Du musst verrückt sein, wenn du trotzdem glücklich bist (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
208 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-22062-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Du musst verrückt sein, wenn du trotzdem glücklich bist -  Kopano Matlwa
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Was heißt es, im gegenwärtigen Südafrika eine junge Frau zu sein? Masechaba, früher ein wildes, rebellisches Mädchen, ist heute Assistenzärztin mitten in Johannesburg. Der Klinikalltag ist bestimmt vom unterversorgten Gesundheitssystem. Rassismus, Religiosität und Tradition treffen täglich auf die Gegenwart der jungen »Born Free«-Generation Südafrikas. Obwohl Masechaba leidet und tiefen Schmerz in sich trägt, die »Bestie«, die alles verdunkelt, passt sie sich dem Alltag mit aller Kraft an. Doch eine Frage bleibt: Wofür lohnt es sich zu kämpfen? Für ein gerechteres System? Für ihre beste Freundin, die intelligente Nyasha aus Simbabwe? Für sich selbst und das eigene Glück?

Kopano Matlwa, geboren 1985, ist Ärztin, Schriftstellerin und Mutter. Sie eroberte die südafrikanische Literaturwelt im Sturm, wurde für ihren ersten Roman mit dem European Union Literary Award ausgezeichnet und ist Mitgewinnerin des Wole-Soyinka-Preises für Literatur in Afrika war. Matlwa schreibt derzeit ihre Doktorarbeit an der Universität Oxford als Rhodes-Stipendiatin.

Früher haben Tshiamo und ich immer »Krankenhaus« gespielt. Er fand das Spiel blöd, wusste aber, wie viel Spaß ich daran hatte, also machte er mit. Allerdings nicht immer, nicht an seinen trüben Tagen. Er war ja schließlich kein Heiliger. Manchmal musste ich stundenlang betteln und ihm versprechen, ihn für den Rest des Tages in Ruhe zu lassen, wenn er nur ein ganz kleines bisschen mit mir spielte. Ich meinte auch wirklich nur ein ganz kleines bisschen. Es war ja schon alles vorbereitet, die Patienten lagen auf dem OP-Tisch, meine Hände und Arme waren desinfiziert, die Narkosemittel angeschlossen und etikettiert, die Instrumente lagen bereit. Ich brauchte nur noch einen OP-Pfleger, der mir assistierte.

Tshiamo warf mir immer angewiderte Blicke zu, wenn er in mein Zimmer kam, wo lauter Teddy­bären mit aufgeschlitzten Kehlen herumlagen, aus denen die gelbe Schaumstofffüllung quoll. Ich lächelte und sagte, er brauche keine Angst zu haben, ich würde sie alle retten. Und das tat ich auch. Ich rettete sie jedes Mal.

· · ·

Von Zellen hörte ich das erste Mal in Biologie, in der zehnten Klasse, das weiß ich noch. Mrs McCartney beschrieb sie uns als winzige Fabriken in unserem Körper – oder nein, als Städte mit unzähligen Fabriken darin. Sie meinte, es gebe Milliarden davon, alle ganz eng zusammengepackt. Ich versuchte, sie mir vorzustellen, mir diese ganze Aktivität in mir auszumalen. Ich weiß noch, dass mir klar wurde, wie viel ich noch zu lernen hatte, und dass ich mich fragte, ob ich die Funktionsweisen des menschlichen Körpers überhaupt jemals ganz begreifen würde.

Ma meinte, ich machte mir zu viele Sorgen. Sie erinnerte mich daran, dass ich in der ersten Klasse befürchtet hätte, ich würde niemals lesen lernen. Als sie das sagte, musste ich lachen. Trotzdem staune ich immer noch, wie wir dazu kommen, uns erst Äpfel und Kätzchen auf großen bunten Bildern anzuschauen, danach die Bezeichnungen für die Blutgefäße des Herzens auswendig zu lernen und schließlich einen Zentralvenenkatheter durch den Hals einer Patientin einzuführen. Wahrscheinlich macht uns diese Fähigkeit, die wir alle haben – erst die Straßenschilder und Kreisverkehre in einem Lehrbuch für Führerscheinanwärter zu studieren und dann auf der Schnellstraße Lastwagen zu überholen –, auch ein bisschen leichtsinnig, wenn es um die Einschätzung geht, was wir sonst noch alles erreichen können.

