Der Judaskuß (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
208 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-24992-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Judaskuß -  António Lobo Antunes
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In einer Bar in Lissabon erzählt ein Betrunkener einer Schönen der Nacht von seinen Erfahrungen im Angolakrieg. Unaufhaltsam redet dieser Mann, wütend, ausfallend, obszön, zärtlich und verzweifelt, er durchschreitet noch einmal die Hölle der Vergangenheit, nur um in der Gegenwart dieser Nacht nicht allein zu bleiben.

António Lobo Antunes wurde 1942 in Lissabon geboren. Er studierte Medizin, war während des Kolonialkriegs 27 Monate lang Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Heute lebt er als Schriftsteller in seiner Heimatstadt. Lobo Antunes zählt zu den wichtigsten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. In seinem Werk, das mittlerweile mehr als dreißig Titel umfasst und in vierzig Sprachen übersetzt worden ist, setzt er sich intensiv und kritisch mit der portugiesischen Gesellschaft auseinander. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den »Großen Romanpreis des Portugiesischen Schriftstellerverbandes«, den »Jerusalem-Preis für die Freiheit des Individuums in der Gesellschaft« und den Camões-Preis.

A

Was mir am meisten am Zoologischen Garten gefiel, waren die Rollschuhbahn unter den Bäumen und der schwarze Lehrer, der ganz aufrecht und in weit ausholenden Schleifen rückwärts auf dem Zement dahinglitt, ohne auch nur einen Muskel zu bewegen, um ihn herum Mädchen in kurzen Röcken und weißen Stiefeln, deren Stimmen, hätten sie gesprochen, sicher so weich geklungen hätten wie die auf den Flughäfen, die den Abflug der Flugzeuge ankündigen, Silben aus Watte, die in den Ohren zergehen wie die Reste eines Bonbons auf der Zunge. Ich weiß nicht, ob Sie das, was ich jetzt sage, idiotisch finden, aber wenn wir am Sonntagmorgen mit meinem Vater in den Zoo gingen, waren die Tiere mehr Tiere, die langstielige Einsamkeit der Giraffe ähnelte der eines traurigen Gulliver, und von den Grabsteinen des Hundefriedhofs stieg hin und wieder ein klagendes Gejaul auf. Es roch wie auf den Gängen der Kolosseums-Festhalle, es gab seltsame Phantasievögel hinter Maschendraht, die Straußenvögel glichen ledigen Turnlehrerinnen, die ungelenken Pinguine hatten Ballen wie Botengänger, Kakadus neigten den Kopf zur Seite, als betrachteten sie ein Bild; im Becken blähten sich in träger Ruhe die Nilpferde, die Schlangen rollten sich in weichen Spiralen zu Exkrementenhaufen, und die Krokodile fanden sich mühelos in ihr Schicksal, mörderische Echsen aus dem Tertiär zu sein. Die Platanen zwischen den Käfigen ergrauten wie unser Haar, und ich stellte mir vor, daß wir eigentlich gemeinsam alterten: Der Angestellte mit dem Rechen, der die Blätter in einen Eimer harkte, erinnerte mich an den Chirurgen, der meine Gallensteine in ein Gläschen mit Etikett fegen würde; eine vegetative Menopause, in der die Geschwülste der Prostata und die Knoten in den Baumstämmen sich einander näherten und miteinander verschmolzen, würde uns verbrüdern; die Backenzähne würden uns wie faule Früchte aus dem Mund fallen, und unsere Haut würde sich als rauhe Schale über dem Bauch in Falten legen. Es kam vor, daß uns ein komplizenhafter Hauch aus den Zweigen hoch oben durch die Haare fuhr und von irgendwoher ein Husten die wattige Taubheit mühsam mit einem Rauschen durchbrach, das schließlich den beruhigenden Tonfall einer chronischen Bronchitis annahm.

