetversorgung die Kälte von draußen anrührt. Doch jetzt wandte ich mich rasch und stolz um und machte mich auf den Rückweg, warum auch immer. War es, dass ich mir Geschäftigkeit anzugewöhnen versuchte und wusste, wer sich nach dekadenten Partys sehnt, wird nie auf sie gelangen, war es nur der Einfall einer Art zu sein, dem ich einen Augenblick folgte, als wäre er ein Blick in eine enge Gasse im Vorbeigehen. Beim Eingang zum Hotel hing eine Reihe blauer und gelber Luftballons.

Diese Euro-Ukrainer! Ein Moralist schimpfte in mir, während ich voll Gusto wieder in die feuchte, kühle Dunkelheit spazierte, gegen die Reichen, die diesen Sommer unter anderem auch mit einem Kreuzschiff an der Wiener Marina angekommen waren, wie ich beim Radfahren beobachtet hatte, auf dem ein Schweizer Name mit einem ukrainischen Namen übermalt worden war. Mein Moralist war der Meinung, es sei besonders dekadent, sich, während der Krieg im eigenen Land tobe, fern von diesem aufzuhalten und es sich gutgehen zu lassen. Mein Moralist vergisst, dass es, wenn jeder sich selbst definieren darf, keine Reichen gibt, weil kaum jemand der Meinung ist, reich zu sein. Alle diese Kreuzfahrer sind bloß am Überleben. Sobald man den Lebensstandard hat, gehört er zur Identität und zur Normalität. Außerdem fiel mir gar nicht ein, dass es, den Luftballons zufolge, vielleicht gar keine Ukrainer waren, sondern Neoliberale.

Hinter meine irrelevante Kritik an den Ukrainern setzte ich einen Schlusspunkt, indem ich im Vorbeigehen den heiligen Nepomuk bat – ich siezte ihn und verwendete ansonsten eine leise Alltagsstimme –, wenn er sich schon nicht zu schade gewesen sei, mir lebendig zu erscheinen, so möge er bei Gelegenheit dort oben am Balkon auftauchen und die Ukrainer daran erinnern, was sie aus ihrer jeweiligen Lage heraus tun könnten, um sich dem Vorwurf des Eskapismus zu entziehen. Ich wollte ihn wohl von mir ablenken, überzeugt, dass ich bereits verstört genug durch die Gegend ginge. Es fiel mir komischerweise nicht ein, ihn zu fragen, was für Handlungsmöglichkeiten denn, ganz im Allgemeinen, mir selbst zur Verfügung standen. Kann sein, das Handeln war etwas, was mir in Bezug auf mich selbst gar nicht in den Sinn kam. Ich bin doch Schriftstellerin. Ich mische mich ohnehin schon zu viel in Sachen ein, die mich nichts angehen.

Der heilige Nepomuk ist ja der Heilige der Politik, könnte man sagen (deswegen ja auch weiß). Er ist auch der Heilige der Verschwiegenheit und des geraden Rückgrats als Juristni. Quasi dier gute Politikerni. Als verbreiteter Staatsheiliger des barocken und spätbarocken Habsburgerreichs steht er zugleich als spanische Wand vor den Schweinereien eines kirchlich hinterbauten Weltreichs und als Galionsfigur für dessen Möglichkeiten bei der Einführung neuer, unbequemer bis grausamer Gerechtigkeiten. Er ist zugleich auf den populären Schlammwegen aller Provinzen der Heilige der Brücken, weil er in Prag von einer in die Moldau geschmissen wurde. Das ist eben das Unvergleichliche an den Heiligen, dass sie das Dumme und das Wahre, das Starke und das Spitzfindige zu einer skarabäischen Lehmsphäre zusammenkneten (lassen), gewissermaßen, mit der man gemäß der Ballistik verfahren kann, dort, wo Treffen und Verschleudern knapp nebeneinanderliegen.

Zwanzig Jahre später sitze ich an einem Tisch mit anderen älteren – also gleichaltrigen – Geschäftsleuten aus der Hotelbranche am Ende eines Empfangs der Brancheninnung in Czernowitz. Ich hatte damals die Literatur, die mir immer zäher aus der Feder tropfte, endlich aufgegeben und ein altes Kurhotel in den Karpaten gekauft. Ich habe mich, neben den japanischen Sprachseminaren, auf feinsinnige, extravagante Hochzeitsfeiern spezialisiert, weswegen ich auch viel ukrainische Kundschaft habe und eben gelegentlich ...

Erscheint lt. Verlag 9.4.2019
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amore • Anekdoten • Avantgarde • Dialektik • Dystopie • Erzählungen • Familie • Gesellschaft • Grottenolm • Hegel • Himmel • intergalaktisch • Kosmos • Kurzgeschichten • Landnahme • Liebe • Literatur • Musik • Nepomuk • Paralleluniversum • Phantastische Literatur • Philosophie • Politik • Posie • Prosa • Proteus • Putztrupp • Schreiben • Schreibgruppe • Science Fiction • Sex • Slovenien • Trauer • Universum • Utopie • verbannt • Weltkraumkolonie • Weltraum • Wiedergeburt • Wien • Zeitreise • Zukunft
ISBN-10 3-518-76111-0 / 3518761110
ISBN-13 978-3-518-76111-3 / 9783518761113
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