Die Glocke im See (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
482 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-76038-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Glocke im See -  Lars Mytting
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Norwegen im Jahr 1880, in einem dunklen und abgeschiedenen Tal: Der junge Pastor Kai Schweigaard hat soeben die kleine Pfarrei mit der 700 Jahre alten Stabkirche übernommen. Die würde er gerne abreißen und durch eine modernere, größere Kirche ersetzen. Die Kunstakademie in Dresden schickt ihren begabten Architekturstudenten Gerhard Schönauer, der den Abtransport der Kirche nach Dresden und ihren Wiederaufbau dort überwachen soll.

Doch die junge und wissbegierige Astrid rebelliert gegen diese Pläne. Mit der Kirche würden auch die beiden Glocken verschwinden, die einer ihrer Vorfahren gestiftet hat. Man sagt ihnen übernatürliche Kräfte nach und dass sie von selbst läuten, wenn ein Unglück bevorsteht. Astrid verliebt sich in diesen Gerhard - und muss sich entscheiden. Wählt sie die Heimat und den Pfarrer? Oder entscheidet sie sich für den Aufbruch in eine ungewisse Zukunft in Deutschland? Da hört sie auf einmal die Glocken läuten ...



Lars Mytting, geboren 1969, stammt aus F&aring;vang im norwegischen Gudbrandsdalen. Im Insel Verlag erschienen au&szlig;erdem der Bestseller <em>Der Mann und das Holz. Vom F&auml;llen, Hacken und Feuermachen</em> und der Roman <em>Die Birken wissen&rsquo;s noch</em> sowie die zwei Romane <em>Die Glocke im See</em> und <em>Ein R&auml;tsel auf blauschwarzem Grund</em>, die zusammen mit <em>Astrids Verm&auml;chtnis</em> eine Trilogie bilden.

Lars Mytting, geboren 1968, stammt aus Fåvang im Guldbrandsdalen in Norwegen. 2014 erschien sein Bestseller Der Mann und das Holz. Vom Fällen, Hacken und Feuermachen, eine kleine Kulturgeschichte des Holzes, 2016 sein Roman Die Birken wissen´s noch. Mytting ist selbst begeisterter Holzfäller und Kaminofenliebhaber und hat erst kürzlich seine ramponierte Motorsäge Partner 500 Professional in Pension geschickt und sich eine Husqvarna 353G angeschafft. Hinrich Schmidt-Henkel übersetzt Belletristik, Theaterstücke und Lyrik aus dem Norwegischen, Französischen und Italienischen. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören Jon Fosse, Kjell Askildsen, Jean Echenoz, Édouard Louis und Louis-Ferdinand Céline.

Zwei Mädchen in einer Haut


Es war eine sehr schwere Geburt. Vielleicht die schwerste seit Menschengedenken, und das in einem Dorf, in dem ein Kindbett gefährlicher war als das andere. Der Bauch der werdenden Mutter war riesig, doch erst am dritten Tag der Wehen wurde allen klar, dass es Zwillinge sein mussten. Wie genau die eigentliche Geburt dann vonstattenging, wie lange die Schreie der Mutter in der Stube des Holzhauses gellten und wie die Frauensleute, die ihr halfen, die beiden Kinder am Ende herausbrachten – all das geriet in Vergessenheit. Es war so fürchterlich, dass niemand darüber reden mochte. Die Mutter zerriss es, sie starb am Blutverlust, und ihr Name versank in der Geschichte. Was aber für immer in Erinnerung bleiben sollte, das waren die Zwillinge selbst, und zwar wegen ihrer Eigenheit. Sie waren an der Hüfte zusammengewachsen.

Aber das war es auch schon, ansonsten waren sie gesund, sie atmeten, sie schrien, und im Kopf waren sie helle.

Die Eltern stammten von dem Hof Hekne, und so wurden die Mädchen auf die Namen Halfrid und Gunhild Hekne getauft. Sie wuchsen stetig heran und lachten viel. Sie waren niemandem zur Last, sondern gereichten einander, ihrem Vater und den Geschwistern zur Freude, ja, dem ganzen Dorf. Schon früh wurden die Hekne-Schwestern mit der Bildweberei vertraut gemacht. Von früh bis spät saßen sie auf der Bank des Webstuhls, ihre vier Arme flogen vereint über Kette und Schuss, so schnell, dass kaum zu verfolgen war, welche von beiden gerade das Garn einwirkte. Ihre Motive waren häufig rätselhaft, immer von berührender Schönheit, und ihre Arbeiten wurden gegen Silber oder Haustiere eingetauscht. In jener Zeit kam niemand auf die Idee, Handarbeiten irgendwie persönlich zu kennzeichnen, und später zahlte manch einer einen hohen Preis für eine Arbeit der Hekne-Schwestern, obwohl unklar war, ob sie wirklich von den Zwillingen stammte.

