Der Tag, an dem Gott nicht mehr Gott heißen wollte -  Jens Böttcher

Der Tag, an dem Gott nicht mehr Gott heißen wollte (eBook)

Erzählung
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
240 Seiten
adeo (Verlag)
978-3-86334-804-5 (ISBN)
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Der Musiker Leon befindet sich nicht gerade in einer Hochphase. Nicht nur die Lebensfreude, auch der Sinn des Ganzen ist ihm abhandengekommen. Was für ein Glück, dass Gott Lust hat, mal wieder auf die Erde zu reisen und sich höchst persönlich um den völlig verdutzten Leon zu kümmern. Leon erhält das beste Geschenk seines Lebens - eine Gesprächstherapie mit dem Schöpfer des Universums. Doch auch Gott hat ein Anliegen: Er ist es leid, mit dem sperrigen Namen 'Gott' angesprochen zu werden. Leon soll dabei behilflich sein, dass die Menschen endlich seinen wahren Namen erfahren ... Eine warmherzige Erzählung über die wunderbare Kraft der Liebe und des heilsamen Glaubens an etwas, das viel größer ist als wir.

Jens Böttcher ist Musiker, Sänger/Songschreiber, Schrifsteller, Autor für diverse Fernsehformate und Freigeist. Er singt und schreibt für die Sensiblen, die Nachdenklichen, die Sehnsüchtigen und die Sprachlosen.

Jens Böttcher, geboren 1966, ist Musiker, Schriftsteller und Überlebenskünstler. Als TV-Autor schrieb er u. a. für die mehrfach mit dem Grimme-Preis ausgezeichnete Satiresendung extra3 und stand selbst als Gastgeber des Talkformats Tiefsehtauchen vor der Kamera. Der feinsinnige Poet und nachdenkliche Freigeist lebt, singt, sinniert und schreibt im schönen Ort Rosengarten vor den Toren von Hamburg.

Das Buch Leon

Leons Tagebuch. Dienstag, 11.9,
der spärlich beleuchtete Schreibtisch in der kleinen
Dachkammer des Waldhäuschens, 23.29h

Warum denke ich jetzt plötzlich auch noch über meinen Glauben nach? Daran ist wahrscheinlich die kleine Geschichte schuld, die ich hier reingekritzelt habe. Gottes Champagner-Besuch. Jeder Psychologe würde mir attestieren, dass diese freien Tage mich in kontemplative, unruhige Gedankengewässer führen – und dass ich dabei feststelle, mich immer nach einer vertrauenswürdigen Vaterfigur gesehnt zu haben. Stimmt natürlich. Ich habe ja nie einen Vater gehabt. Obwohl ich einen hatte.

Was meinen Glauben angeht, war ich schon immer vollkommen sicher in meiner traumwandlerischen Unsicherheit. Ich wusste jedenfalls immer, dass ich an irgendetwas glaube. Ich glaube sogar an „Gott“, seit ich geradeaus gehen kann. Aber Gott ist nur ein Wort, nicht wahr? Wie füllt man es? Jeder füllt es anders, jeder auf seine Weise. Derzeit gibt es knapp acht Milliarden Menschen auf dieser Welt, also gibt es auch acht Milliarden Religionen und Glaubensentwürfe. Jeder lebt und glaubt auf seine Weise. Die meisten glauben dabei an sich selbst, auch wenn sie irgendeine offizielle Version von Gott als Alibi vorschieben.

Ich war zum Glück nie religiös. Allein der Gedanke schreckt mich ab. Den Glauben an einen Gott, den ich mir wie alle anderen selbst zurechtgebastelt habe, brauchte ich aber trotzdem schon immer – meiner angeblichen Klugheit zum Trotze.

Ich erinnere mich nur an sehr wenige Sätze, die mein Vater sagte. Einen habe ich aber nie vergessen, der ging so: Kluge Leute glauben nicht, kluge Leute wissen. Der Satz hat mich total eingeschüchtert. Aber ich konnte ihn dennoch nie unterschreiben. Ich wusste ja nichts, das war mir klar. Mir blieb nur der Glaube. Spätestens seit mir bewusst geworden war, dass ich allein zu schwach war, in diesem sonderbaren Leben zu bestehen.