Inzwischen ist mir klar, dass bei mir auch eine Menge Glück im Spiel war, um mich an diesen Punkt zu bringen, vielleicht auch eine Menge unsichtbarer Bemühungen meiner Umgebung. Die ­Bücher zur Prüfungsvorbereitung zum Beispiel, die sich nach und nach in meinem Zimmer stapelten, und der Förderunterricht, den Ma mir von Papa bezahlen ließ. Aber als ich die grünen Erbsen aus dem Hals von Bett A3 kommen sah, da wusste ich gleich, dass meine Glückssträhne zu Ende war.

Dr. Voel-Vfamba meinte, nur so würden wir lernen, und sie wäre ohnehin gestorben, ich solle mir keinen Kopf deswegen machen.

· · ·

Patienten sterben ständig. Kein Mensch erwartet von uns, dass wir immer alle retten. Wir tun, was wir können. Und was will man auch erwarten, bei unserem maroden Gesundheitssystem, dem Personalmangel, den gesellschaftlichen Herausforderungen? Wir tun, was wir können. Dieses Mantra singe ich mir immer wieder vor, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Ich singe es anderen vor und sie es mir.

»Wir tun, was wir können.«

»Wir tun, was wir können.«

Sie kommen ohnehin erst so spät ins Krankenhaus, was soll man da noch machen? Unverantwortlich sind sie, viele zumindest. Eigentlich wissen sie es doch besser, aber unser Volk weigert sich eben, Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen. Und dann war es wieder die Regierung, der Bezirk, der Minister, der Präsident.

»Wir tun, was wir können.«

»Wir tun, was wir können.«

Immer wieder und wieder singe ich die Worte, repetiere die Rede, manchmal still, manchmal wütend. Aber wenn die (verantwortungslose?) Mutter des (jetzt toten) Babys den Gang entlangrennt, verfolgt vom Wachpersonal, während Schwester Agnes schon die Valiumspritze aufzieht und die anderen Patienten mit offenem Mund vom Bett aus zusehen, und man hat Dienst, es ist die eigene Schicht, die eigene Patientin, der eigene Vorfall, ein weiterer Todesfall unter der eigenen Aufsicht, dann nützt dieses Mantra gar nichts. Der Gini-Koeffizient, die schrumpfende Wirtschaft, das Erbe der Apartheid, die nicht erreichten Millenniumentwicklungsziele und die Einschränkungen auf personeller Ebene – lauter treulose Freunde, die einen im Stich und mit dem eigenen Gewissen allein lassen. Seine Patienten tötet man allein. Man tötet sie ganz allein.

· · ·

Manchmal dreht man noch mal um, wenn man schon im Auto sitzt, ruft noch einmal im Referenzkrankenhaus an. Vielleicht kann man für Bett A3 ja doch noch einen Platz auf der Intensivstation organisieren, wenn man noch einmal anruft. Manchmal hat man auf dem Heimweg noch die Blutspendenbeutel in der Tasche, die man unterwegs in der Notaufnahme abgeben wollte. Manchmal lässt man sich von jemandem nach Hause fahren, weil man nicht mehr daran denkt, dass man morgens selbst mit dem Auto gekommen ist.

· · ·

In den Nächten lernt man viel: Wenn man beim Pinkeln heult und den Kopf dabei zwischen die Knie hängen lässt, dann sammeln sich die Tränen in den Wimpern, so dass man auf dem Weg zurück zur ­Station keine Schlieren im Gesicht, sondern Sterne vor den Augen hat.

· · ·

Es gibt auch viel Gutes. Die Anerkennung zum Beispiel. Die ist immer gut. Und dann die Momente, wenn die Leute einem irgendwas Medizinisches erklären wollen, im Zentrum für Reisemedizin zum Beispiel, und dann vor Verlegenheit ganz rot werden, wenn sie nach der Karteikarte mit den Patienteninformationen greifen und den Doktortitel neben dem Namen sehen. Das ist alles gut. Briefe sind ­jedes Mal schön. Auch die E-Mail-Signatur ist schön, das alles ist gut. Aber vieles ist auch schlimm. Zum Beispiel, wenn sich die Zunge im Mund verdreht und der Kopf sich immer weiter biegt und biegt und biegt, bis man brüllen will, sich aber bei jedem Versuch alles nur noch mehr verkrampft. Das ist beschissen. Und dass man jeden Tag wieder hinmuss. Das ist echt richtig beschissen.

