Saison der Wirbelstürme (eBook)

eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
240 Seiten
Verlag Klaus Wagenbach
978-3-8031-4246-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Saison der Wirbelstürme -  Fernanda Melchor
Systemvoraussetzungen
11,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Die Hexe ist tot, ermordet - aber hat sie's nicht genau so gewollt? Sprachgewaltig, schmutzig und mit der Sogkraft eines Wirbelsturms schreibt Fernanda Melchor, eine der wichtigsten jungen Stimmen Lateinamerikas, über die viel zu alltägliche Gewalt gegen Frauen: La Matosa, eine gottverlassene Gegend in der mexikanischen Provinz. In der brütenden Hitze bewegt sich eine Gruppe von Kindern durchs Zuckerrohrdickicht. Zwischen Plastiktüten und Schilf stoßen sie auf eine Tote, ihr Gesicht ist zu einer grausig lächelnden Grimasse entstellt: La Bruja, die Hexe, eine von den Dorfbewohnern so gefürchtete wie fasziniert umkreiste Heilerin. Manche sagen, in ihrer schwefligen Küche braue sie Tränke gegen Krankheit und Leid, andere sagen, die Alte treibe es mit dem Teufel. An Mordmotiven fehlt es nicht: Eifersucht, Drogenhandel, Leidenschaften, die besser nicht ruchbar werden - und hat die Hexe nicht doch einen Schatz versteckt? Selbst die Polizei sucht nach dem Geld ... 'Saison der Wirbelstürme' ist die Chronik dieses unvermeidlichen Todes und zugleich die schwindelerregende Reise ins finstere Herz eines Landes, das bis in den letzten Winkel von Gewalt durchdrungen ist - vor allem gegen Frauen. Fernanda Melchor schafft eine brodelnde Atmosphäre, in der jede Geste der Zärtlichkeit im nächsten Augenblick in Brutalität umschlagen kann, gegen die kein Kraut, kein Zauberspruch mehr hilft.

Fernanda Melchor, 1982 im mexikanischen Bundesstaat Veracruz geboren, schreibt Romane und Reportagen. Sie lebt in Puebla und gilt als die talentierteste Autorin ihrer Generation. Ihr zweiter Roman 'Saison der Wirbelstürme' erschien gleichzeitig in mehreren Ländern, unter anderem in den USA, Frankreich und Großbritannien.

Fernanda Melchor, 1982 im mexikanischen Bundesstaat Veracruz geboren, schreibt Romane und Reportagen. Sie lebt in Puebla und gilt als die talentierteste Autorin ihrer Generation. Ihr zweiter Roman "Saison der Wirbelstürme" erschien gleichzeitig in mehreren Ländern, unter anderem in den USA, Frankreich und Großbritannien.