Der bekannteste Hekne-Wandteppich war eine Darstellung der Skråpånatta, der Kratzenacht, wie die lokale Version des Jüngsten Gerichtes im Dialekt hieß, lose an die altnordischen Prophezeiungen des Ragnarøk angelehnt. Demnach wird dereinst ein Flammenmeer die Nacht zum Tage machen, und wenn alles verbrannt und die Nacht wieder zur Dunkelheit geworden ist, wird die Oberfläche der Erde bis auf den blanken Fels hinunter abgekratzt, Lebende und Tote werden zum Gericht gen Sonnenaufgang geschoben. Diesen Wandteppich stiftete der Vater der Zwillinge der örtlichen Kirche, wo das Bild viele Generationen lang hing, bis es eines Nachts verschwand, obwohl alle Türen abgeschlossen waren.

Die Schwestern ließen sich selten außerhalb des Hofgeländes blicken, obwohl sie sich leichter fortbewegen konnten, als die Leute gedacht hätten. Sie schaukelten in einer Art Dreivierteltakt einher, als trügen sie einen randvollen Wassereimer vor sich. Das Einzige, was sie nicht bewältigten, waren die Abhänge unterhalb ihres Hauses. Der Hekne-Hof lag in steilem Gelände, und die winterliche Glätte war für die beiden lebensgefährlich. Allerdings lag das Haus selbst an einer nur schwach geneigten, sonnigen Stelle, wo es früh taute, oft schon im März, und die Zwillinge ließen sich mit der ersten Frühlingssonne draußen blicken.

Hekne war als einer der ersten Höfe der Gegend errichtet worden und damit einer der besten. Zwei Sommeralmen gehörten dazu, und auf der Hekne-Großalm futterte eine stattliche Herde von Kühen sich am dunkelgrünen Gras dick und rund. Ein kurzer, leicht zu begehender Weg führte zu einem fischreichen See, dem Nedre Glupen, mit einem Bootshaus, das aus neun Zoll starken Blockbohlen bestand. Der wirkliche Maßstab für den Reichtum eines Bauern im Gudbrandsdal jedoch hing vom Silber ab, das er besaß. Silber war ein Sparbuch, eine mit der Hand zu greifende, benutzbare Reserve. Kein Hof war seinen Namen wert, solange er nicht Silberbesteck für mindestens achtzehn Kopf besaß, und dank des Verkaufs der Bildwirkereien hatten sie auf Hekne genug Silber für dreißig in den Truhen.

Die Hekne-Schwestern hatten es nicht mehr lange bis zur Volljährigkeit, da wurde die eine todkrank. Ihrem Vater, Eirik Hekne, war die Vorstellung, dass die Überlebende die Leiche ihrer Schwester würde mit sich herumtragen müssen, derart unerträglich, dass er sich in die Kirche begab und darum betete, dass sie gemeinsam starben.

Der Pfarrer belauschte sein Gebet, und offenbar wurde es von Gott erhört. Vater und Geschwister hatten sich vor der Tür zur Schlafstube der Schwestern versammelt, von drinnen hörten sie, wie die Mädchen über etwas Wichtiges sprachen, das noch geregelt werden müsse. Es ging um ebenden Bildteppich über die Kratzenacht, den sie gemeinsam begonnen hatten, jetzt sollte Gunhild ihn fertigstellen, wenn Halfrid gestorben war und ihre Hände nicht mehr mithelfen konnten. Der Vater ließ Gunhild in Ruhe arbeiten, denn die Schwestern hatten seit jeher etwas Größeres an sich gehabt, etwas, das er und die anderen, deren Witz nicht weit über Steine und die Fläche des Sees hinausreichte, nie hatten begreifen können. Spät am Abend war ein Husten zu vernehmen, dann hörten sie, wie der Anschlagkamm zu Boden fiel.