Ich erzähle Ma von den vielen entsetzlichen Dingen, die unser Volk Tag für Tag durchstehen muss und von denen kein Mensch berichtet. Ich sage ihr, jemand müsste sie auflisten, all die schlimmen Dinge, die ihnen, mir, uns geschehen. Jemand müsste sie aufschreiben.

Ma meint, ich müsse die Patienten in der Klinik lassen. Ich müsse herausfinden, wo sie der Schuh drückt, dürfe ihn mir dann aber nicht selbst anziehen. Also lasse ich sie dort, zwischen den besudelten Laken und dem Sandwich, das für den Moment bereitliegt, wenn doch einmal der Appetit zurückkehrt, zwischen den kotverklebten Toiletten und dem Seifenspender, der nur ein einziges Mal funktioniert hat, an dem Tag, als der Minister zu Besuch kam. Aber ich kann nicht herausfinden, wo die Patienten der Schuh drückt. Sie haben keine Schuhe, Ma. Wie soll ich herausfinden, wo der Schuh sie wirklich drückt, wenn sie gar keine Schuhe haben?

· · ·

Die Leute aus dem Bibelkreis raten mir, für die Patienten zu Jesus zu beten. Sie fragen mich nach den Namen. Die wollen sie dann an die ganze Kirchengemeinde mailen, damit die Gläubigen für sie beten können. Sie fragen und fragen und fragen. »Wie heißen sie?«, wollen sie wissen. »Wir beten für sie zu Jesus.« Namen? Wie blöd sind die Leute eigentlich? Wie soll ich mir denn bitte schön die Namen von mehreren Hundert Menschen merken, die auf eine für ein paar Dutzend Patienten konzipierte ­Station gepfercht sind? Wie soll ich bitte schön in diesem Meer aus sterbenden Armen und zerschundenen, an zerschundene Betten gefesselten Körpern noch Individuen ausmachen?

Und außerdem würde Jesus das doch gar nicht verstehen. Jesus hat nie bei irgendwas versagt. Er hat nie etwas falsch gemacht. Das ist der grund­legende Unterschied. Wir werden uns immer von Gottes Sohn unterscheiden, weil wir mit dem Versagen leben müssen. Weil wir mit der Schande leben müssen, nicht besser, nicht mutig, nicht großartig zu sein.

· · ·

Vor alldem hat uns Professor Siyatula mit keinem Wort gewarnt. Mit keinem Wort hat er, der einzige Schwarze Facharzt in einer weißen Institution, uns bei diesen eindrucksvollen Visiten, als wir hinter ihm herliefen, an seinen Lippen hingen und seinen Kittelsaum umklammert hielten, vor dem Leid, der Hilflosigkeit, der Angst, dem Abscheu gewarnt, die uns erwarteten. Es gab keinen Hinweis, keine Anspielung darauf, wie schlimm es tatsächlich sein würde. Wir waren schließlich Ärzte, mos. Gut bezahlt, gut betucht. Was sollte es geben, womit wir nicht zurechtkämen?

· · ·

Helden gibt es. Die mit dem federnden Schritt, die merkwürdigen, die anscheinend keinen Schlaf brauchen, die ganze Zeit mit einem nervigen Grinsen im Gesicht herumlaufen. Aber die sind in der Minderheit. Die meisten sind kaputte, erschöpfte Menschen mit Hypotheken und Studiendarlehen, die abbezahlt werden wollen, und darum machen sie weiter, tun, was sie können. Ich rede mir gern ein, dass ich irgendwo dazwischen stehe, aber wahrscheinlich bin ich doch eher kaputt als heldenhaft.

· · ·

In meiner besten Verfassung könnte ich sogar richtig großartig sein. So großartig wie Charlotte ­Maxeke, Hamilton Naki, William Anderson Soga. Aber ich bin nicht in meiner besten Verfassung. Ich bin müde. Ich...

Erscheint lt. Verlag 12.8.2019
Übersetzer Tanja Handels
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Period Pain
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Afrika • Apartheid • Black lives matter • Chimamanda Ngozi Adichie • eBooks • Entdeckung • exit racism • Feminismus • Frauen • Körper • Liebe • Rassismus • Schmerz • Südafrika
ISBN-10 3-641-22062-9 / 3641220629
ISBN-13 978-3-641-22062-4 / 9783641220624
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