Im Zoo-Restaurant hingen Fetzen von Tiergerüchen in der Luft, die sich im Dampf des Eintopfgerichtes auflösten, die Kartoffeln mit einem unangenehmen Geschmack von Schwein würzten und dem Fleisch etwas Pelziges gaben; das Lokal war meistens voll und wurde zu gleichen Teilen besucht von Ausflüglern und ungeduldigen Müttern, die mit der Gabel Luftballons verscheuchten, die, zerstreutes Lächeln, ein Stück Schnur hinter sich herzogen wie die fliegenden Bräute Chagalls den Saum ihrer Kleider. Ältere Damen in Blau trugen volle Kuchentabletts vor dem Bauch, boten Blätterteiggebäck an, das staubiger war als ihre belaubten Wangen, und wurden von widerlich klebrigen Fliegen verfolgt. Abgemagerte Hunde aus mittelalterlichen Altarbildern warteten zwischen den Fußtritten der Angestellten auf die übriggebliebenen Würstchen, die zu Boden fielen wie überflüssige, ölig glänzende Finger. Die Tretboote aus dem Wasserbecken drohten jeden Augenblick durch die offenen Fenster auf den feindlichen Wellen der Papierservietten hereinzuschaukeln. Und dort draußen, unberührt von der faden Musik aus den Lautsprechern, dem vereinsamten Witwenklagen eines afrikanischen Stieres, den fröhlich verklingenden Tamburinen der Ausflügler und meiner hingerissenen Bewunderung, glitt der schwarze Lehrer noch immer aufrecht und mit der wunderbaren, ungewöhnlichen Majestät eines Rückwärtsläufers über den Rollschuhplatz unter den Bäumen.

Wären wir zum Beispiel Ameisenbären, Sie und ich, statt uns hier in dieser Bar zu unterhalten, könnte ich mich vielleicht besser Ihrem Schweigen anpassen, Ihren auf dem Glas ruhenden Händen, Ihren gläsernen Fischaugen, die irgendwo über meinem Kopf oder meinem Bauchnabel schweben, und wir könnten uns vielleicht wie Komplizen mit unruhigen Rüsseln verständigen, die auf dem Beton sehnsüchtig nach Insekten schnüffeln, vielleicht würden wir uns im Schutz der Dunkelheit im Koitus vereinen, traurig wie die Nächte von Lissabon, wenn die Neptune aus den Seen das grüne Algengewand ablegen und auf den leeren Plätzen ihre sehnsuchtsvollen, rostigen Augen umherschweifen lassen. Vielleicht würden Sie mir dann endlich von sich erzählen. Vielleicht schlummert hinter Ihrer Cranach-Stirn eine heimliche Zärtlichkeit für Rhinozerosse. Vielleicht würden Sie mich betasten, und plötzlich wäre ich ein Einhorn und würde Sie umarmen, und Sie würden aufgeschreckt mit den Armen schlagen wie ein auf eine Stecknadel gespießter Schmetterling, überquellend vor Zärtlichkeit. Wir würden Karten für die Bimmelbahn kaufen, die wie eine Geisterbahn in der Provinz mit aufgezogenem Motor von Tier zu Tier durch den Zoo fährt, und im Vorbeifahren würden wir den weißen, zu Teppichen verarbeiteten Bären in ihrer Grotte zuwinken. Wir würden ophthalmologisch die Konjunktivitis auf den Hinterteilen der Mandrill-Affen beobachten, deren Lider sich an brennbaren Hämorrhoiden entzünden. Wir würden uns vor den Löwen küssen, die von Motten zerfressen sind wie alte Mäntel und mit zahnlosen Kiefern drohen. Ich streichle Ihre Brüste im schrägen Schatten der Füchse, Sie kaufen mir ein kleines Eis am Stiel bei den Clowns, die sich, untermalt von einem tragisch klingenden Saxophon, mit hochgezogenen Augenbrauen Klapse geben. Und so hätten wir ein wenig von der Kindheit zurückerobert, die keinem von uns gehört, jedoch immer wieder die Rutschbahn hinunterrutscht mit einem Lächeln, das ab und zu als gedämpftes Echo und fast wütend zu uns herüberdringt.

