Karpatenkarneval (eBook)

Roman
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2019 | 1. Auflage
172 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75949-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Karpatenkarneval -  Juri Andruchowytsch
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Vier Dichter und ihre bizarre Entourage unterwegs in die Karpaten. In Tschortopil soll das Fest des auferstehenden Geistes steigen, ein Happening, eine Kreuzung aus Woodstock, Orgie und folkloristischem Mummenschanz. Der Rockstar aus Leningrad reist im Zug an, während die »Blüte der Nation«, die jungen Dichter aus der Provinz, von einem Chrysler Imperial aufgesammelt werden, am Steuer ein ukrainischer Emigrant, der eine Privatklinik in Luzern leitet und sich als Sponsor ausgibt ...

Karpatenkarneval, geschrieben im September/Oktober 1990, ist der legendäre Bilderstürmertext des 30jährigen Lyrikers und Performance-Künstlers Juri Andruchowytsch, der die ukrainische Literatursprache zerstörte, um sie neu zu erfinden. Damals ein Skandal, eine Revolution, ist er heute erstmals auf Deutsch zu bestaunen - als genialer Auftakt zu den berühmten Prosawerken des Autors: Moscoviada (1993; dt. 2006, st 4312), Perversion (1999; dt. 2011, st 4409) und Zwölf Ringe (2003; dt. 2005, st 3840).



<p>Juri Andruchowytsch, geboren 1960 in Iwano-Frankiwsk/Westukraine, dem fr&uuml;heren galizischen Stanislau, studierte Journalistik und begann als Lyriker. Au&szlig;erdem ver&ouml;ffentlicht er Essays und Romane. Andruchowytsch ist einer der bekanntesten europ&auml;ischen Autoren der Gegenwart, sein Werk erscheint in 20 Sprachen. 1985 war er Mitbegr&uuml;nder der legend&auml;ren literarischen Performance-Gruppe Bu-Ba-Bu (Burlesk-Balagan-Buffonada). Mit seinen drei Romanen <em>Rekreacij</em> (1992; dt. Karpatenkarneval, 2019), <em>Moscoviada</em> (1993, dt. Ausgabe 2006),<em> Perverzija</em> (1999, dt. Perversion, 2011), die unter anderem ins Englische, Spanische, Franz&ouml;sische und Italienische &uuml;bersetzt wurden, ist er unfreiwillig zum Klassiker der ukrainischen Gegenwartsliteratur geworden.</p>

Juri Andruchowytsch, geboren 1960 in Iwano-Frankiwsk/Westukraine, dem früheren galizischen Stanislau, studierte Journalistik und begann als Lyriker. Außerdem veröffentlicht er Essays und Romane. Andruchowytsch ist einer der bekanntesten europäischen Autoren der Gegenwart, sein Werk erscheint in 20 Sprachen. 1985 war er Mitbegründer der legendären literarischen Performance-Gruppe Bu-Ba-Bu (Burlesk-Balagan-Buffonada). Mit seinen drei Romanen Rekreacij (1992; dt. Karpatenkarneval, 2019), Moscoviada (1993, dt. Ausgabe 2006), Perverzija (1999, dt. Perversion, 2011), die unter anderem ins Englische, Spanische, Französische und Italienische übersetzt wurden, ist er unfreiwillig zum Klassiker der ukrainischen Gegenwartsliteratur geworden. Sabine Stöhr, 1968 geboren, studierte Slawistik in Mainz und Simferopol. Seit 2004 übersetzt sie aus dem Ukrainischen, v.a. die Werke von Juri Andruchowytsch und, gemeinsam mit Juri Durkot, das Romanwerk von Serhij Zhadan. 2014 wurde sie mit dem Johann-Heinrich-Voß-Preis für Übersetzung ausgezeichnet. Ebenfalls 2014 erhielt sie, gemeinsam mit Juri Durkot und dem Autor, den Brückepreis Berlin für Die Erfindung des Jazz im Donbass von Serhij Zhadan. 2018 wurde Sabine Stöhr und Juri Durkot der Preis der Leipziger Buchmesse verliehen für ihre Übersetzung des Romans Internat von Serhij Zhadan.  

»Dann schlepp du ihn doch!«, brüllt Martofljak. »Mir reicht’s. Ich hab meine Christenpflicht getan.«

»Ich schlage vor, ihn irgendwo am Rande des Denkmals abzulegen und ihn schlafen zu lassen, wir sehen uns noch ein, zwei Stündchen um, dann kommen wir zurück, wecken ihn und gehen ins Hotel«, verkündet Nemyrytsch.

»Die Idee ist im Großen und Ganzen gut«, sagt Hryts, »aber einfacher wäre es, ihn nicht bis zum Denkmal zu zerren, sondern irgendwo hier zu verstecken, sagen wir mal im Kofferraum dieses Autos. Das mich übrigens an jemanden erinnert …«

»Das ist der Chrysler von Herrn Popel«, hilft ihm Nemyrytsch.