II


MAN NANNTE SIE DIE HEXE, wie ihre Mutter, Hexenmädchen, als die Alte ihr Geschäft mit dem Heilen und den Zaubersprüchen anfing, und einfach nur Hexe, als sie allein zurückblieb, damals, im Jahr des Erdrutschs. Sollte sie einmal einen anderen Namen gehabt haben, vielleicht festgehalten auf einem zerknitterten, wurmstichigen Zettel, von der Alten in einen der Schränke, zwischen Tüten, schmutzstarrende Lumpen, ausgerissene Haarbüschel, Knochen und Essensreste gestopft; sollte sie einmal Vor- und Nachnamen besessen haben wie die übrigen Dorfbewohner, so hat niemand jemals davon erfahren, nicht einmal die Frauen, die freitags ins Haus kamen, hatten je gehört, dass die Alte sie anders gerufen hätte. Immer nur du dumme Gans oder du Drecksgöre oder verdammte Teufelsbrut, wenn die Alte wollte, dass das Mädchen zu ihr kommen oder den Mund halten oder einfach nur still unter dem Tisch sitzen sollte, damit sie den Klagen der Frauen lauschen konnte, dem Stöhnen, mit dem sie ihre Sorgen, Beschwerden und schlaflosen Nächte würzten, den Träumen von verstorbenen Angehörigen und dem Streit mit denen, die noch lebten, und fast immer ging es um Geld oder den Ehemann oder dieses Hurenpack von der Landstraße und ich weiß nicht, warum sie mich immer verlassen, wenn ich am glücklichsten bin, sie heulten, wozu das alles, sie schluchzten, lieber sterbe ich gleich, und mit dem Zipfel ihres Kopftuchs wischten sie sich das Gesicht ab, das sie verhüllten, sobald sie die Küche der Hexe verließen, man wusste ja nie, so wie die Leute im Dorf tratschten, sonst hieß es noch, dass man zur Hexe ging, weil man sich an jemandem rächen wollte, dass man das Flittchen, das einem den Mann abluchsen wollte, mit einem Fluch belegte, denn an Intrigantinnen fehlte es nie, wo man sich doch einfach nur ein Mittel gegen die Magenverstimmung seines idiotischen Sohns holte, der ganz allein ein Kilo Kartoffeln verdrückt hatte, oder einen Tee gegen die Müdigkeit oder eine Salbe für die Unpässlichkeiten des Unterleibs oder sich bloß eine Weile in der Küche etwas von der Seele reden, den Kummer loswerden wollte, den Schmerz, der ihnen hoffnungslos in der Kehle zappelte. Denn die Hexe hörte zu, und die Hexe konnte offenbar nichts erschüttern, ja, es hieß sogar, dass sie ihren Mann umgebracht hatte, keinen Geringeren als das Schlitzohr Manolo Conde, jaja, und zwar des Geldes wegen, um an seine Kohle, sein Haus und seine Ländereien zu kommen, an die hundert Hektar Feld- und Weideland, die ihm sein Vater vererbt hatte, also das, was noch davon übrig war, nachdem er fast alles stückchenweise an den Gewerkschaftsführer der Zuckerrohrfabrik verkauft hatte, um bloß nie arbeiten zu müssen, um von seinen Kapitalerträgen und seinen sogenannten Geschäften zu leben, die immer schiefgingen, aber das Anwesen war so groß, dass, als Don Manolo starb, immer noch ein guter Teil da war und auch noch einiges abwarf, weshalb seine Söhne, zwei erwachsene Kerle mit abgeschlossener Ausbildung, die Don Manolo mit seiner rechtmäßigen Ehefrau drüben in Montiel Sosa gezeugt hatte, im Dorf auftauchten, kaum dass sie vom Tod des Vaters erfahren hatten: Ein jäher Herzinfarkt, hatte der Arzt von Villa gesagt, als die beiden zu diesem Haus inmitten der Zuckerrohrfelder kamen, wo die Totenwache abgehalten wurde, und ebendort erklärten sie der Hexe vor aller Augen, dass sie sich bis zum nächsten Tag fortscheren sollte, aus dem Haus und aus dem Dorf, dass sie ja wohl nicht ganz richtig im Kopf war, wenn sie glaubte, als Söhne würden sie es zulassen, dass eine dahergelaufene Schlampe das Erbe ihres Vaters an sich riss, die Ländereien und das Haus – nach all den Jahren war es immer noch beinahe ein Rohbau, so grandios und missraten wie Don Manolos Träume, mit seiner geschwungenen Treppe, auf deren Geländer sich Gipsengel tummelten, und den mächtig hohen Decken, unter denen Fledermäuse nisteten, und dem Geld, das dort irgendwo versteckt sein musste, ein Haufen Centenario-Goldmünzen, die Don Manolo von seinem Vater geerbt und nie zur Bank gebracht hatte, und der Diamant, der Diamantring, den niemand je zu Gesicht bekommen hatte, nicht einmal die Söhne, dessen Stein aber, so erzählte man sich, so groß war, dass man ihn für eine Fälschung hielt, eine echte Reliquie, die Don Manolos Großmutter gehört hatte, Señora Chucita Villagarbosa de los Monteros de Conde, und der allen irdischen wie göttlichen Gesetzen nach der Mutter der jungen Männer zustand, Don Manolos rechtmäßiger Ehefrau vor Gott und den Menschen, und nicht dieser zugereisten Nutte, dieser kriecherischen Schlange, dieser Mörderin, dieser Hexe, die jetzt die feine Dame spielte, dabei hatte Don Manolo die kleine Hure aus irgendeiner Dreckshütte im Wald geholt, um in der Einsamkeit der Hochebenen jemanden zu haben, an dem er seine niedersten Instinkte befriedigen konnte. Kurzum eine schlechte Frau, die irgendwie, vielleicht hatte es ihr der Teufel selbst eingeflüstert, glaubten manche, oben auf dem Berg ein Kraut gefunden hatte, zwischen den Ruinen, die, wie die von der Regierung sagten, Gräber der Vorfahren waren, die früher diese Gegenden bewohnt hatten, die zuerst hier gewesen waren, noch vor den Gachupines von Spaniern, aber die hatten das alles hier von ihren Schiffen aus gesehen, und im Handumdrehen gehörte das Land der Krone von Kastilien!, und die paar Vorfahren, die noch übrig waren, mussten in den Bergen