Die Hekne-Leute gingen hinein und sahen, dass Gunhild sich zum Sterben hingelegt hatte. Sie schien die anderen nicht wahrzunehmen, sie lag da, das Gesicht dem ihrer toten Schwester zugewandt, und sagte im breiten Dialekt der Gegend:

»Solls du treittn weit und soll ich treittn kort, und wann das Stück is fertich, solln wir beide wiederkehrn.«

Sie ergriff Halfrids Hände, rückte sich zurecht, und so lagen sie beide da, die Hände ineinandergefaltet wie zu einem zweistimmigen Gebet.

Spätere Generationen waren sich nicht recht einig, was Gunhild gemeint hatte, denn im Dialekt war der Satz doppeldeutig. Treittn konnte sowohl bedeuten, die Tritte eines Webstuhls zu bedienen, als auch, sich schnell fortzubewegen. Als Eirik Hekne den Wandbehang der Kirche stiftete, schrieb der Pfarrer Gunhilds letzte Worte auf die Rückseite der Holzplatte, mit der der Teppich befestigt wurde. Doch die Hochsprache konnte die Fülle des Dialekts nicht wiedergeben, der Spruch wirkte nun etwas ärmlich: Du wirst weit gehen und ich werde kurz gehen, und wenn das Stück gewebt ist, werden wir beide wiederkehren.

Die Zwillinge wurden unter dem Boden des Kirchenraums bestattet, und zum Dank dafür, dass sie hatten gemeinsam sterben können, ließ Eirik zwei Glocken gießen. Sie wurden die Schwesterglocken genannt, ihr makelloser Ton klang voll und tief aus der Stabkirche hinaus, er füllte das ganze Tal, rollte weiter hinauf zu den Bergen und hallte von ihren Hängen wider. Wenn blankes Eis das Løsnesvatn bedeckte, den See unterhalb der Kirche, waren die Glocken drei Nachbardörfer weit zu hören, wie eine ferne Harmonie zu deren eigenen Kirchenglocken, und manche behaupteten sogar, wenn der Wind in der richtigen Richtung stand, könnten sie sie noch oben auf den Almen vernehmen.

Der erste Glöckner war nach drei Gottesdiensten taub. Also ließ der Pfarrer unten im Turm ein Podest aufstellen, auf dem der neue stehen konnte, der sich überdies Pfropfen aus Bienenwachs in die Ohren stopfte und sich einen ledernen Riemen um den Kopf wand.

Die Schwesterglocken klangen weder schwermütig, noch lärmten sie scheppernd. Jeder Ton hatte einen lebendigen Kern, er enthielt etwas wie die Verheißung eines besseren Frühlings, ihr lang anhaltender Nachhall vibrierte farbig und schön. Der Klang war ergreifend, er rief schillernde Bilder in den Gedanken hervor und erreichte die Herzen verhärteter Männer. Ein Glöckner, der sich auf seine Kunst verstand, konnte mit ihnen Zweifler zu Kirchgängern verwandeln. Die Erklärung für den machtvollen Ton der Schwesterglocken bestand daran, dass sie erzreich waren. Mit diesem Begriff wurde seinerzeit der teure Brauch bezeichnet, beim Guss der Glocke Silber in die Glockenspeise zu werfen. Je mehr Silber, desto schöner der Klang.

Die reich verzierten Gussformen und all die Bronze hatten Eirik Hekne bereits ein Vermögen gekostet, viel mehr, als...

Erscheint lt. Verlag 14.1.2019
Reihe/Serie Schwesterglocken-Trilogie
Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aufbruch in eine neue Welt • Bestseller • Buchmesse Schwerpunkt • Christliche Traditionen • Der Mann und das Holz • Die Birken wissen's noch • Emanzipationsgeschichte • Familienchronik • Familiensaga • Generationenroman • Geschenk für Männer • Handwerk • Heidnische Traditionen • Heimat • Herkunft • Historischer Roman • Holz • Holzhandwerk • Identität • insel taschenbuch 4775 • IT 4775 • IT4775 • Liebesgeschichte • Märchen • Mythen • norway 2019 • Norwegen • Sagen • Skandinavien • The dream we carry • Ursprung • Wurzeln
ISBN-10 3-458-76038-5 / 3458760385
ISBN-13 978-3-458-76038-2 / 9783458760382
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