Ich hatte eines Abends auf Tour mit Rick mal ein erhellendes Gespräch mit einem fahrenden Händler in einer runtergewirtschafteten Hotelbar. Wir tranken reichlich Rotwein, er rauchte Kette, ich rauchte schon Pfeife. Wir unterhielten uns, begannen schwachbrüstig herumzuphilosophieren, als sei es ein intellektueller Wettbewerb, und kamen schließlich unweigerlich auf das große Glaubensthema. Auch der Reisende sagte, Glauben sei etwas für schwache Menschen, mein Vater und er hätten wahrscheinlich gute Freunde sein können. Ich nickte. Dann lächelte ich ihn an und sagte: „Ja, genau.“ Ich fühlte mich nicht angegriffen durch die abschätzige Bemerkung, sondern eher bestätigt und befriedet.

Ja, so einer bin ich. Ich bin schwach. Und wenn ich grade zufällig mal wirklich stark bin, um im Leben etwas „gelingen zu lassen“, dann bin ich es doch eigentlich nur, weil ich meine Schwäche spüre.

Ich fand es immer besonders, wenn mir zufällig etwas gelang, und dann war ich dafür irgendwie dankbar. Viele Menschen würden das wohl mangelndes Selbstbewusstsein nennen. Ich habe es immer als überschüssiges Selbstbewusstsein empfunden – das Bewusstsein für ein Selbst nämlich, das nicht wirklich zu fassen oder zu definieren ist und es sich auch gar nicht erst anmaßen sollte, es zu versuchen.

Schon als Kind war diese Schwäche Teil meines Wesens. Ich hatte ein offenes Herz, wenigstens für eine kleine Weile. Mit meiner Tante Hilde konnte ich hübsche Gespräche über Gott und das Leben führen. Meine Eltern waren ja nicht da – erst waren sie nicht da, weil sie so sehr mit sich selbst und mit Arbeiten beschäftigt waren, und dann waren sie nicht da, weil sie gestorben waren. Sie waren Opfer eines schweren Zugunglücks. Ich war damals acht. Dann kam ich zu Tante Hilde und Onkel Robert. Hilde galt allen Außenstehenden als irgendwie weltfremd, weil sie in ihren spirituellen Gedanken so umherflatterte, aber für mich war genau das ganz wunderbar. Sie war wohl das Beste, was mir damals passieren konnte. Immer wenn sie über den Himmel sprach, wärmte sie damit mein Herz. Da oben war nämlich laut Hilde alles gut. Hier unten war es das ganz offensichtlich nicht.

Hilde inspirierte mich wohl auch dazu, mir Gott als den Erfinder der Blumen und der Sonne vorzustellen. Das war ein schönes Gefühl. Es funktionierte. Ich musste darüber nie viel nachdenken. Für mich stand fest: Gott war ein Künstler. Ich war ein heimlicher Verehrer von ihm. Oder von ihr. Dass Gott ein Mann sein sollte, stand für mich nie wirklich fest. Warum auch? Ich habe zu viele Männer getroffen, die Vollidioten waren.

Mich zum Beispiel.

Gott war auf jeden Fall weise und gut. Unerreichbar gut. Und unerreichbar fern. Ich musste und wollte darüber nicht mehr wissen. Es brauchte keine weiteren Worte. Worte kamen später. Mit den vielen Gedanken. Als ich den Mount Everest des Erwachsenseins bestiegen hatte.

Als ich neun Jahre alt war, habe ich jedenfalls zum ersten Mal auf dem Schulhof für Gott gestritten. Einer der anderen Jungs plapperte nach, was er wohl zu Hause aufgeschnappt haben musste. Der Dialog ging etwa so:

Der: „Hä? Glaubst du etwa an Gott, du Weichei?“

Ich: „’türlich. Und ich bin kein Weichei, du Volltrottel.“

Der: „Haha. Tröööt. Nanananana, Leute, kommt mal alle her, Leon, der Schwachkopf glaubt an Gott, so was Albernes! Mein Vater weiß das aber ganz genau und der hat gesagt, Gott gibt es in echt gar nicht, den haben sich nur die Menschen ausgedacht, die zu blöd sind, die Wissenschaft zu kapieren!“

Ich fand das total merkwürdig und erklärte dem Jungen und den herbeigeeilten anderen, die wahrscheinlich eher auf eine saftige Prügelei hofften als auf einen apologetischen Disput, dass doch genau andersherum ein Schuh draus werden musste. Gott hatte sich natürlich den Vater von dem Burschen ausgedacht und nicht der Vater von dem Burschen sich Gott. Dass er sich alle anderen Menschen auch ausgedacht hatte, vermutete ich damals ja auch schon. Schließlich zeigte ich zum Beweis meiner theologischen These auf die Blumen, die so wunderschön am Rande des Schulhofs blühten. Und dann sagte ich zu allen, die um uns herumstanden: „Da, guckt mal, in den Blumen, in ihnen könnt ihr Gott sogar sehen. Und wenn ihr eure Nase dicht genug an die Blütenblätter haltet, könnt ihr ihn sogar riechen.“