Erinnern Sie sich an die Steinadler am Eingang des Zoos und an die Kartenschalter, die wie Wachhäuschen aussehen, wo die muffigen Angestellten sitzen und wie kurzsichtige Nachteulen im feuchten Dämmerlicht blinzeln? Meine Eltern wohnten nicht sehr weit, in der Nähe eines Beerdigungsinstituts mit Wachshänden und mit Büsten des Paters Cruz, die vom nächtlichen Geheul der Tiger in arthritischem Entsetzen auf den Regalen im Schaufenster erbebten, Invaliden des Geschäfts mit der Mystik sozusagen, die später einmal auf ovalen Häkeldeckchen Kühlschränke zieren würden, so daß man meinen konnte, das Surren der Geräte käme aus tönernen Speiseröhren, die an schlecht verdauten Keksen würgten. Vom Zimmerfenster meiner Brüder aus sah man das eingezäunte Areal der Kamele, deren gelangweiltem Ausdruck nur noch die Zigarette eines Geschäftsführers fehlte. Auf dem Klo, wo der Rest eines Flusses wie in grummelnden Eingeweiden erstarb, hörte ich das Jammern der Robben, die ein zu kleiner Durchmesser der Rohre daran hinderte, in die Kanalisation zu fahren und mit dem Wasserstrahl das ungeduldige Brummen eines Mathematiklehrers durch die Wasserhähne zu schicken. Das Bett meiner Mutter ächzte in der Früh manchmal vor Hexenschuß wie der zahnlose Elefant im Zoo, der für ein paar Kohlblätter zu zehn Reis an einem Glöckchen zog, ein seit Jahrhunderten von der Inflation verschontes Geschäft, und das Ächzen wurde dirigiert vom Asthma meines Vaters, das klang wie das rhythmische Pfeifen eines Kornaks. Die Frau mit den Erdnüssen, der der linke Ellenbogen fehlte, stellte sich mit ihren Körben unter unsere Veranda und erzählte meiner Großmutter in vertikalen Reden, von unten nach oben, von den Besäufnissen ihres Mannes und berstenden Gewalttätigkeiten: Kapitel aus Maxim Gorki, Volksausgabe. Der Morgen bevölkerte sich mit Hibiskus und Tukanen, die mit den Krümeln des Frühstücks gefüttert wurden, und auf den Fingern blieb ein mehliger Staub wie auf nicht abgewischten Möbeln zurück. Ein Flecken Nachmittagssonne trabte verstohlen wie eine Hyäne über den Fußboden, unterstrich oder verdeckte nacheinander die Muster auf dem Teppich, das gesplitterte Relief an der Fußleiste und an der Wand das Porträt eines schnurrbärtigen Onkels von der Feuerwehr, dessen blankgescheuerter Helm wie eine polierte Türklinke glänzte. Im Eingangsflur hing ein geschliffener Spiegel, der nachts leer war, ohne Gesichter, und alle Bäume im Zoo und die wie riesige, gefrorene Spinnen an ihren Ringen hängenden Orang-Utans hätte aufnehmen können. Damals nährte ich die unsinnige Hoffnung, eines Tages anmutige Spiralen um die majestätischen Hyperbeln des schwarzen Lehrers ziehen zu können, in weißen Stiefeln und rosa Hosen, mein Gleiten würde klingen wie ein Flaschenzug, den ich mir immer hinter dem gewagten Flug der Engel von Giotto vorstellte, die in marionettenhafter Unschuld von biblischen Himmeln herabschwebten. Die Bäume der Rollschuhbahn würden hinter mir zusammenwachsen und ihre dichten Schatten ineinander verschlingen, und das wäre meine Art, mich davonzumachen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich als alter Mann mit nichts als Uhren und Katzen in einem dritten Stockwerk ohne Fahrstuhl wie ein Schiffbrüchiger zwischen Tablettenschachteln, Kataplasmen, Heilkräutertees und Gebeten an den Heiligen Geist untergehe, ich sehe vielmehr den Jungen in mir, der sich...

Erscheint lt. Verlag 21.1.2019
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20.Jahrhundert • Abenteuerroman • Afrika • Angolakrieg • eBooks • Erinnerung • Gegenwartsliteratur • Geschichte • Gewalt • Kolonie • Konflikt • Krieg • Lissabon • Portugal • Roman • Romane • Unabhängigkeit • Vergangenheit
ISBN-10 3-641-24992-9 / 3641249929
ISBN-13 978-3-641-24992-2 / 9783641249922
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