Zuflucht suchen und alles hinter sich lassen, sogar die Steine ihrer Tempel, die beim Wirbelsturm achtundsiebzig schließlich vom Berg bedeckt wurden, als der Erdrutsch über hundert Einwohner von La Matosa im Schlamm begrub und auch die Ruinen, zwischen denen dieses Kraut wuchs, aus dem die Hexe, sagte man, ein Gift braute, das man weder sah noch schmeckte und das keinerlei Spuren hinterließ, denn sogar der Arzt von Villa erklärte, dass Don Manolo an einem Herzinfarkt gestorben sei, doch die beiden dämlichen Söhne beharrten darauf, dass man ihn vergiftet hatte, und die Leute gaben der Hexe später auch die Schuld am Tod von Don Manolos Söhnen, weil die noch am Tag der Beerdigung auf der Landstraße umkamen, als sie mit ihrem Auto den Leichenzug zum Friedhof von Villa anführten und sich von einem vor ihnen fahrenden Lastwagen eine Ladung Eisenstangen löste und beide erschlug; auf den Fotos in der Zeitung war nur blutverschmiertes Eisen zu sehen, eine schreckliche Sache, keiner vermochte sich je zu erklären, wie dieser Unfall passieren konnte, wie die Stangen sich lösen, die Windschutzscheibe zerschmettern und die Insassen durchbohren konnten, und mehr als einer nahm es zum Anlass, um die Hexe zu beschuldigen, die Hexe hat ihnen einen Fluch angehängt, um Haus und Ländereien zu behalten, das verdorbene Weib hat sich dem Teufel im Tausch gegen dunkle Mächte hingegeben, und etwa zu dieser Zeit sperrte sich die Hexe in ihrem Haus ein und kam nicht mehr heraus, weder tagsüber noch nachts, vielleicht aus Angst vor der Rache der Condes oder vielleicht, weil sie etwas zu verbergen hatte, ein Geheimnis, das sie hüten musste, irgendetwas in jenem Haus, das ihres Schutzes bedurfte, und sie wurde mager und blass, ihr Blick allein war angsteinflößend und verwirrt, und es waren die Frauen von La Matosa, die ihr Essen brachten und dafür ihre Hilfe in Anspruch nahmen, sich von ihr Mittelchen mischen, Tränke aus den Kräutern brauen ließen, die die Hexe selbst in ihrem Hinterhofgärtchen anpflanzte oder die auf dem Berg zu pflücken sie den Frauen auftrug, damals, als es den Berg noch gab. Das war auch die Zeit, in der die Leute anfingen, das Flugtier zu sehen, das nachts die Männer verfolgte, wenn sie über die Feldwege zwischen den Dörfern nach Hause gingen, mit gespreizten Krallen, um sie zu zerkratzen oder vielleicht auch um sie zu packen und gleich ganz in die Hölle zu verschleppen, denn in den Augen des Getiers loderte ein fürchterliches Feuer; die Zeit, in der die Gerüchte um die Statue aufkamen, die die Hexe in einem Zimmer des Hauses versteckt haben sollte, vermutlich im oberen Stockwerk, das sie nie jemanden betreten ließ, nicht einmal die Frauen, die sie besuchten; dort, sagte man, schloss sie sich ein, um herumzuhuren, ja, mit dieser Statue, einem lebensgroßen Abbild des Satans mit einem Glied so lang und so dick wie ein Männerarm mit einer Machete in der Faust, einem überdimensionalen Schwanz, auf dem die Hexe Nacht für Nacht ritt, und deshalb behauptete sie auch, keinen Ehemann zu brauchen, denn tatsächlich hat man die Hexe nach Don Manolos Tod mit keinem Mann mehr gesehen, wie denn auch, wo sie doch die Männer lauthals mit Beleidigungen bedachte, dass sie Säufer und Weicheier waren, Drecksäcke und miese Schweine, dass irgendeiner dieser Hampelmänner nur über ihre Leiche in ihr Haus käme, dass sie alle, die Frauen aus dem Dorf, Närrinnen waren, weil sie diese Individuen freiwillig ertrugen, und wenn sie so etwas sagte, blitzten ihre Augen, und einen Wimpernschlag lang war sie fast wieder schön, mit ihrem zerzausten Haar und den erregt geröteten Wangen, und die Frauen aus dem Dorf bekreuzigten sich, weil sie sich gut vorstellen konnten, wie die Hexe sich nackt auf den grotesken Schwanz des Teufels setzte, ihn immer tiefer eindringen ließ, bis der Teufelssamen über ihre Schenkel troff, rot wie Lava oder grün und zähflüssig wie die Elixiere, die in ihrem Kessel über dem Feuer brodelten und die die Hexe ihnen löffelweise einflößte, um sie von ihren Beschwerden zu heilen, oder vielleicht doch schwarz wie Teer, schwarz wie die riesigen Pupillen und das verfilzte Haar des Kindes, das sie eines Tages unter dem Küchentisch entdeckten, an die Rockzipfel der Hexe geklammert, so stumm und mickrig, dass viele Frauen insgeheim beteten, es möge nicht lange am Leben bleiben, um nicht unnötig zu leiden; dasselbe Kind, das sie...

Erscheint lt. Verlag 14.3.2019
Übersetzer Angelica Ammar
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Aberglaube • Alkohol • Autorin • Drogenkrieg • FEMICIDIO • Femizid • Frauen • Hexe • Homophobie • Hurrikan • Lateinamerika • Magischer Realismus • Mexikanische Gesellschaft • Mexiko • Mord • Patriarchat • Prostitution • Sexualität • Sexuelle Gewalt • spanischsprachige Literatur • spanischsprachiger Roman • Tropisch • Veracruz • Wirbelsturm
ISBN-10 3-8031-4246-6 / 3803142466
ISBN-13 978-3-8031-4246-7 / 9783803142467
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Wie bewerten Sie den Artikel?
Bitte geben Sie Ihre Bewertung ein:
Bitte geben Sie Daten ein:
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 403 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
20,99
Roman

von Fatma Aydemir

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99
Roman. Jubiläumsausgabe

von Umberto Eco

eBook Download (2022)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
12,99