»Kann hier jemand den Kofferraum eines Chrysler öffnen?«, fragt Hryts mit einem Blick, als wolle er wissen, ob jemand Konservenbüchsen öffnen kann.

»Alter, ich bin sicher, der Kofferraum ist offen«, sagt Nemyrytsch bestimmt. »Es ist doch das Auto von Herrn Popel und nicht, sorry, Martusja, von irgendeinem Arschloch! Ich bin sicher …«

Zusammen hebt ihr den schwer gewordenen Bilynkewytsch vom Pflaster auf, der gerade etwas sagt wie »Helden sterben nicht«, und schleppt ihn zum Chrysler, der plötzlich schwarz und leer mitten auf dem Platz aufgetaucht ist, der Kofferraum steht natürlich offen, und ihr schmeißt den vom Schlaf paralysierten Bilynkewytsch hinein – soll er dort ausruhen, der Arsch, wie es ihm gefällt.

Dann taucht ihr wieder in der festlichen Menge unter – und ihr genießt es, schon eine gute Stunde lang, aber irgendetwas tief drinnen verweigert sich – nein, nicht so, nicht so, dann aber passt wieder alles, bravo, Pawlo, gut gemacht, ein Kobsar singt von der roten Bahre oder roten Beere, Studenten führen ein Mysterienspiel über das Vaterland auf, und bei einem der neuen Kleinunternehmer kann man sich sein Horoskop kaufen, oder Schaschlik essen, mit Pfeil und Bogen auf einen riesigen Papp-Stalin schießen, den Hintern der nächsten Anwärterin im »Superfräulein«-Wettbewerb bewundern, direkt aus der Flasche trinken, sich die Fresse mit blauer und gelber Farbe bemalen, ein Oratorium anhören, den Himmel durch ein Teleskop betrachten, bei einer Lotterie – jedes Los gewinnt – mitmachen, sich mit jemandem prügeln – einfach so oder um ein Weibchen, man kann mit Messern und Orangen jonglieren oder sich zudröhnen wie Bilynkewytsch, sich ein Amulett am Kettchen kaufen oder ein Kreuz, alle viere von sich strecken, auf einen fahrenden Schießstand schießen, ein altes Grammophon kaufen oder bis zum Morgen einen rituellen Arkan tanzen oder mit ein paar anderen Lieder von Rekruten oder roten Beeren oder roten Bahren singen, man kann mit Mädchen in einem Fass baden oder im Kofferraum eines schwarzen Autos schlafen, die Bibel auf Arabisch und den Koran auf Ukrainisch kaufen oder einen Pornokalender, eine Videokassette, eine Makarow, ein Hirschgeweih, einen Hahn, ein Huhn, eine Fahne, Jeans, einen Körper, Gott, Morphium, eine Rippe, Brüste, Bier, Wasser, einen Lutscher, Nägel, Haut, eine Wunde, man kann endlich zum Hotel gehen oder hier bis zum Morgen herumwandern oder sterben …

Die Flammen über uns, die fliegenden Funken, das leckende Feuer, die Barockwände der Gebäude, geschmückt mit Girlanden und grünen Maizweigen, die geschnitzten Figuren in Nischen und Torbögen, bestreut mit Konfetti und behängt mit Luftschlangen, beschmiert mit Scheiße und Sperma, die orangen Zelte mit tausenden Verlockungen und tausenden Regeln, die Türme über den Gärten, die Mauern, das Rathaus mit der höchsten Spitze der Welt, die Berge über der Stadt, die Sterne am Himmel.

Die Dunkelheit des Ortes, Fledermäuse in den Glockentürmen, Kerzen auf dem Friedhof, Folterkammern in den Kellern, Brunnen, angefüllt mit Knochen, Lumpen in alten Zimmern, das Kreischen in den Wasserleitungen, Abfallgruben an den Abhängen, Stimmen im Untergrund, die rostigen Röhren und Hähne, verklebte Waschbecken, verdreckte Wannen, gebrauchtes Geschirr, zerrissene Decken, abgestoßenes Porzellan, vergrabene Glocken, verbrannte Bücher, katholische Kreuze, die vier Reiter.

Diese blauen Augenringe, bemalten Lippen, heiligen Blutergüsse, Stigmata, erweiterten Venen, syphilitischen Nasen, gebogenen Rücken, die beweglichen Zungen, singenden Hüften, löchrigen Höschen, entblößten Schultern, gekrümmten Eckzähne, scharfen Krallen, zerbissenen Brüste, die Lichter zwischen den Beinen, das Strahlen.