Natürlich wusste ich selbst nicht, ob oder wie das empirisch zu belegen wäre, aber es fühlte sich total richtig an und war nebenbei der erste und einzige apologetische Triumph meines Lebens: Der andere Bursche hatte plötzlich überhaupt keine Argumente mehr. Was sollte er dazu auch sagen? Dass sein schnöseliger Vater sich die Blumen ausgedacht hatte? Das hat er sich dann wohl doch nicht getraut.

Allerdings wurde mir mein Glaube an den Gott der Blumen schon bald ziemlich verhagelt.

Der Tod meiner Eltern warf natürlich die ersten großen Fragen auf. Es war nicht nur, dass sie gestorben waren, sondern vor allem, dass sie mir auch vorher nie wirklich lebendig vorgekommen waren. Die beiden hatten immer den Eindruck gemacht, als müssten sie bloß ihre Pflicht tun. Sieben Tage die Woche: arbeiten – Pflicht, ein Kind (das war ich) haben – Pflicht, einmal jährlich in den Urlaub fahren – Pflicht, täglich miteinander streiten und kreuzunglücklich sein – Pflicht, das ganze Leben Pflicht, irgendwann sterben – Pflicht. Später, als ich selbst als Elternteil versagt hatte, schlich sich dann allerdings die Frage in mein Herz, ob ich nicht viel zu viel von ihnen erwartet hatte.

Was immer blieb, war das Gefühl, nicht zu ihnen gehört zu haben. Ich hatte es nie erklären können, aber es begleitete mich stets. Warum waren ausgerechnet meine Eltern meine Eltern? Sie behandelten mich wie einen Fremden, sie blieben mir fremd. Dieses Gefühl begann irgendwann, mich zu verwirren; mein Leben kam mir vor wie die Geschichte vom hässlichen Entlein. Ich war am falschen Platz, im falschen Teich, im falschen Leben. Nur dass es natürlich auch möglich war, dass meine Eltern die Schwäne gewesen waren. Ich weiß es bis heute nicht und werde es wohl auch nie erfahren.

Als ich zwölf war, nahm meine Cousine Charlotte sich das Leben, vier Jahre, nachdem meine Eltern gestorben waren. Eine weitere Welle der Trauer ging durch unsere Familie. Niemand verstand ihre Tat und alle vermuteten irgendeinen Familienfluch. Nur ich war nicht so furchtbar traurig. Damals war ich plötzlich noch mal kurz ganz sicher, dass Charlotte als Blume weiterlebt – in einem wundervollen, wilden, bunten Garten, in dem es eben jenes innere Leid nicht mehr geben würde, vor dem sie mit ihrem Freitod geflohen war. Ich freute mich dann heimlich sogar ein bisschen für sie, aber ich hatte auch Mitleid mit den traurigen Hinterbliebenen. Es war viel schwerer, wenn man nicht an den Gott der Blumen glaubte.

Ich verließ die Schule mit knapp siebzehn. Hilde und Robert versuchten noch, mich halbherzig davon zu überzeugen, dass es bestimmt klug wäre, irgendeine konventionelle Ausbildung zu machen oder wenigstens das Abitur zu absolvieren, damit ich studieren könnte. Aber ich pfiff drauf.

Ich wollte nur eins: Klavier spielen. Und ich spielte. Ich spielte immer. Ich spielte für mich selbst, ich spielte vor Menschen, ich spielte in schlechten und guten Bands, auf kleinen und großen Bühnen und zu Hause, dann spielte ich irgendwann in Orchestern, dann spielte ich in Studios und immer so weiter. Beim Klavierspielen vergaß ich jedes Denken, jedes Wollen, jedes Suchen. Ich vergaß, wer ich bin oder wer ich sein sollte. Die Musik verband mich mit dem Himmel. Ich wollte ihr deshalb nah sein, ich wollte in ihr...

Erscheint lt. Verlag 22.2.2019
Verlagsort Asslar
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Depression • Glaube • Liebe • Musiker • Philosophie
ISBN-10 3-86334-804-4 / 3863348044
ISBN-13 978-3-86334-804-5 / 9783863348045
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