Ihr seid ohnmächtig, etwas zu sagen, etwas zu verändern – bewegt euch kreisförmig wie Schlafwandler, jeder sein eigener Planet, jeder auf seiner Bahn, obwohl ihr doch ganz ehrlich versucht habt, zusammenzubleiben und keine Dummheiten zu machen, aber der Rausch ist euch zu Kopf gestiegen, das Fest euch in die Beine gefahren, ihr seid durch den Wolf gedreht wie das Hackfleisch eines guten Kochs, denn, so sagte es Nemyrytsch, ihr seid alle einsam, daher ist es äußerst unwahrscheinlich, dass es euch gelingen wird, etwas zu finden zwischen diesen Zelten und Podesten, zwischen diesen wunderbaren Krüppeln, auf diesem Platz, rings umgeben von Bergen und Europa, wo sich jeder von euch auf seine Art verirrt, seht – da haben wir’s, man ruft, pfeift, brüllt, zupft am Ärmel, bittet, fordert:

»Herr Martofljak!..«

Na endlich, Martofljak – das Volk kennt seine Dichter, du wirst gerufen, man verlangt nach dir, du beginnst, für diese sympathischen jungen Leute in bestickten Hemden und Marmor-Jeans Autogramme zu malen, Studenten natürlich, sie schwärmen für deine Gedichte, Marta erkennt auch den, der im Bus fast ohnmächtig geworden wäre vor Glück, dich zu sehen.

Du schreibst ihnen auf Notizblöcke, in deine Bücher, auf deine Porträts allen möglichen Stuss, Martofljak, denn Hauptsache, niemals eine Widmung wiederholen, überall lakonisch, treffend, tiefsinnig, großmütig, originell und edel sein. Aber dieses Mädchen mit den Schlehenaugen und gewölbten Lippen hat nichts: weder Notizblock noch Buch, noch ein Foto von dir, Martofljak, daher bittet sie, dass du ihr auf die Stirn schreibst, und du bittest um einen blauen und einen gelben Filzstift und verzierst ihre heiße Stirn mit deinen Initialen, bravo, Zugabe, du küsst ihr die Hand und was nun? Noch dazu, wo deine Kumpel, die ein paar Schritte weiter stehen geblieben sind, wild nach dir rufen:

»Martofljak! Rostyk! Alter! Kommst du?! Was zum Geier?«

Du aber fühlst dich wie Käse in der Butter, wie ein Hecht im Fluss, Martofljak. Das sind meine Freunde, erläuterst du den Studenten liebenswürdig, übrigens auch Dichter – Nemyrytsch, Chomskyj, Schtundera –, noch nie gehört? Na, das werdet ihr schon noch, es sind begabte Jungs, kriegen manchmal richtig was hin, aber was das für ein Mädchen ist da bei ihnen, echt keine Ahnung, Gelächter, du verbeugst dich in alle Richtungen und willst gehen, da erklärt der Knabe vom Autobus, der mit dem rot-schwarzen Anstecker, dass sie in der Nähe einen gedeckten Tisch, eine Gitarre, unendlich viel Alk haben und ob du nicht vielleicht ein Stündchen bei ihnen sitzen willst – was klasse wäre. Die zwei Schlehen schauen dich dabei so an, dass du die Reste deiner Ketten abschüttelst und deinen Kumpeln zurufst:

»Ej! Hört ihr? Ich verlasse euch für ein Stündchen!«

»Rostyk!«, hörst du Martas Stimme und fängst für einen Moment ihren verzweifelten Blick auf, dann aber wirfst du ihnen allen einen Luftkuss zu, fickt euch, heißt das, und umgeben von der lärmenden Studentenmeute ziehst du ab in die Büsche, wo der gedeckte Tisch und die Gitarren warten.

Sie haben dich untergehakt, schade, dass sie keinen Tragesessel oder eine Sänfte besitzen, sonst würden sie dich auf den Schultern tragen, auch die Kleine mit deinen Initialen auf der Stirn. Sie hat einen wunderlichen Namen – Soreslawa, Sternenruhm, es ist gar nicht so weit, ihr biegt in einen Hof zwischen zwei Häusern ein, nicht weit vom Platz, und dort, auf dem jungen Gras, unter verblühenden Kirschbäumen steht wirklich ein gedeckter Tisch, an den man dich nun führt, eine Gaslampe verströmt warmes Licht, und fröhlich lärmend setzt ihr euch und trinkt den ersten Kelch von etwas Hausgemachtem, ...

Erscheint lt. Verlag 11.2.2019
Übersetzer Sabine Stöhr
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel Rekreaziji
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Karneval • Karpaten • Lemberg • ST 4941 • ST4941 • suhrkamp taschenbuch 4941 • Ukraine • ukrainische Gegenwartsliteratur
ISBN-10 3-518-75949-3 / 3518759493
ISBN-13 978-3-518-75949-3 / 9783518759493
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